Kritiken Theater
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2014-05-30 Schauspielkritik:

Berliner Maxim Gorki Theater zeigte in Wiesbaden spannende Tschechow-Interpretation


Im „Kirschgarten” verschmelzen
die Kulturen


 
ape. Wiesbaden. Bei den Maifestspielen im Staatstheater Wiesbaden war jetzt eine der umstrittensten Berliner Inszenierungen dieser Spielzeit zu Gast: Tschechows „Kirschgarten”, am Maxim Gorki Theater eingerichtet von Nurkan Erpulat. Die Arbeit des seit 1998 in Deutschland lebenden  türkischen Regisseurs weist ähnlich wie die Mainzer „Kirschgarten”-Premiere vergangenes Wochenende (∇ Kritik hier) eine Neigung zu Boulevardeskem auf. Doch sprengen die Berliner diese Manier und gelangen zu einer zwar radikalen, aber ernsthaften Übertragung Tschechow'scher Thematik auf die Gegenwart.
 

Angesichts der Unart manches heutigen Regisseurs, Klassikerinhalte nur noch andeutungsweise oder gar nicht mehr auszubreiten, ist bemerkenswert: Erpulat lässt fast den kompletten Stücktext sprechen, baut nur einige Zusätze ein. Die Geschichte vom Gut, das aus wirtschaftlichen Zwangsgründen von den Altherren an den neureichen Nachkömmling armer Leute übergeht, wird kristallklar durcherzählt.

Allerdings verschiebt das szenische Spiel hier Tschechows Blickwinkel von der untergehenden Lebensweise russischer Feudalklasse des 19. Jahrhunderts auf berlinischen respektive globalen Wandel heute. Im Salon spielt eine verschleierte Muslima auf dem Klavier Chopin, Hausdiener Firs ist ein greiser Türke, der Gutsherrin Ranewskajas Adoptivtochter eine Deutschtürkin zweiter Generation. Und Lopachin kam als rühriger Sohn eines türkischen Gemüsehändlers in Deutschland zu dem Geld, mit dem er nun das überschuldete Anwesen ersteigert, um dort eine lukrative Feriensiedlung zu bauen.

Funktioniert diese Umdeutung auf der Basis von Tschechows Text? Wir meinen, ja. Wie das Original, so macht auch Erpulats Inszenierung es einem schwer, Partei zu ergreifen, denn den Zugewanderten wie den Alteingesessenen sind auch unsympathische Züge eigen. Dort die bisherige Herrschaftsschicht, gefangen in Rückwärtsgewandtheit. Untüchtigkeit, überheblichem Paternalismus. Hier eine neue treibende Kraft: Kinder derer, die als Arbeitskräfte gerufen wurden, aber als Menschen kamen – selbstbewusst und geschäftstüchtig bis zur Rücksichtlosigkeit. 

Der „Kirschgarten” bleibt bei Erpulat, was er war: Metapher auf eine Gesellschaft in zwiespältigem Umbruch. Nur dass im Spiel des Gorki Theaters das bei Tschechow offene Ende mit einer Zukunftsperspektive gefüllt wird, die hierzulande naturgemäß zu Streit führt. Singen am Anfang die Migranten brav deutsche Volkslieder mit, lässt Lopachin sie nach dem Kauf des Guts auf morgendländische Art musizieren und tanzen. Zum Schluss aber vereinen sich die beiden Kulturlinien – auch musikalisch – zu einer neuen gemeinsamen Kultur in einer neu zu gestaltenden gemeinsamen Heimat.

Schauspielerisch hat das nicht die Klasse wie neulich das Gastspiel des Wiener Burgtheaters mit „Onkel Wanja”
(∇ Kritik hier). Gemeinsam ist beiden indes die Ausformung ambivalenter Charaktere. Auch im Berliner „Kirschgarten” ringt zumindest jede Hauptfigur mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und muss – anders als im Mainzer „Kirschgarten” – entlang einer interessanten Inszenierungsidee persönliche Entwicklung durchmachen. Erpulat entwirft eine Utopie, die sich am ewigen Prinzip der Zivilisationsgeschichte orientiert: Wo Menschen verschiedener Kulturen zusammenleben, entsteht früher oder später eine neue Kultur – die „Postmigrationskultur” der Kinder und Enkel, gültig bis zum nächsten Gesellschaftsumbruch.

Andreas Pecht


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 30. Mai 2014)


---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------


Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 

eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken