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2015-03-16 Ballettkritik:

Erstes Tanzmainz Festival
trifft ins Schwarze 


Jubel für die beiden eröffnenden Produktionen aus Israel und Kanada - Noch bis 21. März


ape. Mainz. Davon träumt jeder Veranstalter: Er bringt ein völlig neues Festival an den Start; die Karten gehen weg wie warme Semmeln; und vor jeweils ausverkauftem Haus enden schon die beiden ersten Abende mit Jubelovationen. Dies widerfuhr jetzt dem jüngsten Kind der rheinland-pfälzischen Szene, dem „Tanzmainz Festival”. Noch bis 21. März kommen dabei zehn Vertreter  zeitgenössischen Tanzes aus aller Welt auf die Bühnen des Staatstheaters in der Landeshauptstadt. Zum Auftakt an diesem Wochenende stellten die Vertigo Dance Compagnie aus Israel und die kanadische Truppe Créations Estelle Clareton & Montréal Danse ihre jüngsten Produktionen vor.



Um es gleich zu sagen: Derart hohes choreografisches wie tänzerisches Niveau begegnete hierorts zuletzt in der Mainzer Ära von Martin Schläpfer. Doch haben Israelis und Kanadier mit dessen neoklassischer Orientierung wenig gemein. Ihre Spielarten moderner Tanzkunst sind ein Novum in Rheinland-Pfalz. Vergleichbares war bislang weder bei Schläpfer in Mainz, noch bei Taylor und Fuchs in Koblenz oder Grützmacher in Trier zu sehen.

Honne Dohrmann, Direktor der Mainzer Tanzsparte, sieht im von ihm verantworteten Festival nicht nur ein Schaufenster für aktuelles Tanzgeschehen international. Die jetzige Gastspielauswahl solle zugleich das Spektrum umreißen, an dem sich die hauseigene Compagnie tanzmainz orientiert – was allerhand schöne Hoffnungen für deren fernere Entwicklung weckt. Denn was fasziniert an der Choreografie „Vertigo 20”, von Noa Wertheim kreiert anlässlich des 20. Geburtstags ihres Ensembles, mit der das neue Mainzer Tanzfestival eröffnet wurde?

Im Grunde ist es die harmonische Verschmelzung von Gegensätzen, die diese Collage aus Elementen eines 20-jährigen Schaffens auszeichnet. Kraftvolle, bisweilen fast athletische Sprünge, Würfe, Wirbel, Sprints gleiten hinüber in zarte, schmiegsame Begegnungen. Oder: Eben noch sind die elf Tänzer/innen gefangen im ruckenden Bewegungsmodus mechanischer Puppen, gleich darauf brechen sie aus und auf zu menschlich-sinnlichem Körperfluss. Oder: Scheinbar wildwüchsiges, turbulentes Chaos erweist sich als tatsächlich fein ziselierte Szenerie, aus der sich ebenso gefühlige wie kompakte Soli und Formationen höchster Disziplin herausschälen. Oder: In wuchtig bis verzweifelt wirkenden Tempotanz fließt immer wieder augenzwinkernder Humor ein – etwa wenn die Herrenriege den schnippischem Po-Schwung eine Damenreihe adaptiert.

Überwiegend kurze Beinkleider lassen den Blick auf die Beinarbeit frei. Und so erschließt sich, wie die isrealische Truppe aus einer ungemein dichten und schnellen Melange freier Bewegungsformen und disziplinierter Streckungen eine betörende Ästhetik entwickelt, die noch die strengste Ausdrucksweise als federleichte Natürlichkeit erscheinen lässt. Ein im Grundsatz ähnliches, doch im Konkreten völlig anders aussehendes Phänomen begegnet tags darauf in der Choreografie „S'envolver” von Estelle Clareton.

Sie und ihre zehn Tänzer/innen haben offenbar sehr genau das Verhalten von Gruppen junger Hühner oder Gänse beobachtet. Denn ihre Übertragung auf eine nervöse, dicht gedrängte, auf jeden Außenimpuls aufgeregt reagierende und in permanenter Unruhe nach inneren Ordnung suchende Menschengruppe fällt umwerfend geflügel-authentisch aus. In hoch präzisem Chaos schiebt, trippelt, flattert die Schar im Pulk über die leere Bühne oder reiht sich wie Hühner auf der Stange auf – wobei jeder Einzelne ständig um einen anderen Platz auf selbiger zappelt, strampelt, ringt.             

Die von den Tänzern übernommene „tierische” Reflexsteuerung schenkt dem Zuseher ein Menge heiterer Momente, darf aber zugleich als ernste Metapher auf die Herdentier-Seite des Menschen verstanden werden. Im weiteren Verlauf handelt die Produktion von Versuchen erst einzelner, dann mehrerer Gruppenmitglieder, aus dem Kollektiv herauszutreten, die Welt und sich selbst als Individuum zu entdecken, Freiheit zu gewinnen. Unsicherheit und Sehnen gepaart mit Mut und Angst gleichermaßen ziehen von der vertrauten Schar weg, aber auch wieder zu ihr hin.

Dieses Spannungsgefüge taucht den Tanz in eine stete Ambivalenz, in ein fortwährendes Erproben ungwöhnlicher körperlicher und choreografischer Ausdrucksformen. Wie erste Flugversuche junger Vögel oft unbeholfen ausschauen, so hier beispielsweise die Entdeckung geschlechtlicher Anziehungskraft: Männer schleppen, tragen, werfen Frauen und umgekehrt, Umarmungen laufen ins Leere oder enden als skurrile Umschlingungen. Der Weg zu selbstbestimmter Freiheit ist schwer und bisweilen erfolglos. Er landet bei „S'envoler” schlussendlich wo? Beim Rückzug aller in die bewusstlose Reflexhaftigkeit auch des erwachsen gewordenen Hühnerhaufens.

Das neue Tanzmainz Festival begann faszinierend. Und man konnte zum Auftaktwochenende im Publikum neben Tanzfreunde aus Rhein-Main auch solche aus Bad Kreuznach, Koblenz, ja selbst dem Westerwald ausmachen. Vielversprechend für die Zukunft der neuen Unternehmung.    

Andreas Pecht

Infos: >>www.staatstheater-mainz.com


(Erstabdruck/-veröffentlichung einer leicht gekürzten Fassung außerhalb dieser website am 16. März 2015)


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