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2016-03-07 Ballettkritik:

"Kaspar Hauser" fehlen Beseeltheit und Mut zur Hässlichkeit


Tim Plegges neue Choreografie beim Hessischen Staatsballett: Versierter Tanz schlägt keine Funken
 
 
ape. Wiesbaden. Es ist bisweilen seltsam mit Darbietungen im Theater oder Konzertsaal. Da realisieren die Akteure Werke von Rang technisch brillant, dennoch springt, wie man so sagt, der Funke nicht über. Was zu Herzen gehen soll, dringt zu selbigem nicht durch; und der Rezipient rätselt, woran dies liegen mag. So geschehen jetzt bei „Kaspar Hauser”, einer zweistündigen Choreografie von Tim Plegge für sein Hessisches Staatsballett.



Gleichwohl bekommt die tänzerische Adaption des berühmten Stoffes vom entführten und in totaler Isolation aufgewachsenen Knaben bei der Wiesbadener Premiere kräftigen Applaus. Denn sie bietet manch starkes Bild nebst vielen guten Tanzleistungen. Und doch bleibt das Ganze „nur” die mittels Tanz fast märchengemäß bebilderte Erzählung über einen im 19. Jahrhundert missbrauchten Außenseiter. Plegge und Compagnie sind so sehr auf verständliche, historisierende Wiedergabe der Story konzentriert, dass für tiefer gehende, die Tänzer und uns betreffende, packende Interpretation kein Raum bleibt.

Sebastian Hannak hat für das Spiel eine riesige zweiflügelige Wand auf die Drehbühne gebaut. Mal aufgeklappt, mal gewinkelt stellen sich ihre Vorderseiten als neutrale, kalte Überwältigungskulisse dar. Die Rückseiten sind hingegen mit einer grob gerasterten Vergrößerung des Rembrandt-Gemäldes „Die Anatomie des Dr. Tulp“ tapeziert, auf dem sich Forscher herzlos über einen nackten Leib beugen. Die Botschaft ist so plakativ wie der Abend von Geheimnissen und Zweifeln frei: der Außenseiter gilt der Mehrheitsgesellschaft nicht als Mensch, sondern als Objekt der Untersuchung und/oder Belustigung.

Ein Hingucker ist Tyler Schnese in der Titelrolle während jener Phase, da Kaspar nach Jahren des Liegens, Kriechens, Sitzens auf dem Kerkerboden Gehen und Sprechen lernt. Heißt im Ballett: Tanzvermögen erringen. Aufstehen, aufrichten, die immer wieder weggleitenden Beine beisammen halten, die Füße vom verkrümmten Außenrist auf die Sohle zwingen: das sind intensive Passagen – die zu Mitgefühl, Tränen, auch Zorn über das ihm angetane Unrecht rühren könnten, würden sie nur vollends der Neigung der Choreografie zu theatralisierendem Manierismus entrissen. Hier mangelt es an Mut zur „hässlichen” Körperbrechung wie wir sie bei Forsythe, Pina Bausch oder gelegentlich bei Schläpfer kennengelernt haben.

Zu einer Musikauswahl (vom Band) von Franz Schubert bis Philip Glass bleibt dies Ballett in toto bis zum Figurenrepertoire hin eine recht traditionelle Unternehmung. Zum klassisch-romantischen Handlungsabend fehlt bloß der Tanz auf Spitze. Innerhalb dieser Kategorie gibt es markante Typenzeichnungen: Taulant Shehu als Bösewicht Richter, Entführer des Knaben und nachher sein Mörder; David Cahier in der Rolle des dekadenten Lebemanns Lord Stanhope, der Kaspar zu seinem Gespielen manipuliert und der feinen Gesellschaft zum Fraß vorwirft.

Auf diesen wie anderen Positionen wird fabelhaft getanzt. Doch ergeht sich der Tanz allzu oft in bloß äußerer Virtuosität, die inhaltlich nichts weiter aussagt, manchen Beitrag deshalb arg in die Länge zieht. Da wird allerhand hergezeigt, dem indes jenes Charisma, jene ergreifende  Ausstrahlung fehlt, jene Glaubwürdigkeit fehlen, die aus gehobenem Kunsthandwerk Kunst macht.

Es gibt zwei Szenen, die diese Begrenzung sprengen. Die erste zeigt Kaspar, wie er als Pennäler inmitten wilder Kreis- und Gruppentänze seiner Mitschüler ausgelassene Freude empfindet. Technisch sind die Formationen nicht besonders schwierig, aber die Compagnie hat sichtlich Spaß am dynamischen Ausdruck eines ihr vertrauten Lebensgefühls. Auch bei der zweiten Szene wirkt ein den Tänzern bekanntes Gefühl mit und lädt Bewegungstechnik mit echter Seele auf: ein zartes, tastendes Pas de deux mit Seraphine Detscher als Lina. Sie entdeckt hinter der verlachten Unbeholfenheit Kaspars den Menschen, er erinnert durch ihre Zuwendung die frühkindliche Erfahrung, geliebt zu werden. Und beiden glaubt man es.

Andreas Pecht


Infos: >> www.staatstheater-wiesbaden.de/


(Erstabdruck/-veröffentlichung in einem Pressemedium außerhalb dieser website am 7. Februar 2016)


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