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2016-05-07 Schauspielkritik:

Welttheater des Tankred Dorst in der Puppenwelt des Jan-Christoph Gockel


Grazer Inszenierung von "Merlin oder das wüste Land" bei Maifestspielen Wiesbaden zu Gast

 
ape. Wiesbaden. „Merlin oder das wüste Land” von Tankred Dorst wird recht selten gezeigt und dann meist auch nur in Auszügen. Im Original umfasst das kolossale Theaterstück mehr als 50 Rollen und würde beinahe 15 Stunden dauern. Anlässlich seiner Maifestspiele hatte das Staatstheater Wiesbaden jetzt eine Inszenierung von Jan-Christoph Gockel fürs Schauspielhaus Graz zu Gast. Mit knapp vier Stunden ist seine 2015er Produktion ebenso „kurz” wie diejenige von David Mouchtar-Samorai 2010 in Bonn und 20 Minuten kürzer als es die „Merlin”-Umsetzung von Annegret Ritzel 2009 in Koblenz war.



Gleichwohl ist es ein langer Abend, der einem indes erst gegen Ende etwas lang wird – obwohl bei einigen der direkt mit dem Publikum spielenden Improvisationsszenen dieser oder jener Protagonist schon zuvor bedauernd auf strapaziertes Sitzfleisch insistiert. Vor allem steht dem Ensemble die Anstrengung des auf nur acht Mimen konzentrierten Spiels mit zahllosen Rollen- und Kostümwechseln ins Gesicht geschrieben. Denn immerhin wollen Artus- und Parzifal-Saga erzählt sein und Zeitläufe vom Frühmittelalter bis weit ins Weltkriegsjahrhundert abgeschritten und damit verwoben werden.

Gockel hat den „Merlin” nach einer Art gearbeitet, die von keinem Regisseur im deutschsprachigen Raum derzeit so intensiv und anspruchsvoll beackert wird wie von dem 1982 in Gießen geborenen und in Kaiserslautern aufgewachsenen: Menschliche Schauspielerei verschmilzt mit Puppenspiel von Michael Pietsch; Schauspieler schauspielen und führen obendrein Marionetten, die Pietsch gebaut hat, der nicht nur mit Puppen hantiert, sondern auch selbst als versierter  Schauspieler auftritt.

Mit dieser Methode inszeniert das Gockel-Team - außer Pietsch sind das Julia Kurzweg (Bühne) und Sophie du Vinage (Kostüme) - derzeit auch Shakespeares „Macbeth”. Premiere ist dieser Tage am Staatstheater Mainz, wo Gockel, neben seinen Projektengagements u.a. in Graz, Bonn und Karlsruhe, als Hausregisseur tätig ist. Sein „Merlin” macht einmal mehr deutlich, dass die Einbeziehung der Marionetten nicht nur humorige Momente mit sich bringt. Vielmehr entsteht bei gekonntem Puppenspiel und dessen ernsthaft kalkulierter Einbindung ins Schauspiel eine ungewöhnliche Bild- und Atmosphärepoetik, oft mit Verweischarakter auf tiefere Bedeutungsebenen.

Der bei Dorst von Teufeln geborene Zauberer Merlin ist hier eine kleine nackte Gliederpuppe. Ein Gnom, der nachher König Artus als „Geist, der stets das Gute will und stets das Böse schafft” auf der Schulter sitzt – der am Ende einsam auf olympischer Höhe thront über einem Jammertal aus geborstenem Tafelrund und umgestürztem Weltenbaum Yggdrasil, aus erschlagenen Königen, dahingerafften Menschen- und Puppensoldaten.

Bis hierher sah man ein vielgestaltiges Spiel mal in Rüstung, mal in barockem Putz, mal in preußischer Offiziersuniform, mal in Wehrmachtscamouflage. Es geht um ritterliche Gleichheitsträume, Freundschaft, Heldentum, allweil gefährdet durch Machtgier, Liebe, Lust. Als Marionettentheater auf dem Theater tötet etwa Lancelot im Puppenstübchen den bösen Drachen, verlustiert sich dort mit der ungetreuen Königin in mancherlei Stellung – derweil die Gemeinten leibhaftig zuschauen: Florian Köhler (Lancelot) und Evamaria Salcher (Ginevra) ob der realen Lust-Enthüllung entsetzt, Fredrik Jan Hofmann (Artus) ob der vermeintlichen Kalauerei höchst vergnügt.

Benedikt Greiner gibt einen recht brav zwischen Gutmenschstreben und Verderbtheit zerrissenen Mordred, während Julia Gräfner als närrischer Depp von Parzifal ein Bravourstück liefert. Raphael Muff macht aus Sir Kay einen Zyniker mit ängstlichem Überlebensinstinkt. An ihm ist, schlussendlich das elende Schwert Exkalibur wieder in den Stein zu stecken, auf dass es Ruhe gebe. Denn von der Suche nach Gemeinschaft, Liebe und Erkenntnis via Heiligem Gral bliebt doch nur das Gewerbe des scharfen Stahls: Krieg und Tod.

Gockel hatte diesmal seine bisweilen starke Neigung zu stofflicher Überfüllung – erlebt bei „Die Brüder Grimm” in Mainz und „Metropolis” in Bonn – gut im Griff. Das ist bemerkenswert, weil das Dorst-Stück selbst eine Art von weit ausholendem, durch zahllose Themen mäanderndem Welttheaters ist. Der Regisseur hat seine vier Stunden klar und konzentriert auf Kernaspekte ausgestaltet. Das fand in Wiesbaden den Beifall des Publikums wie auch des anwesenden 90-jährigen Tankred Dorst.                  

Andreas Pecht



Info: Das zwei Vorstellungen umfassende "Merlin"-Gastspiel  in Wiesbaden ist bereits vorüber.


(Erstabdruck/-veröffentlichung in einem Pressemedium außerhalb dieser website am 7. Mai 2016)


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