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2016-06-23 Essay:

 

Europäische Vielfalt oder
finsterer Nationalismus?


Am Disput um den möglichen Brexit entzündet sich eine viel wichtigere Debatte

 
ape. Bekennende Europäer haben es schwer dieser Tage. Politisch und ökonomisch ist die Lage auf dem alten Kontinent unübersichtlich bis verworren. Gewissheiten gibt es wenige, alles scheint im Fluss. Kein Mensch weiß, wohin eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen dieses bunte Mosaik aus Landstrichen, Ländern, Staaten, aus Sprachgruppen, Kulturregionen, Völkerschaften treiben wird. Europa, das sind geografisch zehn Millionen Quadratkilometer vom Nordkap bis ans Mittelmeer, von der portugiesischen Atlantikküste im Westen bis – ja bis wohin eigentlich im Osten? Bis zum Ural, darauf haben sich die Geografen geeinigt.

Aber ums geografische Europa geht es nicht bei all den Verunsicherungen, Krisen, Diskursen, Streitereien der Gegenwart. Es geht um das politisch und/oder ökonomisch und/oder kulturell definierte Europa. Um die Nachkriegsordnung in Form einer Europäischen Union (EU) der 9 bis 12 Mitgliedsländer, mehr noch um die jüngere Nachwendeordnung der 15 bis 28. Es geht um eine Gemeinschaft der Länder, von denen jedes einzelne sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts – manches erst im späten 20. – durch Vereinigung regionaler Flecken oder durch Emanzipation von übergeordneten Reichen zum Nationalstaat entwickelt hat.

Eine Epoche des Friedens

Ursprünglicher Anlass des kooperativen Zusammenrückens (west)europäischer Länder war, stark vereinfachend formuliert: Einerseits die teils als „Erbfeindschaften” zwischen Nachbarn ausgetragenen Kriege ein für allemal zu beenden; andererseits im Verbund mit den USA der sowjetischen Machtkonzentration im Osten Paroli zu bieten. Wie immer man über die Jahrzehnte das Gebaren der beiden Blöcke im Einzelfall beurteilen mag, und wie kritisch man die zwischen Marktliberalismus und kleinlicher Regulierungswut schwankende Ausrichtung der EU-Politik seit Anbeginn auch sehen mag: Dem größten Teil Europas ist aus der partiellen Hintansetzung nationalstaatlicher Interessen zugunsten der Gemeinschaft sowie der Einhegung nationalistischer Befindlichkeiten mittels kooperativer Vernunft eine lang andauernde Friedensepoche erstanden, wie es seit der Jungsteinzeit keine mehr gab.

Wäre diese Friedensepoche das einzige positive Ergebnis der EU, ihre Gründung und das Ringen um ihren Erhalt hätten sich schon gelohnt – angesichts der unzähligen Massenschlächtereien, die im Laufe der Geschichte den Kontinent selbst wieder und wieder verwüsteten, die von hier aus auch in alle Welt getragen wurden. Nun aber scheint der Wunsch nach Frieden in Freiheit und guter Nachbarschaft seine Bedeutung als kooperative und integrative Primärmotivation zu verlieren. Banken- und Eurokrise, Kleinbauernsterben und Milchpreisdesaster, Marktliberalisierung und Sozialabbau, Grexit-Drohung und Brexit-Gefahr, völliger Zusammenbruch europäischer Solidarität in der Flüchtlingsfrage…. Europa, nein: die EU wirkt heute wie das osmanische Reich in seiner letzten Phase: aller Ideale entkleidet, ideenlos, müde, unfähig, von Bürokratie erstickt, von Zweifeln und innerem Zwist zerfressen, von Partikularinteressen und Bereicherungsklientelen gebeutelt.

Heimatverbundenheit plus Weltläufigkeit

Eine Wende rückwärts in die vermeintlich gute alte Zeit der reinen Nationalstaatlichkeit erscheint vielen plötzlich verlockend. Sie wird von interessierten politischen Kräften auch in den schönsten Farben als einziger Ausweg aus der europäischen Misere angepriesen. Doch sie bleiben die Antwort schuldig, wie das gehen soll – in einem ökonomisch global vernetzten Umfeld; einer kulturell nach allen internationalen Seiten offenen Lebenswelt; mit einer Bevölkerung, die sich für Arbeit, Bildung, Urlaub, Liebe, Niederlassung längst den ganzen Kontinent, ja den gesamten Planeten erschlossen hat.

Gewiss, die Sehnsucht vieler Menschen nach einem überschaubaren, verstehbaren, beeinflussbaren Lebensraum wird umso größer, je komplexer, unübersichtlicher und anonymer sich die Welt als Ganzes entwickelt. Die Wertschätzung von Heimat erlebt seit Jahren eine stürmische Renaissance. Herzliche Verbundenheit mit der eigenen Stadt, mit der nahen Umgebungsregion inklusive  Geschichte und Brauchtum feiert bemerkenswerte Wiederkehr bis in die Jugend hinein. Doch ist dies heute allemal eingebunden in eine mediale wie praktische Informations-, Arbeits-, Kultur- und Lebensartvernetzung überregionaler bis globaler Natur. Noch nie waren Speisegewohnheiten, Musikvorlieben, Modetrends so international wie heute. Noch nie auch haben so viele junge Menschen und Familien ihre Elternwohnsitze und Herkunftsorte so bald verlassen, um irgendwo anders im Land oder im Ausland zu studieren, zu arbeiten, zu heiraten, sich anzusiedeln.

Europa ist nicht gleich EU


Heimatverbundenheit als Distanzbeziehung oder als Verbundenheit mit einer neuen Wahlheimat einerseits und Weltläufigkeit andererseits gehören heute zusammen. Weshalb der folgende Satz auch kein Widerspruch in sich ist: „Ich bin von ganzem Herzen Westerwälder und Europäer, stehe aber mit der EU auf Kriegsfuß.” Europa und die EU sind ebensowenig dasselbe wie europäischer Gedanke und EU-Politik. Es standen und stehen im Gegenteil gerade überzeugte Europäer am häufigsten und heftigsten im Widerspruch zur Brüsseler Politik der marktgerechten Zurichtung von allem und jedem. Denn Europa, das war immer, ist und soll bleiben vor allem Vielgestaltigkeit – gewahrt in gegenseitigem Respekt, guter Nachbarschaft und Zusammenarbeit zum Nutzen aller.

Davon hat sich Brüssel weit entfernt, davon mögen auch viele nationale Regierungen leider nichts mehr wissen. Und die nach historischen Maßstäben explosionsartige Ausweitung der Gemeinschaft auf 28 Mitglieder macht die Sache nicht einfacher. Die Abwendung vom europäischen Ideal ist das Kernproblem, für dessen Lösung es zu arbeiten gilt. Der Rückfall in den Nationalismus hat jedoch keine Lösung zu bieten. Denn jeder für sich, hieße am Ende nur wieder: jeder gegen jeden.

Britannien bliebe trotz Brexit europäisch 

Ob ein Austritt Großbritanniens aus der EU fatale wirtschaftliche Folgen für einen der beiden, beide oder gar niemanden hätte, ist im Moment Ansichtssache. Es gibt kein Beispiel für solch einen Fall. Aber wie es auch ausgehen mag mit dem Brexit: Die britische Gesellschaft ist als Folge der Kolonialepoche auf ihre Weise schon so lange multiethnisch und multikulturell geprägt, dass sie das auch außerhalb der EU bleiben würde – so wie die kontinentalen Länder ihr wichtigster Handelspartner bleiben würden.

Ähnliches gälte bei einem Auseinanderdriften der EU gerade für deren westeuropäischen Mitglieder wie Italien, die iberischen Südländer und Frankreich, wie Benelux, Skandinavien und Deutschland. Denn die fortgeschrittensten Nationalstaaten der Gegenwart sind nicht zufällig zugleich die weltweit am besten vernetzten und kulturell offensten Gesellschaften. Ein Brexit könnte viele Probleme mit sich bringen. Aber die viel wichtigere Frage ist: Stürzt Europa zurück ins finstere Zeitalter des Nationalismus?     
                                     
Andreas Pecht


(Erstabdruck/-veröffentlichung einer leicht gekürzten Fassung in einem Pressemedium außerhalb dieser website am
am 22. Juni 2016)


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