Quergedanken

Quergedanken Nr. 70

Bei den älteren Bekannten meiner Alterskohorte  (= Nachkriegsgeborene bis 1955) häufen sich  Renteneintritte oder die Vorfreude darauf. Fast alle sind zu früh, gehen vor Erreichen des 65. Lebensjahres in Ruhestand. Einige nutzen Altersteilzeitmodelle. Andere werden von Ärzten vorfristig zur Ruhe gesetzt. Wieder andere mobilisieren Ersparnisse oder nehmen gehörige Rentenabschläge in Kauf, um ja bald der Tretmühle zu entfliehen. Allesamt machen sie drei Kreuze, dass ihnen die Rente mit 67 erspart bleibt.

Als 1955er gehöre ich selbst schon zu denen, die über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten müssten, um Vollrente zu beziehen. Sieben Monate länger, bis am 21. Juli 2021 meine reguläre Arbeitspflicht endet. Das wären noch beinahe elf Jahre Volllast. Wenn ich bisweilen so in mich horche, wächst das Verständnis für jene Bekannten, die in wesentlich unschöneren Berufen ihr Pensum nicht bis zur gesetzlichen Neige erfüllen wollen oder können. Darunter keiner, der sich in die Schubladen Faulenzer, Arbeitsscheuer, Sozialschmarotzer sortieren ließe. Malocht haben alle, ob an der Werkbank oder im Büro, ob mit Kindern oder bei der Altenpflege, ob als Lohnabhängiger oder Selbstständiger.

Reihum gestandene Arbeitsleut', die während 35 bis 40 Dienstjahren erlebt haben, wie die Arbeitswelt sich veränderte. Die erfahren mussten, wie das ewige Mehr-Schneller-Billiger an ihren Kräften und Nerven zerrte, sie zusehends auslutschte, ermüdete, verschliss. Erfahrene Arbeitsleut', die über den Unfug mancher Rationalisierungsmaßnahme nassforscher Manager nur den Kopf schütteln konnten. Stolze Arbeitsleut', die das Kotzen kriegten, als sie zuletzt die eigene Erfahrung in Planungen für Produktionssteigerung bei gleichzeitigem Stellenabbau einbringen sollten.

Freund Walter glotzt. Tut er immer, wenn er verunsichert ist. „Aber die Menschen werden älter, Kinder gibt’s weniger, da muss doch länger gearbeitet werden. Wer soll  die Renten sonst finanzieren?“ Ach Walter, dass selbst du auf diese Masche hereinfällst! Es ist nicht blinder Egoismus, der fast drei Viertel der Leute im Land gegen die Rente mit 67 einnimmt, sondern Gerechtigkeitsgefühl. Dass die Menschen länger leben, ist sowenig ein Himmelsgeschenk wie die Rente unverdienter Luxus. Beides ist Ergebnis der Anstrengung von Arbeitern, Angestellten, Bauern, Lehrern, Wissenschaftlern... Und was die Rentenfinanzierung angeht: Ein Arbeiter produziert heute zehn Mal mehr Güter als sein Vater, ein Bauer das Tausendfache an Lebensmitteln im Vergleich zum Großvater. Die Geburtenrate hat sich derweil nicht mal halbiert, die Lebenserwartung nicht mal um ein Fünftel zugenommen. Wohin, zur Hölle, verschwindet all der fleißig erarbeitete Mehrwert? Wer verpulvert ihn wofür?

Erinnere dich, Walter, was wir über den ureigentlichen Zweck von Arbeit und Wirtschaft sagten: Lebensgrundlage sichern, Lebensumstände verbessern UND mehr Lebenszeit gewinnen, die der Mensch in Glück investieren kann, statt sie für Arbeitsfron verausgaben zu MÜSSEN. Heute sind wir so produktiv wie nie; viele spüren das am eigenen Leib lange bevor der Ruhestand greifbar wird. Und was passiert nun? Man will die Leute auch noch um die Früchte der von ihnen gestämmten Produktivitätszuwächse prellen, indem ihnen zwei Jahre frei verfügbare Lebenszeit gestohlen werden. Der Fortschritt ist die Mühen nicht wert, der einem Qualitäten nimmt, die gestern noch selbstverständlich waren: etwa wohlverdienten Ruhestand zur rechten Zeit.

Quergedanken Nr. 69

Es gibt Dinge, die man ändern kann, und andere, die sind unabänderlich. Dass alle Menschen älter werden und schlussendlich ins Gras beißen, ist unabänderlich. Jeder weiß das, und trotzdem unternehmen tagtäglich Millionen die oft lachhaftesten Anstrengungen, gegen dies Schicksal anzustinken. Sie wollen ururalt werden – aber bitteschön bei bester Gesundheit, properem Aussehen und sprudelnder Libido. Die Völker und Kulturen werden sich weiter durchmischen, das ist ebenfalls unabänderlich. Man kann nicht Weltmärkte schaffen, erdumspannende Kommunikationsflüsse und Verkehrsverbindungen einrichten, zugleich aber erwarten, dass die Leute daheim bleiben – die Teutschen bitteschön in Teutschland, die andern anderwärts.

Der Geist ist längst aus der Flasche. Er war nie wirklich drin: Der evolutionäre Erfolg des Homo sapiens ist seiner Fähigkeit zur Veränderung geschuldet, und keine seiner Kulturen konnte je lange neuen Einflüssen widerstehen. Über das vergebliche Abschottungsbemühen der Sarrazine und Seehofers hätte man am Hofe von Stauferkaiser Friedrich II. nur den Kopf geschüttelt: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wäre weder von Speyer noch von Sizilien aus regierbar gewesen ohne das Miteinander nord- und süddeutscher, italienischer und römischer, orientalischer, griechischer, jüdischer Geister und Kulturen.

„Genug jetzt, Herr Oberlehrer“, grummelt Walter. „Stimmt alles, trotzdem geht mir die Totalinvasion durch amerikanische Hamburger-Brätereien und Kaffeepanscher auf den Sack. Erst recht kann ich es bald nicht mehr aushalten, an jeder Ecke, selbst im Supermarkt, beim Bäcker, an der Wirtshaustheke oder auf dem Autobahn-Klo per Flimmerkiste ungefragt mit Dumpfbackenwerbung und Hüpfdohlenvideos bestrahlt zu werden.“ Aber lieber Freund, das hat doch nichts mit der aktuellen Diskussion um muslimische Überfremdung des Landes zu tun!

Darauf er: „Religion geht mich nix an. Damit mag es jeder halten, wie er will. Von mir aus kann auch jeder anziehen, was er will: Kopftuch oder Texashut, Kaftan oder Nadelstreifen mit Schlips, Burka oder Halbarschmini. Dummköpfe können da wie dort drinstecken. Das ist wohl so unabänderlich wie die Tatsache, dass unsere Kultur ebenso in Athen und Sparta, Königsberg und Weimar wurzelt wie in Jerusalem und Rom. Ich aber rede von der wirklichen Überfremdung durch schlechtes Essen und die Dauerbelästigung mit lauthalsem Schwachsinn. Das wären nun Dinge, die nicht unabänderlich sind.“ Sagt's, und verabschiedet sich mit der bei den Gegnern eines neuen unterirdischen Bahnhofes in Stuttgart entlehnten Grußformel: „Oben bleiben!“.

Diesen Slogan versucht Walter jetzt hier daheim zu etablieren. Denn was die Bahn angeht, sind renitente Schwaben und Mittelrheiner quasi natürliche Verbündete: Für den S21-Wahn würden jene Milliarden unnütz verpulvert, die man dringlich bräuchte, um das Rheintal vom Lärmterror zu entlasten. Aber die Solidarität kommt noch nicht richtig in Gang. Allzu viele Zeitgenossen am Rhein mögen kaum glauben, dass die S21-Planungen Humbug sind und völlig chaotisch. Dabei sollten gerade Rheinland-Pfälzer wissen, wie es bei politisch gewollten Gigantprojekten zugeht. Schließlich haben sie den Nürburgring vor der Tür. Und Stuttgart 21 ist ein zwanzig mal größeres, komplizierteres und teureres Vorhaben. Was mag dort erst alles schiefgehen – wenn in der Eifel schon eine simple Achterbahn nicht in Gang kommt oder bei einer neuen Veranstaltungshalle für etliche Tausend Besucher einfach die Toiletten vergessen werden.

Quergedanken Nr. 68

Sage einer, in dieser Zeitschrift seien keine Vordenker am Werk. Noch während der Fußball-WM hatte Freund Walter prognostiziert, Vuvuzelas würden alsbald Einzug halten in die Demonstrationskultur. Genau so ist es gekommen. Es blasen nun die einst so braven Schwaben damit Stuttgart21 den Marsch; aus den aktuellen Anti-AKW-Protesten sind die Tröten ebenfalls nicht mehr wegzudenken. Und welche Ehre: Selbst das seit 1789 in würdiger Tradition renitente Franzosenvolk griff bei seinem jüngsten Generalstreik massig zur neuzeitlichen Jericho-Posaune aus Bad Kreuznach.

Aber ach, bei aller klammheimlichen Freude über die lautstarke Widerspenstigkeit: Was wäre das Leben schön und gemütlich, könnte man endlich seinen Frieden machen mit der Welt. Beruhigt sich zurücklehnen und freundlich Präsidenten, Kanzlerinnen, Ministern, Parteien, Mediengrößen, Wirtschaftsmächtigen, überhaupt allem Volk zurufen: Was ihr tut, ist wohlgetan! Indes, es geht nicht, kann nicht gehen – denn Walter, ich und andere Beckmesser, wir haben das Hottentotten-Gen.

Wie bei den Zeitgenossen mit dem jüngst entdeckten Dummheits-Gen ist unsere Stellung in der Gesellschaft somit als unausweichliches biologisches Schicksal festgeschrieben. Heißt für unsere spezielle genetische Disposition: Wir sind in alle Ewigkeit verdammt, wider den Stachel zu löcken. Weshalb es vergebens wäre, zu verlangen, wir sollten mal die ökologischen Aspekte im neuen Energiekonzept der Bundesregierung positiv würdigen. Das gibt unsere natürliche Anlage nicht her, weil besagtes Gen uns fixiert auf die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke über meine wahrscheinliche Lebenserwartung hinaus, gar bis ins Rentenalter meines Sohnes hinein.

Der Begriff Hottentotten-Gen geht indirekt übrigens auf meine Oma zurück. „Wie bei den Hottentotten!“, pflegte sie in Anlehnung an das koloniale Buren-Schimpfwort zu lamentieren, wenn der Enkelbub herrschende Benimm-Normen über den Haufen rannte, strenge Mahnung ignorierte, Widerworte gab oder sich ungebührend mit vorehelichen Befingerungsabsichten nach den Mädels umsah. Nun wusste die 1899 in einem Odenwald-Dorf geborene Oma nichts über Genetik. Das kann man auch von einer Frau kaum erwarten, die als Kind bei der Erstbegegnung mit einem Auto schreiend davonlief, die Jahrzehnte später die Schlafzimmertür abschloss aus Angst, ihrem ersten  Fernsehapparat könnte nachts illustres Volk entsteigen und sie im Bette belästigen.

Hätte Großmutter über Entwicklungsgeschichte mehr gewusst, ihr wäre vielleicht klar geworden: Unser aller Vorfahren stammen aus Afrika, wo auch die so geschimpften Hottentotten daheim sind. Von dort zogen sie hinaus und wanderten – wie ihre Kindeskinder bis zum heutigen Tag – in der Welt herum. Derart verbreitete sich neben dem Hottentotten- auch das Juden- und das Dummheits-Gen über den Erdkreis. Oma aber glaubte irrtümlich, unsereins habe von Hause mit den Hottentotten ebenso wenig zu tun wie Reiche mit Dummheit. Sie bemühte das Wort nur als erzieherisches Schreckgespenst, sobald der Enkel aus der braven Art schlug. Wenn das nicht half, griff die alte Frau zur ultimativen sprachlichen Steigerungsform: „Kerl, du hoscht de Daiwel im Leeb.“

Nein, liebe Oma selig: Vom Teufel sind Walter und ich so wenig besessen wie von Gott erleuchtet. Es kann nur das Hottentotten-Gen sein, das uns daran hindert, in Harmonie mit dem Gang der Dinge zu leben. Bleibt die Frage: Warum wird dieses Gen, obwohl es alle haben, nicht bei allen aktiv?
 

Quergedanken Nr. 67

Ich weiß nicht was soll es bedeuten,

Dass ich so traurig bin:

Geschichten aus jüngeren Zeiten,

Die kommen mir nicht aus dem Sinn.

 

Es donnern die stählernen Rösser

Auf Schienen hinab und hinan,

Die Ufer des Rheines erzittern,

Jed' Ruhe ist hin und vertan.

 

Einst saß dort die schöne Sirene,

Kämmend ihr goldenes Haar,

Ließ träumen mit sinnlich Getöne

All Volk ganz wunderbar.

 

Von Lust am deutschen Strome,

Schönheit in Wingert und Wald,

Von Heimat in lieblichen Orten,

Lebensart weniger kalt.

 

Verloren ist nun das Märchen,

Ein neuer Gott formt die Welt,

Hinter dem Rücken von Lörchen

Lauern Versprechen auf Geld:

 

Über diese Brücke müsst ihr gehn!

Werdet so mit einmal überstehn

Alle Wunden, die geschlagen sind

Von jenen Rössern und dem kalten Wind.

 

Wir bauen auf solch hehre Worte,

Und bauen und bauen und bau'n:

Überm Eck dräuen ewig die Gondeln,

Am Eifel-Ring geistert das Grau'n.

 

Mosella wird schnöde gepfählet

Mit Lanzen von hoch oben her,

Darüber Neu-Babel gestählet

Darunter kein Lieblichkeit mehr.

 

Ich fürchte, die Zeiten verschlingen

Viel mehr als Fährleut' und Kahn,

Und das hat mit ihrem Singen

Die Loreley NICHT getan.

 

 

(Von Andreas Pecht frei nach Heinrich Heine, aber gewiss in dessen Sinn. Acht Strophen singbar zur bekannten Volksmelodie von Friedrich Silcher, eine im Stile des Sieben-Brücken-Songs von Karat/Maffay.)

 

Quergedanken Nr. 66

Alle reden vom Wetter, wir auch. Nimmt man die Sommer-Extreme der vergangenen Wochen ins Visier, läuft gleich wieder einer meiner Lieblinge vor die Flinte: die Deutsche Bahn. Nicht, dass der Autor auf ihr besonders gern herumritte. Es ist das Unternehmen selbst, das sich ein ums andere Mal vordrängelt: Sobald der Wetterbericht eine irgendwie außerdurchschnittliche Wetterlage vorhersagt, gehen anderntags Nachrichten von außerordentlichen Ereignissen bei der Bahn um; zu jeder Jahreszeit.

Wer noch einen Beweis braucht, dass der Klimawandel real ist: Die Deutsche Bahn erbringt ihn. Anders als mit gehäuft unnatürlichen Witterungsextremen ließe sich kaum erklären, dass ein topmodernes, hochtechnisiertes und wohlorganisiertes Transportunternehmen von Eis oder Schnee, Sturm, Regen oder Hitze derart gebeutelt wird. Zuletzt gab's in ICE-Waggons Saunen bis zum Umfallen gratis, weil die Klimaanlagen den Dauerbelastungen durch neuzeitliche Hitzerekorde nicht gewachsen sind. Nur in wenigen Fällen sei es zu Totalausfällen der Kühlung gekommen, beruhigt die Propagandaabteilung der Bahn. Soll heißen: Vereinzelte Problemchen, sonst aber alles im grünen Bereich.

Von dort, aus dem grünen Bereich, singen Reisende indes ein anderes Lied. In manchem ICE wird die Fahrt zum Volkswandertag: Auf der Flucht vor Waggon-weise stotternden Klimaanlagen wandern die Passagiere von einem Zugabschnitt zum nächsten. Grüner Bereich hieß bei einem Kollegen: Der ICE von Berlin Richtung Heimat war im hinteren Teil wegen Überhitzung leer, glich im vorderen einer Sardinenbüchse. Und das End vom Lied: Im Ruhrpott zwangsweise umsteigen auf einen Regionalzug, um statt in fünf, erst nach gut acht Stunden in Koblenz anzukommen. Haben Sie schon mal versucht, das Entschädigungsformular der Bahn im Internet auszufüllen? Ihm ist es trotz Hochschulbildung nicht gelungen.

Mein Freund Walter hat daraus schon vor einiger Zeit (seit Umwandlung der Bundesbahn von einer volkseigenen Infrastruktur-Einrichtung in ein börsengeiles Profitcenter) folgende Konsequenz gezogen: Auf ICE-Fahrt geht er nur noch mit EPA. Beim Militär meint EPA „Einsatzpaket“. Darin steckt Notverpflegung für zwei Tage und den Fall, dass unter schwierigen Gefechtsbedingungen mal der Nachschub ausbleibt. Zu Walters EPA gehören im Winter auch Schlafsack und Esbit-Kocher, im Sommer eine Zusatzration leicht gesalzenen Wassers. Auf diese Art hat er bereits in der Mehdorn-Epoche manches Gefecht auf dem Schlachtfeld Bahn relativ unbeschadet überstanden.

Zudem hat Walter stets einen Dachdecker-Hammer im Reisegepäck. Wozu der gut ist? Dem Freund mangelt es an Grundvertrauen in die Errungenschaften der Moderne. Nicht zu öffnende Fenster, automatisierte Türen und Belüftungen verursachen ihm Unwohlsein. Oder wie er selbst sagt: „Mir kommt bei derartiger Fremdbestimmung grundlegender Lebensfunktionen das Kotzen.“ Egal, ob in rollenden, schwimmenden oder auf Fundamenten stille stehenden Räumen.

Wenn Ihnen, liebe Leser/innen, im Zug, auf dem Schiff, im Hochhaus automatische Systeme mal die Luft abdrehen oder den Fluchtweg versperren, dann halten Sie sich an Typen wie Walter. Die nehmen zwar luxuriöse Unpässlichkeiten wie Verspätungen, falsche Platzreservierungen, miesen Kaffee oder tote Steckdosen mit stoischer Ruhe hin. Sollte jedoch durchgeknallte Technik den Leuten an Leib und Leben gehen, sind es Walters und Walterinen, die nicht auf Vorschrift, Automatik, Oberschaffner und den lieben Gott vertrauen. Diese Typen ziehen beizeiten die Notbremse, packen den Hammer aus und öffnen die Fenster. 

Quergedanken Nr. 65

In diesem Augenblick: Während ich versuche, schreibend querzudenken, sitzt Freund Walter zwei Meter hinter mir am Fernseher. Fieberglanz in den Augen, Schaum vorm Maul. Gegeben wird das WM-Spiel Deutschland/Serbien –  und Serbien führt. Wenigstens hockt er nicht mit Nationaltrikot im Lehnsessel, wedelt nicht mit der Deutsch-Trikolore vor der Mattscheibe herum und hat auch keine der Tröten aus seiner neuen Vuvuzela-Sammlung mitgebracht.

Apropos Vuvuzela. Bekanntlich bin ich gegen Lärm allergisch, die Aufregung über afrikanische Blaseorgien kommt mir trotzdem spanisch vor. Oder besser: deutsch. Oder noch besser: gartenzwergisch. Beim Fußball ist es traditionell überall laut; liegt wohl in der Natur der Sache. Hierzulande wird getrommelt, getrillert, gerasselt, gehupt, gegrölt, manchmal mit Knallfröschen gezündelt. Und, mit Verlaub: Ich weiß nicht, was grausiger klingt – die ausgelassene Trompeterei am Kap oder die Kelten-, Wikinger-, Germanenschreie, die besoffene Nordlichter beim Fußball ausstoßen, als zögen sie in eine Schlacht (was sie bisweilen ja auch handgreiflich tun).

Außerdem stehen Vuvuzelas für die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft: Wurden doch Millionen dieser Dinger im Auftrag einer Düsseldorfer Firma in Bad Kreuznach gefertigt. Sollte am Ende gegen alle (eben noch) unverbrüchlichen Überzeugungen die deutsche Mannschaft nicht Meister werden, so würde die 2010er WM dennoch als ein von Deutschland geprägtes Turnier in die Geschichte eingehen – dank Vuvuzela. Was also soll die Nörgelei? In alle Welt Panzer verkaufen, aber jammern, wenn die dann schießen: So geht`s nicht! Wem das WM-Getröte zuviel wird, der kann ja den Fernsehton abdrehen. Man wäre obendrein das hysterische Getöne von Herrn Béla Réthy los.

Vor Spielbeginn hatte Walter noch gegrummelt: „Das mit Lena nervt.“ Häh? Was hat uns' Lenchen mit Jogis Truppe zu schaffen? „Ei, stell dir vor: Jetzt gewinnen wir nach dem Eurovisions-Gesinge auch noch die WM. Die Teutonen schnappen über. So viel Erfolg wird dann womöglich vor lauter Nationalstolz für deutsche Übergröße gehalten. Das könnte einem fast den Spaß am WM-Sieg verderben.“ Ich muss gestehen, mir ist das alles zu hoch mit diesem Nationalstolz. Wieso soll mir die Brust schwellen und ich auf Deutschland stolz sein, nur weil eine reizende Göre aus Hannover einen internationalen Wettbewerb für schlechte Musik gewinnt? Oder wenn eine hier zusammengestellte Mannschaft in Afrika ordentlich Fußball spielt?      

Was hat Lena mit mir zu tun? Leider gar nichts. Was trage ich zur Leistung der Fußballer bei? Nix. Was können, umgekehrt, die Kicker oder das arme Lenchen dafür, dass eine Gurkentruppe die Regierung Deutschlands zur Lachnummer macht? Da ich zufällig in diesem Land geboren und geblieben bin, muss ich mich über Letzteres schwarzärgern. Über Lenas Erfolg hingegen könnte ich mich freuen – wäre ihr Liedtext nicht derart bescheuert. Erfreuen kann mich auch ein gutes Spiel der deutschen Fußballer. Und sollte diese Mannschaft die WM sportlich verdient gewinnen, kriegt sie meinen Beifall. Freude, ja; Applaus, gerne. Aber Nationalstolz? Ich begreife es nicht.

Bleibt die Frage: Walters neue Vuvuzela-Sammlung? Der Freund hortet die Tröten, weil er sie für einen „innovativen Beitrag zur Demonstrations-Kultur“ hält. „Effektiver als Trillerpfeifen. Instrumente, die die Mauern von Jericho zum Einsturz brachten, können verschrumpelte Gurken allemal vom Stängel blasen.“  Trööööööööööttt!!! – Nachtrag: Walter ist knatschig. Weil Deutschland Serbien unterlag? Nein, „weil meine Mannschaft gegen diejenige aus Serbien verloren hat“.

Quergedanken Nr. 64

Sollte jemand ein paar alte D-Mark in der Matratze haben: Bloß nicht weggeben! Man könnte sie wieder brauchen. Falls vom letzten Urlaub noch schwedische Krönchen oder schweizer Fränkli in der Schublade rumliegen: Unbedingt behalten! Womöglich sind sie demnächst Millionen (Euro) wert. Schon ein seltsames Gefühl, beim Schreiben der Kolumne nicht zu wissen, ob zwei Wochen später nach Erscheinen des Magazins das Honorar statt mit Euro eventuell mit Kartoffeln, Jazzplatten aus der Sammlung des Herausgebers oder sonstigen Naturalien bezahlt  wird.

„Der Herr Autor übertreiben mal wieder maßlos“, wird von verschiedenen Seiten eingewandt. Ach ja?! Mein Freund Walter hält für diesen Fall zurzeit ein hübsches Bild parat: „Die DDR hätte rein wirtschaftlich locker 20, 30 Jahre länger durchhalten können, hätten die Finanzmärkte sie mit einer ähnlichen Menge Kredite versorgt, wie westliche Staaten seit 1989 Schuldenberge anhäufen.“ Politisch mag man sich das nicht wünschen, aber ökonomisch wäre es durchaus gegangen.

Sie erinnern sich vielleicht an die damaligen Zwischenrufe einiger Querköpfe, wonach der Untergang des so genannten Sozialismus keineswegs den Sieg des realexistierenden Kapitalismus bedeute. Angesichts der zugespitzten dritten Phase der jüngsten Finanzkrise (1. Phase = Immobilien/Banken; 2. = Griechenland; 3. = Euro-Krise) sind Walter und ich zu folgendem Schluss gekommen: Die große Frage lautet keineswegs, ob der Kapitalismus bankrott geht, sondern wann... –  wann sich nicht mehr vertuschen lässt, dass er längst bankrott ist.

Und wer hat Schuld an dem Schlamassel? Die Griechen mit ihrem Schlaraffendasein sind es, für das wir nun bluten. Und die Portugiesen, Spanier, Italiener. So zumindest geht hierzulande die Mär. Da staunen 66 Prozent griechischer Rentner, die weniger als die 600 Euro der dortigen Durchschnittsrente kriegen. Da glotzen die griechischen Lehrer, deren Bezüge 40 Prozent unter denen ihrer deutschen Kollegen liegen. Da kratzen sich die  Angestellten in Griechenland am Kopf, deren Gehalt laut deutscher Bundesanstalt für Arbeit im Durchschnitt bloß 41 Prozent des hiesigen beträgt. Da kommen jene drei Viertel griechischer Staatsbediensteten ins Grübeln, die weniger als 1500 Euro/Monat verdienen.

„Die Griechen“ gibt es so wenig wie „die Deutschen“. Es gibt hier wie dort und anderswo welche, die noch immer in Saus und Braus leben würden, selbst wenn man ihnen 90 Prozent ihrer Einkünfte wegnähme. Es gibt hier wie dort welche, die sich bei 20 Prozent Einkommensverlust gewaltig  strecken müssten, aber irgendwie gerade noch über die Runden kämen. Und es gibt hier wie dort jene, die nicht wüssten, wie sie auch nur 5 Prozent Einbußen verkraften sollten.

Daran, ihr Leute, denkt, wenn es heißt, dieses oder jenes Land respektive Volk habe „über seine Verhältnisse gelebt“. Daran denkt, wenn nun allüberall Sparorgien, Rationalisierungswellen,   „Marktbereinigungen“ losbrechen. Oder wenn gar (nicht nur) Euro-Land nebst Währung abgefackelt wird – weil die Politik ein paar Tausend durchgeknallten Nadelstreifen-Gangstern auf den Finanzmärkten erlaubt, die Welt nach Gusto zu terrorisieren.

Kommt es so dicke wie befürchtet, könnten im nächsten Jahr wegen um sich greifender Konsumflaute am Deutschen Eck selbst die Gondeln Trauer tragen. „Sei doch nicht so negativ“, ruft Walter und hält mir wohlgemut einen Zettel unter die Nase. Darauf steht gekritzelt, was der 79-jährige Grafiker und Illustrator Tomi Ungerer neulich im SWR zum besten gab: „Mir ist eine Barrikade noch immer lieber als ein Stau auf der Autobahn“.

Quergedanken Nr. 63

Asche auf mein Haupt! Bekennen muss ich, neulich politisch unkorrekt gefühlt zu haben. Als der Vulkan Eyjafjallajökull seinem sperrigen Namen mit ebensolcher Tat gerecht wurde, gedachte ich nicht mitfühlend gestrandeter Flugpassagiere und einbrechender Airline-Umsätze. Stattdessen glückseliges Jauchzen über das schönste Frühlingsfirmament seit Jahrzehnten: Jungfräuliches Blau von Horizont zu Horizont. Keine Spur jenes Netzes, mit dem fliegende Verbrennungskraftwerke sonst den Herrschaftsanspruch der Aero-Industrien über den Himmel dokumentieren. Zwischen Bonn und Köln, Frankfurt und Mainz, so hören wir, genossen Freunde das Ausbleiben des alltäglichen Terrors. Sie saßen vor Häusern, tranken dem Eyjafjallajökull zu und sangen: Es lässt die Natur einen kleinen Furz nur, fern im nördlichen Eis, gleich geht in den Sturz – wie Ikarus einst – die Moderne und kracht auf den Steiß.

Als neulich wieder Särge kamen vom Hindukusch her, darin die entstellten Leiber unsrer Söhne und Töchter. Als die Oberen vor den Kameras betroffen sprachen von den Gefahren bei der unvermeidbaren Verteidigung des hiesigen Vaterlandes am andern Ende der Welt. Da schämte ich mich für die Gewählten. Sie hätten besser abseits gestanden und still gebetet: Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Für die Jungen sei das Bekenntnis aus dem alten katholischen Ritus übersetzt: Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. Während die Oberen so aber nicht beteten, kam mir Shakespeare in den Sinn: „Was ist Ehre? Ein Wort. Luft. Ehre ist nichts als ein gemalter Wappenschild beim Leichenzuge.“ Und ich dachte an Bert Brecht, der seinen Freund Karl Valentin fragte: „Was machen Soldaten in der Schlacht?“ Valentins Antwort: „Angst ham's“. Von da an ließ Brecht in seinen Stücken Soldatengesichter weiß schminken. Man sollte beim deutschen Afghanistan-Korps mit der Munition Weißschminke ausgeben. Das wäre die erste Ehrlichkeit in diesem Krieg.   

Als neulich Bischof Mixa sich erinnerte, vor Jahren doch Watschen in kindliche Gesichter geklatscht zu haben, dachte ich: Der Kerl gehört bestraft, wie alle Prügel“pädagogen“ schon damals hätten bestraft gehört und aus dem Verkehr gezogen. Auch jener Stadtpfarrer selig, der mit Schaum vorm Maul meinen Banknachbarn beim Kommunionunterricht mit dem dicken Katechismus windelweich drosch, weil der Bub Winnetou-Sammelbilder interessanter fand als Hochwürdens Geschwätz über Keuschheit. Indes hat Mixa leider recht mit dem Hinweis, dass seinerzeit Kindesmisshandlung allgemein als probates Erziehungsmittel galt. Weshalb die pauschale Vermengung von prügelnder Misshandlung und sexuellem Missbrauch in der aktuellen Diskussion wenig hilfreich ist, Perspektiven für die Eindämmung von Unzucht mit Schutzbefohlenen zu entwickeln. Nach der Polizei ruft sich's leicht, doch gegen Triebsteuerung ist sie kein Mittel. Die Missbrauchs-Prävention steht ganz am Anfang – weil das Problem über Jahrhunderte nur vertuscht, verschwiegen, verdrängt wurde.

„So ernst heute?“, platzt Freund Walter herein und bietet ein Bibelwort als Rausschmeißer an für die Kolumne zum Wonnemonat. Das geht so: „Der Arme und der Ausbeuter begegnen einander, der Herr gibt beiden das Augenlicht.“ Wo, bitte, soll da der Witz sein? Walter stöhnt auf und erklärt: „Dieser Spruch aus dem Alten Testament beweist, dass keineswegs alles wohl getan ist, was Gott angeblich tat/tut. Denn Armer und Ausbeuter bekamen zwar Augenlicht, aber sehend wurden sie dadurch nicht. Wäre es so, es gäbe heute weder Ausbeuter noch Arme.“  

Quergedanken Nr. 62

Wie sich die Zeiten ändern. Vor ein paar Jahren noch galt als wichtig, wer zur kleinen Gruppe der Handy-Besitzer gehörte und auch unterwegs angeklingelt wurde. Später griff in derselben Gruppe der Spruch um sich: Ständig mit dem Handy muss nur rummachen, wer schlecht organisiert ist. Vorbei, beides! Inzwischen telefonieren alle mit allen, immer, überall. Und sollte sich für einen Moment mal niemand zum Quatschen finden, wird mit dem Maschinchen gemailt, gesurft, gezwitschert. Leben heißt  nun: in Netzen schwimmen. Und wie bei den Fischen gilt: Dass einer gefangen ist, merkt er erst, wenn er hinaus ins freie Wasser will.

Mein Freund Walter hat sein Handy neulich ganz abgeschafft, seine Internetlektüre auf drei Stunden die Woche beschränkt, seine E-Mail-Abfragen auf ein mal täglich reduziert und seine Kreditkarten bei mir zum Verschluss hinterlegt. Jetzt Obacht! Dies alles mit der Begründung: „Den Luxus gönn ich mir.“ Dummes Gesicht meinerseits, verbunden mit der Frage, was denn am Verzicht auf die Segnungen der Moderne luxuriös sei. Antwort: „Ich bin Herr über meine Erreichbarkeit; kann die Themen, über die ich nachdenken will, selbst bestimmen; habe den Briefverkehr verlangsamt und damit enorm aufgewertet. Die Nichtbenutzung der Kreditkarten macht mich für Schnüffler, Überwacher, Haie, Werbefuzzis fast unsichtbar. Ruhe, Privatheit, Gemächlichkeit: Wenn das kein Luxus ist!“

Das liegt drei Wochen zurück. Walter geht es glänzend, er fühlt sich gegenüber Dauertelefonierern und -surfern privilegiert. Er vermisst nichts, hat mehr Zeit, wirkt in Diskussionen besser durchdacht, bewegt sich mal wieder leibhaftig auf Freiersfüßen. Kurzum: Er hat offenbar an Freiheit und Lebensqualität gewonnen. Bleibt das Rätsel, was seither der Eimer mit den schwabbeligen Farbbeuteln drin unter dem Küchenfenster seiner Bude soll: „Ich warte auf das Straßenfotografierauto von Google. Dann gibt’s nämlich – schmeiß und platsch –  ein Pakerl Rotsoße auf die Linse.“ Walter hat in nur drei Wochen ein richtig feines Gespür für echte Luxusgenüsse entwickelt.

So, jetzt im Ernst gesprochen. Zur Sache Koblenzer Seilbahn – und zu deren von einigen Zeitgenossen dringlich gewünschten Verwandlung in eine Dauereinrichtung nach der Bundesgartenschau. Der designierte Oberbürgermeister hält eine Diskussion darum für verfrüht. Was auf der Hand liegt, denn wer wollte das lichte Buga-Fest mit giftigem Lokaldisput über das Nachher verschatten. Unter der Hand indes lassen sich diverse Befürworter einer Dauer-Seilbahn durch Hofmann-Göttigs Mahnung nicht davon abhalten, mit den Hufen zu scharren. Denn: Der Hochseil-Bus vom Eck auf den Ehrenbreitstein könnte über Jahrzehnte eine geldwerte Touristenattraktion sein. Nur müsste dafür die gültige Beschlusslage nebst Vereinbarung mit der UNESCO gekippt werden, wonach die Bahn nach dreijährigem Betrieb zu demontieren ist.

Ich möchte beizeiten einen Gedanken in die früher oder später unvermeidliche Debatte werfen: Ihr Leut', müssen wir denn wirklich alles und jedes unbedingt nach Kriterien wirtschaftlichen Nutzens entscheiden? Interessiert uns an Natur und Heimat, Kultur und Stadt tatsächlich nur noch deren Vermarktungspotenzial? Gewiss, es ist gut und nötig, dass Geld verdient wird. Aber der Mensch lebt nicht vom Geld allein. Welch Ehre könnten die Koblenzer weltweit einlegen, würden sie nach drei Jahren sagen: Jawohl, wir verzichten fortan auf den geldwerten Vorteil der Seilbahn – aus Liebe zur Unverwechselbarkeit des Rhein-Mosel-Ecks, aus Achtung vor unserem kulturellen (Welt-)Erbe als Wert an sich. Diesen Luxus sollte wir uns einfach gönnen!

Quergedanken Nr. 61

Freund Walter schimpft wie ein Rohrspatz. Über Mitmenschen, die statt Verstand Stroh oder schlimmeres im Kopf hätten. Man muss der Schärfe seiner Anwürfe mit Nachsicht begegnen, denn er kam beim Karneval weder zum Zug noch auf seine Kosten. Der gut geplante Enthemmungsritt durchs Pappnasen-Land war schon an Weiberfastnacht vorfristig zuende. Das kam so: Der Freund geriet, nicht ungewollt, zwischen losgelassene Möhnen mittleren Alters. Im Eifer von Butzererei und Herzerei auf schwankender Sohle verlor der Schwarm den Halt, ging mit Mann und Mäusjes zu Boden. Walter ward begraben unter prächtiger Weiblichkeit zuhauf. Nachher zwangen ihn gedunsene Blessuren im Gesicht nebst Quetschungen des Leibes für den Rest der tollen Tage aufs Kanapee. Dort las er bald stöhnend, bald knurrend Zeitung. Was lernt uns das? Zu viel des Guten auf einen Rutsch bekömmet nicht.

Seither ist er unleidlich und schimpft. Etwa über Journalisten, die nach dem Hartz-IV-Urteil des Verfassungsgerichts interessiert  auf Leute zeigten, denen der Staat 2500 Euro netto Hartz-IV inklusive Mietzuschuss überweise. Als Walter diese Zahl sah, schnappte er nach Luft, denn er selbst schafft als Single mit Vollarbeit nur knapp 1500 Euro netto. Nun ist der Freund kein Blöder, sondern Skeptiker. Er rechnete nach. Und siehe: Um auf 2500 Euro Hartz-IV inklusive Miete zu kommen, muss eine Arbeitslosenfamilie aus zwei erwachsenen Bedürftigen und vier oder fünf Kindern bestehen. Diesen Umstand haben die Herrschaften von der Presse „vergessen“ zu erwähnen. Weshalb jetzt leichtgläubige Niedriglöhner und Kleinrentner stinkig sind auf den angeblichen Schlaraffen-Verdienst nach Hartz-IV.

So bekommt das Wort „Neiddebatte“ mal echten Sinn. Ach, die Methode ist uralt, aber sie funktioniert noch: Man lasse arme Leute armen Leuten zürnen, um beide von weiterführenden Gedanken abzuhalten. Etwa diesem: Wenn das Hartz-IV-Geld und die unteren Lohnniveaus zu nahe beeinander liegen, dann ist nicht die Stütze zu hoch, sondern sind besagte Löhne zu erbärmlich. Ergo müssen sie rauf. Denn wie heißt es zurecht: Arbeit muss sich lohnen (so man denn welche kriegt).

Worüber Walter noch schimpft: Über einen PKW-Fahrer, der seinen Autohersteller verklagen will, weil er trotz ABS, Antischlupf und anderen Verhütungs-Raffinessen bei „nur 140“ von der schneeglatten Autobahn flog. Über einen in der Mosel gelandeten LKW-Fahrer, der dem Girl in seinem Navi blind gehorchte und auf eine Brücke abbog, die nie existierte. Herzallerliebst findet der Freund jene Mitmenschen, die im diesmal etwas kräftiger ausgefallenen Winter den Beweis sehen, dass Klimaerwärmung ein Hirngespinst sei.

Man übersieht, vergisst, verdrängt halt gern manches, das einem nicht in den Kram passt. So derzeit in Koblenz einige Leute das alte Wissen, wonach die Kunst neuer Theaterintendanten fürs ortsansässige Publikum immer und überall gewöhnungsbedürftig ist. Was wurde Georges Delnon  1996/97 angefeindet! Elitär sei er, publikumsfeindlich. Doch 1999 knirschte ganz Koblenz mit den Zähnen, weil Mainz den Mann abwarb, der heute als erfolgreichster Theaterleiter gilt, den es in Rheinland-Pfalz je gab. Also lasst den neuen Dietze am Stadttheater erstmal machen! Kritik ist erlaubt, aber bitteschön nur denen, die auch ins Theater gehen. Mir jedenfalls ist ein lebendiges Theater lieber, das gelegentlich unrund läuft, als eines, das sich ewig im Kreis musealer Wiederholung dreht. Und den Quoten-Fetischisten im Stadtrat lässt Walter ausrichten: „Nichts leichter als das Theater voll zu kriegen: Macht  'ne Freibierhalle mit Ringelpietz draus.“

Quergedanken Nr. 60

Das ist mal wieder einer der für diese Kolumne typischen Kalauer, werden Sie bei der Überschrift denken. Generation um Generation hieß es schließlich: Ohne Fleiß kein Preis. Und mühen sich nicht aktuell Heerscharen von Pädagogen redlich um Optimierung des Lernens, Pharmakologen um segensreiche Pillen zur Steigerung der Hirnleistung? Nun kommt dieser Schreiberling daher und bindet uns einen Bären auf von wegen „ohne Faulheit keine Klugheit“.

Nix Bär, Herrschaften! Die Wortwahl für den Spruch stammt zwar von mir, aber dem Sinn nach ist er Ergebnis höherer Naturwissenschaft modernsten Zuschnitts: der Hirnforschung. Wie anders sollte man jenen unlängst entdeckten Mechanismus im Gehirn deuten, den die Forscher „Offline-Modus“ nennen – und der in jedem Kopf automatisch anspringt, sobald der dazugehörige Mensch zielgerichtetes Werkeln sowie konzentriertes Denken einstellt. Was tut dieser Mechanismus? Er bringt Ordnung in das Kuddelmuddel dessen, was wir tagtäglich neu lernen, erfahren, erfühlen, uns ausdenken, zurechtgrübeln. Und er baut den Zuwachs an Hirnschmalz erst sinnvoll in die individuelle Schatzkammer aller bisherigen Lebenserfahrungen ein.

Der Witz ist: Das Gehirn macht das ohne unser Zutun von sich aus, im Schlaf und in Phasen des Innehaltens. Dann also, wenn der Körper entspannt und Gedanken ziellos dahintreiben. Ein Zustand, den man gemeinhin Muße nennt oder zu Unrecht Faulheit schimpft. Und jetzt Obacht bitte: Das Gehirn macht das nur, wenn man es auch lässt. Kurzum: Die ganze sich immer mehr beschleunigende Lernerei, Denkerei, Plackerei, auf die unsere Zivilisation so abfährt, ist für die Katz, macht uns nachgerade blöde, sollte kein ordentliches Quantum vom Gegenteil bleiben: Gemächlichkeit bis hin zum unverzichtbaren Nichtstun.

Viele der bedeutendsten Geistesleistungen der Geschichte entspringen dem Müßiggang. Dem antiken Philosophen Diogenes kamen die klügsten Ideen bekanntlich beim Relaxen im Fass, Descartes unterm Plumeau seiner Schlafstätte, Goethe zwischen süßem Tal und weiten Höhen der Christiane Vulpius. Voltaire und Rousseau wären belanglos, hätte sie nicht beim Flanieren mancher Geistesblitz getroffen. Mozarts Genius erfuhr maßgebliche Inspiration während weinseliger Stunden im Entspannungs-Etablissement. Für viele große Geister war Muße die wichtigste Muse. Mit Fug und Recht hängte deshalb der Dichter Saint-Pol-Roux, sobald er sich zum Mittagsschlaf niederlegte, das Schild vor die Tür: „Poet bei der Arbeit“.

Da wir dank neuester Hirnforschung nun wissen, dass erst Ausschlafen und Müßiggang –  also Nichtstun und Faulheit – Ordnung und damit Klugheit ins Oberstübchen bringen, empfehlen wir  Politikern und Managern, ihre Terminkalender zu entrümpeln. Was nutzt es, wenn sie 14 oder 16 Stunden ackern, aber mangels Mußephasen sowieso nichts Gescheites dabei rauskömmt. Was uns selbst angeht, dürften viele bald feststellen: Wir haben das Nichtstun verlernt. Ein mit leistungsorientierten Freizeitaktivitäten prall gefüllter Feierabend- oder Urlaubsplan ist so wenig Nichtstun, wie sich mit stundenlangem Fernsehkonsum zu malträtieren. Das mag sich zwar etwas angenehmer anfühlen als reguläre Arbeit, das Gehirn allerdings macht keinen großen Unterschied zwischen Broterwerb und Freizeitmaloche. In den Offline-Modus kann es hier wie da nicht schalten.

„Weshalb es“, so das ätzende, aber durchaus logische Resümee von Freund Walter, „kaum weiters verwundern darf, dass der heutige Zeitgeist eine große Dummheit ist: Es fehlt ihm einfach die Klugheit schaffende Kulturtechnik der Faulheit.“   

Quergedanken Nr. 59

Heiliges Kanonenrohr, war das ein Jahr. „Tilt! 2009“ überschrieb Schandmaul Priol seinen  Rückblick. Man kennt „tilt“ als Notwehrmaßnahme von Spielautomaten gegen giergeifernd auf sie einschlagende Spieler: Die Maschinchen verweigern mit dem Alarmhinweis „tilt“ den Dienst; der Einsatz ist futsch. Man muss Geld nachwerfen und kann mit etwas Glück ein neues Spiel beginnen. Oft ist auch dieser Einsatz vergeblich, weil der Apparat repariert oder gar verschrottet werden muss. Dann murmeln die Spielsüchtigen was von „Drecksmaschine“ – und fallen sabbernd, glotzäugig, mit glühenden Backen über den nächsten Automaten her. Passt doch prima auf 2009. Neue Hausordnung und strengere Gewerbeaufsicht für die Spielhöllen waren versprochen. Wir warten noch. Die Suchtbolzen nicht. Sie bekamen aus unserer Börse die Einsätze erstattet und frisches Spielgeld dazu. Ein Lob auf so viel Fürsorglichkeit, wäre doch das Wall-Street-Casino heute aus eigener Kraft ebenso wenig überlebensfähig wie es einst das moskowitische Pfandleihhaus war.    

Bundestagswahlen. Das Volk hat sich eine neue Regierung gewählt.  „Tilt!!“, blafft  Walter vom Küchentisch her, wo er über seltsamen Berechnungen brütet. Tilt, wer? „Wahlvolk, Regierung sowieso“, knurrt er. So geht das schon Monate, sobald die Rede aufs Polit-Personal kommt. Mit „hör uff, ich krieg die Krätze“, lehnt der Freund seit der Saar-Koalition jedes Gespräch über die Grünen ab. Zum Regierungsantritt Westerwelles: „Bringe dem Mann bloß niemand bei, was ,für unser Land' auf englisch heißt; die Übersetzer würden arbeitlos.“ Zur beliebtesten Politikerin: „In Frankreich ist das seit 1789 ein stürmisches Prachtweib mit Jakobinermütze und Gewehr auf der Barrikade. Bei uns: Angela Merkel.“ Zu den neuen SPD-Hoffnungsträgern: „Gut genährt, beide.“ Beide? „Gabriel und die Eifel-Walküre.“ Ach Walter, hast du kein gutes Wort mehr?  „Doch, zwei sogar: 1. Deubel, 2. Jung.“

Nachvollziehbar ist des Freundes Verdruss schon. Man denke an den Wettbewerb um den Großen Preis von Nürburg. Der SV Sozi-Beck stürmt selbstbewusst über unsicheres Terrain. Die Gegenmannschaft von Union Baldauf setzt mit der bei TuS-Koblenz abgeschauten Offensivstrategie nach. Dank einer neuen, reizenden Galionsfigur kann sie ein paar Zentimeter aufholen. Doch was ist das? Unionsrammbock Billen bläst zum Sturmlauf – und reitet seine Mannschaft mit perfiden Fouls dahinein, wo die Beckschen Ring-Kämpen schon stecken: bis zur Halskrause im Sumpf. Welch ein dröges Spiel!

Was rechnet Walter da am Küchentisch herum? Er kalkuliert, ob er ins Fährgeschäft einsteigen soll. Die Idee kam ihm beim Aktenstöbern und Belauschen von Gesprächen unter Koblenzer Stadthonoratioren. Da fielen ihm nebenbei Planänderungen für den Geschäftsbau auf dem Zentralplatz auf. Der Bau folgt fortan Potemkinscher Architektur: Statt Fensterwänden kriegt er obenrum eine Billigverkleidung, die als größtes Weinlauben-Imitat Deutschlands berühmt werden könnte. Wichtigste Erkenntnis aus Walters Spioniererei ist allerdings: Koblenz wird  Insel. ??? „Investitionsstau. Pfaffendorfer Rheinbrücke und B9-Moselbrücke sind zeitgleich überreif für Generalsanierungen mit Vollsperrung. Wenn nächstes Jahr obendrein die Konzession für den städtischen Nahverkehr europaweit ausgeschrieben werden muss und der bisherige heimische Betreiber womöglich von Polen oder Spaniern ausgebootet wird –  dann ließe sich mit Fährdienst schön Geld verdienen.“

Kummer macht ihm nur noch die derzeit durch einige  Bürokratenhirne spukende Idee einer „Gestaltungssatzung“ für die Gastronomie an der Rheinpromenade. „Gleichgeschaltetes Aussehen der Terrassen. Kneipen in Uniform. Fehlt bloß noch eine amtliche Bekleidungsvorschrift für die Gäste, dann wär mein Fähr-Konzept vollends im Eimer.“  

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