Vom Glück, ein Eis zu essen

Quergedanken Nr. 52

Menschen in den Straßen der Stadt. Sagen wir, an einem Frühsommertag in Koblenz. Ein buntes Völkchen. Dicke, Schlanke; Junge, Alte; Schöne, weniger Schöne; Wichtige, Normale; Eilige,  Gemächliche. Dazu solche, die das eine sind, doch das andere gern wären. Und stets einige, die in der festen, aber irrigen Überzeugung herumlaufen, das andere zu sein. Die sind dann peinlich. Sobald allerdings Sonnenlicht sich über die Stadt ergießt, bringt ein kollektiver Lustanfall  das Gewusel aus dem Tritt: Lust auf Eis. Am Stiel, im Becher, vor allem in der Waffeltüte. Ein Begehren so mächtig, dass selbst Freund Walter geduldig mitmacht, was er sonst kategorisch verweigert: Schlangestehen – vor einer der jüngst zahlreich gewordenen Theken, in denen sich kühl vertraute bis nie für möglich gehaltene Kreationen türmen.

Nein, es soll hier nicht die verkaufsfördernde Wirkung von Eis-Bergen in Schlaraffenland-Dimension erörtert werden. Lust und Verführung gehören nun mal zusammen wie Nacktheit und Wäsche. Wer wollte schon gegen gelegentliche Verführung polemisieren, wenn man sie nur merkt und auch was davon hat. Wie beim Eis offenkundig der Fall. Denn Tüte oder Becher erstmal in der Hand, passiert dies: War einer eben noch geschäftig dahergeeilt, lässt er nun den Fuß vom Gas. Laufen wird Gehen, Gehen wird Schlendern. Er/sie will das Tete-a-Tete mit süßen Kugeln oder sahniger Creme auskosten, nicht sich beim beiläufigen Quickie verschlucken.

Selten isst jemand Eis gegen den Hunger. Eis-Essen ist ein Akt ungebundener Lust, ein Luxus, den man sich gönnt. Niemand braucht die kalte Süßspeis' zum Überleben. Aber was wäre das Leben ohne sie? Weshalb auch der fixeste Bratwurst-Verschlinger oder Döner-Verdrücker sich fürs Eis etwas Zeit nimmt. Lecken, saugen, schlürfen, schlozen, auch mal kabbern oder frech zubeißen – von links, von rechts, von oben, von unten. Deshalb ist Speiseeis an Sommertagen ein großartiger Entschleuniger: Rund um die Eistheken beruhigt sich der Lauf des Lebens signifikant. Deshalb ist Eis auch ein großer Gleichmacher: Ob Prolet oder Oberbürgermeister (nebst Kandidaten), mit der Tüte in der Hand werden alle geduldiger, gelassener, erträglicher. Genuss will Weile haben, Zuwendung und Hingabe.

„Natürlich, du Schönschwätzer, andernfalls saut man sich doch rundum ein.“ So Walters  Statement zum Thema. Er kennt sich aus mit dem in der Sonne rasch inkontinenten Element; sein Vater erzählt gerne: Den hätten wir mit Eis großziehen können, wär' das nicht jedesmal eine solche Schweinerei gewesen. Vielleicht rührt daher, dass ein im Umfeld der Eisdielen ganz normaler Vorfall den Freund stets aufs Neue erschüttert. Da hält ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge freudestrahlend seine Waffeltüte mit einer Eiskugel drin/drauf in der Hand. Das süße Wunderwerk fest im Blick wird zweimal genüsslich geleckt. Dann lenkt das Getriebe der Straße oder die Mahnung der Eltern „pass auf!“ die  Augen für einen Moment ab: Gleich kippt die kleine, um die Tüte geschlossene Faust zur Seite –  und, platscht, liegt die Eiskugel im Dreck.

Das Kind starrt erst erstaunt auf die leere Tüte in seiner Hand, dann fassungslos auf den Flatsch zu seinen Füßen, schließlich flehentlich zu Mama, Papa, Oma oder Opa. Für den kindlichen Eisfreund   geht in diesem Augenblick nicht weniger als die Welt unter. Und mit den ersten Tränen schießt ihm die ewige Frage des Unschuldigen nach dem „Warum“ aus den Augen. Vielleicht ist es diese von fast jedem einmal gemachte Kindheitserfahrung, die uns bis ins Alter treibt, eine uralte Kulturtechnik auszuüben: konzentrierte Hingabe an einfaches, nutzloses, aber lustvolles Tun – wenigstens noch ab und zu beim Eis-Essen.

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