Grenzen der absoluten Herrschaft
Trotz Gottesgnadentum mussten die Kaiser des Mittelalters nach Konsens streben
ape. Um Weihnachten im Jahre des Herrn 1105 geschah nahe Mainz Bemerkenswertes: Heinrich IV. aus dem Geschlecht der Salier, seit 1084 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wurde auf Burg Böckelheim gefangen gesetzt. Auf wessen Befehl? Den des eigenen Sohnes, Heinrich V. Am 31. Dezember 1105 zwangen dann die Fürsten den Vater bei einer Zusammenkunft in Ingelheim zur Abdankung und wählten den Sohn am 5. Januar 1106 zum Nachfolger. Der Mainzer Erzbischof Ruthard salbte ihn und überreichte ihm die Reichsinsignien. Nach heutigem Verständnis könnte man formulieren: Der Sohn hatte gegen den Vater geputscht – unterstützt von Fürsten und Klerus. Gerade für das Mittelalter war das ein ungeheuerlicher Vorgang, denn die Könige und Kaiser galten seit der vom Papst gesegneten Krönung Pippins des Jüngeren 791 zum Frankenkönig als „dei gratia“ zur Herrschaft ermächtigt, durch Gottes Gnade. Pippins Sohn, Karl der Große, übernahm dieses Prinzip des Gottesgnadentums, sah ab anno 800 auch seine kaiserliche Herrschaft durch „göttliches Recht“ legitimiert.
Diesem Selbstverständnis, wonach der Herrscher von Gott über seine Untertanen gesetzt sei, fühlen sich fortan alle Könige und Kaiser des Reiches verbunden. Gerade Salier und Staufer leiteten aus dem Gottesgnadentum immer wieder eine Anspruch ab, wonach der weltliche Herrscher einen von Gott gegebenen eigenständigen Herrschaftsanspruch auch unabhängig vom Papst habe. Dummerweise war zugleich aber die Kaiserwürde nach damaligen Verständnis an den rituellen Segen des Pontifex Maximus in Rom geknüpft. Dieses Dilemma beeinflusste die Reichsgeschichte über etliche Jahrhunderte. Und nicht umsonst weigerte sich der Vatikan ebenso lange, für das neue „Römische Reich“ den Zusatz „Heiliges“ zu übernehmen. Das Gottesgnadentum galt bald auch für nachgeordnete Ebenen der feudalen Hierarchie, verfestigt sich zu einer Art Grundprinzip der Macht- und Eigentumsstrukturen. Und das so sehr, dass Martin Luther im 16. Jahrhundert die blutige Unterdrückung von Bauernaufständen durch die Fürsten begrüßte mit der Begründung, dass der Mensch nicht gegen die durch Gottes Gnade festgelegten Herrschaftsverhältnisse revoltieren dürfe. In grundstürzendem Widerspruch dazu stand die u.a. von Thomas Müntzer präferierte und von den Aufständischen begierig aufgenommene Losung „vor Gott sind alle Menschen gleich“.
Das Gottesgnadentum begründete einen Anspruch auf „absolute“ Herrschaft – von den Kaisern des Mittelalters erhoben quasi für den gesamten (weströmischen) christlichen Weltkreis, obwohl ihr Herrschaftsbereich bis zur Eroberung des Königreichs Sizilien durch den Staufer Heinrich VI. anno 1194 auf die Lande nördlich der Alpen begrenzt war. Nicht nur Friedrich Barbarossa konnte sehr ungehalten werden, wenn jemand von ihm als „deutschem“ Kaiser sprach. Der Zusatz „deutsch“ wurde damals als Schmälerung des kaiserlichen Absolutheitsanspruchs verstanden. Weshalb auch erst im späten 15. Jahrhundert sich allmählich die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich „Deutscher Nation“ verbreitete. Allerdings eher selten und nur im gewöhnlichen Sprachgebrauch genutzt; offiziell blieb bis es zum Ende 1806 bei „Heiliges Römisches Reich“ (Sacrum Romanum Imperium. Die Abkürzung SRI findet sich bis heute auf manchem alten Grenz- oder Gedenkstein). Die Betonung des Zusatzes „Deutscher Nation“ ist ein erst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem neuzeitlichen Nationalgeist verstärkt auftretendes Phänomen.
Doch zurück zum Vater-Sohn-Zwist der salischen Heinriche IV. und V. . In diesem Konflikt „prallten zwei verschiedene Formen von Herrschaft aufeinander“, schreibt der Heidelberger Mittelalterspezialist Bernd Schneidmüller im Begleitbuch zur von ihm wissenschaftlich geleiteten aktuellen Ausstellung „Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht“ im Landesmuseum Mainz. Sohn „Heinrich V. wollte im Bund mit jungen Fürsten die salische Dynastie nach mehr als dreißig konfliktreichen Jahren gegen einen aus dem Ruder gelaufenen kaiserlichen Vater retten. 1105 stand das Reich vor den Scherben einer Kaiserherrschaft. Sie hatte sich im Kampf mit Päpsten und Reformkirche zerrieben und den Konsens der Fürsten verloren.“ Schneidmüller verweist damit vor allem auf zwei fatale Begleitumstände, die das Gottesgnadentum-Prinzip während der Regierungszeit des schon in jungen Jahren auch gegenüber den Fürsten schroff und autoritär auftretenden Heinrich IV. zugespitzt mit sich gebracht hatten.
Erstens das permanente Ringen zwischen Papst und Kaiser, also zwischen kirchlicher und weltlicher Macht um die Vorherrschaft im Christenreich. Zum völligen Bruch kam es als Papst Gregor VII. verkündete, allein dem Papst komme als Nachfolger Petri der gesamte Vorrang auf Erden zu, in geistlichen wie in weltlichen Dingen, und jeder müsse ihm als Gottes Stellvertreter auf Erden gehorchen. Woran Heinrich IV. nicht im Traum dachte. Weshalb ihn Gregor 1076 aus der Gemeinschaft der Christen ausstieß und sämtliche Heinrich geleisteten Treueide der Untertanen aufhob. Im Gegenzug forderte Heinrich IV. nachdrücklich den Rücktritt des Papstes. Ein vergebliches Unterfangen, das schließlich zur zweiten Fatalität führte: die Fürsten wandten sich gegen den Herrscher. „Der fragile Verantwortungsverbund von König, Kirche und Adel brach auseinander“ erklärt Schneidmüller. Als letzter Ausweg zur Rettung seiner Krone blieb Heinrich nur noch die bedingungslose Auslieferung an die Gnade des Papstes in Form des legendären Bußgangs nach Canossa.
Der so gestiftete Burgfrieden währte bekanntlich nicht lange. Doch eine Gruppe ging gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervor: die Fürsten, die nun in monarchischen Krisen die Verantwortung für das Reich übernahmen. „Ihr Anspruch auf die Wahl des Königs spiegelte das neue Kräfteverhältnis. Keine Dynastie im Reich vermochte sich diesem konsensualen Fundament mehr zu entziehen“ (Schneidmüller). Die Fürsten spielten eine entscheidende Rolle beim Sturz Heinrichs IV. 1105/6 und der Inthronisation seines Sohnes, sie würden 15 Jahre später auch Kaiser Heinrich V. zwingen, mit dem Wormser Konkordat den Epochenkonflikt zwischen Papsttum und Kaisertum (vorerst) zu lösen. Womit wir auch beim zentralen Blickwinkel wären, mit dem die Mainzer Ausstellung die Mittelalterepoche von Karl dem Großen bis Barbarossa betrachtet. Der gilt dem Konsensprinzip in diesem Reich als fluidem Konglomerat sehr vieler Partikularinteressen bei nur sehr wenigen zentralen Staatsinstitutionen.
Die bis heute verbreitete volkstümliche Vorstellung vom mittelalterlichen Kaiser, der ganz nach eigenem Gutdünken qua Befehl verfahren konnte, sie ist de facto falsch. Als „erfolgreich“ erwies sich vielmehr jener Herrscher, dem es gelang, im Prozess der Reichspolitik die divergierenden Interessen diverser Stände, Gruppen, Regionen, Personen einigermaßen auszugleichen. Schlechte Karten hatte indes jener König/Kaiser, in dessen Regierungszeit „die Großen“ des Reiches allzu oft allzu heftig einander an die Gurgel gingen oder sich im Extremfall gar gegen den Throninhaber zusammenschlossen. Die Konsensherstellung war ein permanenter, auch mit einer Vielzahl symbolischer Kommunikationsakte verbundener Prozess. Wer jeweils wo in der Rangfolge „der Großen“ des Reiches stand, das konnte – vornehmlich bei Hoftagen – durch Titelvergabe, Grußformen, ja selbst durch die Sitzordnung an der höfischen Tafel oder beim Ritterturnier bekundet werden.
Neben dieser dem Adel und der hohen Geistlichkeit vorbehaltenen zentralen Ordnungsstruktur entwickelten sich im Laufe des Mittelalters neue, nicht zuletzt ökonomische Machtfaktoren: aufstrebende Städte wie Speyer, Worms, Mainz, Köln mit einem selbstbewussten Bürgertum; jüdische Gemeinden mit hochgebildeten und international bestens vernetzten Mitgliedern; große und wirtschaftlich bedeutende Klöster, deren Äbte sich fast von niemandem dreinreden ließen; schließlich ab dem 11. Jahrhundert auch die neue Schicht der „Ministerialen“, Spezialisten für Zivilverwaltung und Krieglogistik, die von unfreien Angestellten zur politisch einflussreichen Kaste aufstiegen. Sie alle wollten und mussten in das Konsensbemühen des Herrschers eingebunden sein. Doch sie alle zusammen machten keine 10 Prozent des Gesamtbevölkerung aus. Mehr als 90 Prozent waren rechtlose Bauern – auf deren Rücken sich das „weltgeschichtliche“ Tun der kleinen Großen, der Großen und des ganz Großen abspielte.
Andreas Pecht