Neuwieder Gotteshaus wird freier Kunstraum

Matthiaskirche für „Projekt ION“ leergeräumt – Von 1. bis 28. September Kreativwerkstatt, Bühne, Inspirations- und Dialogort

ape. Neuwied. „40 Freiwillige werden helfen. Wir räumen alles raus: Sämtliche Kirchenbänke, Wandbilder, bewegliche Skulpturen. Nur die fest eingebauten Altäre und die große Klais-Orgel bleiben. Ansonsten wird der Raum leer sein. 19 000 Quadratmeter Leerraum.“ So beschreibt Oliver Seis mir beim Ortstermin in der Neuwieder Matthiaskirche den räumlichen Aspekt des „Projekts ION“ – in dessen Verlauf sechs Künstler unterschiedlicher Sparten die ausgeräumte Kirche für eine Weile vereinnahmen und „bespielen“ werden. Was der 39-jährige Kaplan der katholischen Pfarrgemeinschaft Neuwied und Projektleiter für ION so gelassen ausspricht, bedeutet eine Menge Arbeit. Das ist unschwer erkennbar bei unserem Besuch einige Tage vor Beginn der Aktion in dem da noch vollständig ausgestatteten, spätgotischem Stil folgenden und unter Denkmalschutz stehenden Gotteshaus aus dem Jahr 1901.

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So vermeintlich rüde wie auf diesem gestellten Foto vor der Neuwieder Matthiaskirche geht es beim tatsächlichen Ausräumen von 101 Kirchenbänken natürlich nicht zu. Foto: Thomas Sorger

Denn St. Matthias ist eine der größten Kirchen in der Region; 101 Kirchenbänke sind abzumontieren, rauszutragen und in eine Lagerhalle außerorts zu transportieren. Ein paar der kleineren Seitenbänke fehlen schon, stehen als werbende Botschafter für ION in Geldinstituten, Bildungsstätten, Cafés. Eine hatten unlängst Ministranten der Gemeinde mit zur Wallfahrt nach Rom genommen. Sie hätten gern den Papst darauf gesetzt und fotografiert. Doch der vatikanische Sicherheitsdienst war wenig amused, als die Deichstadtministranten mitsamt Kirchenbank Einlass zur Audienz beim Pontifex Maximus begehrten. Die Bank musste draußen bleiben.

Wenig amused sind auch einige konservative Gemeindemitglieder in Neuwied über das ungewöhnliche Projekt in ihrer Kirche, räumt Seis ein. Einer meint, die Leute sollten gefälligst beten und keinen Firlefanz veranstalten. Ein anderer beklagt, dass man ihm den seit Jahrzehnten angestammte Platz in der Kirche buchstäblich unterm Hintern wegziehe. Der Kaplan in weltlicher Kluft aus Jeans und kariertem Hemd erklärt indes (sinngemäß): Wie die Zeiten sich ändern – und die Gemeinden anhaltend schrumpfen –, so muss auch Kirche neue Formen und Wege erproben, finden, gehen, um die Menschen von heute zu erreichen. Weshalb ION, so ungewöhnlich und vielleicht gewagt die Unternehmung manchem erscheinen mag, doch beträchtlich Unterstützung und Zuspruch aus Gemeinde und Öffentlichkeit erfährt. Der Gemeindepfarrer Thomas Darscheid (55) hat höchstselbst das Projekt in Auftrag gegeben und ist engagiertes Mitglied des siebenköpfigen Projektteams aus Kirchenvertretern und örtlichen Kulturschaffenden.

Sogleich jedoch unterstreicht Seis: „ION ist kein Missionierungsprojekt, sondern ein Kunstprojekt. Aber Kirche und Kunst verbindet viel miteinander.“ Der seit zwei Jahren in Neuwied Dienst tuende Geistliche bezieht sich auf bisherige Erfahrungen mit zeitgenössischen Kunstausstellungen oder Tanzperformances im Gotteshaus. Musikalische Orte sind die Gotteshäuser ohnehin schier seit Anbeginn der Christianisierung Europas. Wir sprechen über das ganz eigene Gespür, das Künstler oft haben auf Feldern, die auch heutiger Kirche besonders am Herzen liegen: Befindlichkeiten und Entwicklungen der Gesellschaft; Verlorenheit, Sinn- und Haltsuche Einzelner; Bedürfnis nach Beruhigung durch kontemplative. meditative Versenkung; Freude am gemeinsamen Tun, am konzentrierten Sehen, Hören, Fühlen, am gelösten Feiern …

Wie aber wird ION konkret aussehen? Das kann Oliver Seis nur für die erste, die Prologwoche (1.9. – 8.9.) sagen. Sie wird vorwiegend von Neuwieder Künstlern und Ensembles in teils ungewöhnlicher Form gestaltet mit Konzert, Vortrag, Workshop, Poetry Slam, Performances im Kirchenraum und Aktionen außerhalb. Ab 9.9. nehmen dann für drei Wochen sechs eigens engagierte auswärtige Künstler verschiedener Sparten St. Matthias ein. Die da wären: Nathalia Grotenhuis (Schlagwerk/Klangkunst), das Gespann Berit Jäger (Foto/Video/Installation) und Joachim Schneider (Komposition), Paula Müller (Zeichnung/Malerei), Andreas Reichel (Malerei/Installation) sowie Jana Schmück (Tanzperformance). Hinsichtlich dessen, was diese sechs dann mit 19 000 Quadratmetern kirchlichem Leerraum anfangen, erklärt Seis: „Ich weiß nicht, was da kommen wird. Wir schaffen mit der ausgeräumten Kirche nur einen besonderen Rahmen, eine völlig offene Möglichkeit. Was die Künstler damit machen, liegt ganz in deren Händen.“

Was meinen eigentlich die drei Buchstaben ION? Die sind eine Anleihe bei der Naturwissenschaft und werden auf der Projekt-Website so erklärt: „Ein Ion ist ein aufgeladenes Teilchen, das sich in Bewegung setzt. Wir wollen auch etwas in Bewegung bringen. (…) Platz für Neues und Aufregendes soll geschaffen werden.“ Es wird in der Tat spannend sein, zu erleben, wie die Künstler diesen Rahmen nutzen. Wie und wozu sie sich von einem Raum inspirieren lassen, der einerseits eine gewaltige leere Halle sein wird, andererseits allein schon von der baulichen Gotik-Struktur her doch seinen Charakter als dem Himmel zustrebendes Gotteshaus behält. Wer mag, kann den künstlerischen Schaffensprozess während der beiden „Wochen des Wirkens“ (9.9. – 22.9.) umstandslos live am Ort des Geschehens beobachten. Können Besucher auch selbst mitwirken? „Das müssen Künstler und Interessierte miteinander besprechen“, sagt Seis. „Wir machen da keine Vorgaben.“ Jedenfalls ist St. Matthias tagtäglich von 9 bis 21.30 Uhr geöffnet. Dies auch in der „Woche der Präsentation“ (23. – 28.9.), während der die künstlerischen Schaffensergebnisse tagsüber sowie bei abendlichen Veranstaltungen zu sehen und zu erleben sein werden. Sämtliche ION-Veranstaltungen sind eintrittsfrei.

Wie sich die ION-Sache im Laufe des September entwickeln wird und was dabei herauskommt, weiß vorab niemand. Das ist nunmal so bei freien Prozessen des Kunstschaffens – und eben dies macht ein derartiges Projekt auch so spannend. Pfarrer Darscheid erklärt dazu: „So etwas habe ich noch nicht erlebt in Neuwied. Ich freue mich riesig darauf. Es soll ein großes Fest werden und ein Experiment zugleich und eine Anregung und ein Dialog und ein Weg und ein … Alles kann, nichts muss.“ In diesem Sinne sei der ungewöhnlichen, mutigen, interessanten Unternehmung gutes Gelingen gewünscht.

Andreas Pecht

Infos: www.projekt-ion.org   

Erstveröffentlichung in einem Pressemedium außerhalb dieser website 34./35. Woche im August 2018

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