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2008-11-15 Analyse/Kommentar: | |
Schülerstreiks, Studentenprotest, Lehrerfrustration und die Unlust der Kultusminister an den Hauptschülern Bildungsoffensive in schwerer See |
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ape.
Beträchtliche Unruhe an der Bildungsfront vergangene Woche: Bundesweit
demonstrieren Schüler und in Trier Studenten gegen miserable
Lernbedingungen. Zeitgleich wird bekannt, dass die
Kultusministerkonferenz (KMK) die Hauptschüler wegen befürchteter
schlechter Leistungen vom Vera-Test ausschließen will. Sind das die
üblichen Geburtswehen einer großen Reform? Oder sind es die Folgen
einer "Bildungsoffensive", die hohe Erwartungen weckt, aber nicht
erfüllt? |
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Die
Zukunftsdiskussionen der zurücklegenden Jahre haben im kollektiven
Bewusstsein Deutschlands Bildung als Aufgabe von höchster Priorität
verankert. Das für den einzelnen Menschen wie für das Bildungswesen in
seiner Gesamtheit. Keine Partei und kein Verband, die nicht in dieses
Horn stoßen würden: Wir brauchen mehr, bessere und lebenslange Bildung!
Vor solchem Hintergrund ist es natürlich, dass Öffentlichkeit und
Betroffene die Messlatte hoch legen. Mit Argusaugen wird verfolgt,
welche Wirkungen die allseits ausgerufene Bildungsoffensive nun im
Alltag der Schulen und Universitäten zeitigt. Schüler, Studierende,
Lehrer und Eltern scheinen vorerst davon eher wenig begeistert. (Vgl. dazu auch Forsa-Umfrage November 2008 für den "Stern": Danach meinen nur 2 Prozent der befragten Eltern, das deutsche Schulsystem habe sich in den vergangenen Jahren "deutlich verbessert", 27 Prozent sagen "etwas verbessert". Für 40 Prozent hingegen ist alles beim alten geblieben, 17 Prozent meinen "etwas verschlechtert", für 8 Prozent hat sich unser Schulwesen sogar "deutlich verschlechtert".) Es gibt eine Kluft zwischen dem von amtierenden Kultuspolitikern verbreiteten Optimismus über das Erreichte und dem realen Alltag in den Bildungsanstalten. Augenscheinlich macht es dabei keinen großen Unterschied, wer in welchem Bundesland gerade das Sagen hat. Die Proteste von Zehntausenden Schülern am vergangenen Mittwoch richteten sich gegen schulische Missstände gleichermaßen unter rot-roter Regierung in Berlin wie unter schwarz-grüner in Hamburg, bislang schwarzer in Bayern oder einer schwarz-gelben in Baden-Württemberg. Missstände in jedem Bundesland Beklagt wurden überall die gleichen Defizite: Zu wenig Lehrer, zu große Klassen, schlecht ausgestattete Schulen, Unterrichtsausfall etc. Und bei allen Demonstrationen spielte Gerechtigkeit eine große Rolle: Soziale Selektion durch das Schulsystem wurde angeprangert, der Zugang zum Studium unabhängig vom Geldbeutel der Eltern gefordert. Das sind gute Gründe, dem couragierten Engagement unserer Schüler mit Respekt zu begegnen, statt sie bloß in bürokratischer Kleinlichkeit wegen „Schuleschwänzens“ abzustrafen. Denn sie nehmen auf ihre eigene Art einfach ernst und beim Wort, was man ihnen seit Kindertagen predigt: Wer in der globalen Moderne bestehen will, dessen Bildung kann gar nicht gut genug sein. Und sie wissen: Das individuelle Hocken auf dem sprichwörtlichen Hosenboden ist dabei nur die halbe Miete; die andere Hälfte hängt nun mal ab von der Qualität des Schulwesens und der Lehrer darin. In Rheinland-Pfalz hat es Bildungsministerin Doris Ahnen - für den Augenblick - mehr mit aufgebrachten Studenten zu tun. Infolge der begrüßenswert ablehnenden Haltung des Landes gegenüber Studiengebühren ist der Andrang auf hiesige Universitäten beträchtlich. Damit resultieren die jetzt bisweilen chaotischen Alltags-Verhältnisse an den schon zuvor nicht eben überreich ausgestatteten rheinland-pfälzischen Hochschulen zumindest teilweise aus dem sozialen Wanderdruck, der von den Studiengebühren in anderen Bundesländern ausgeht. Das ist ein gesamtdeutsches Politikum, das Mainz allein nicht parieren kann. Resignation in den Lehrerkollegien Hausgemacht indes ist auch in Rheinland-Pfalz die Diskrepanz zwischen den schulischen Erfolgsmeldungen des Ministeriums und der realen Unzufriedenheit in den Schulen. Mögen offene Proteste selten sein, so spricht doch für erhebliche Verwerfungen im System, dass 180 Schulleiter- und -stellvertreterstellen derzeit unbesetzt sind. Kein Lehrer will sie haben. Karriere-Unlust ist eine zugespitzte Form von Missstimmung, gar Resignation. Ein derart massiertes Auftreten spricht für ein besorgniserregendes Ausmaß an Frustration in den Lehrerkollegien. So innovativ die rheinland-pfälzische Bildungspolitik im Grundsatz sein mag, so problematisch wird offenbar ihre Umsetzung im Schulalltag empfunden. Folglich unterscheiden sich die latenten Klagen von Lehrern, Schülern, Eltern hier nur wenig von den lauten Protesten andernorts. Etwa dann, wenn die eigentlich gute und in Rheinland-Pfalz lobenswert früh forcierte Idee der Ganztagsschule in der Praxis zum jugend- und familienfeindlichen Irrwitz zu entarten droht. Sei es, weil die Schulen dafür weder mit hinreichender Infrastruktur noch dem nötigen Personal ausgestattet werden. Sei es, weil die um ein Jahr verkürzte Gymnasialzeit bisweilen schon Sechstklässlern ein Arbeitspensum auflastet, das demjenigen eines vollbeschäftigten Erwachsenen entspricht, es gar übertrifft. Werden die Hauptschüler aufgegeben? Die Nagelprobe auf Politik ist der Alltag. Dort manifestiert sich schlimmstenfalls auch ihr Versagen – wie es sich jetzt für die Hauptschulen abzeichnet. Sollten die Kultusminister ihre eben durchgesickerte Absicht weiter verfolgen, die Hauptschulen vom bundesweiten Vera-Vergleichstest abzukoppeln, wäre das ein Ausdruck von Versagen. Denn nach dem Pisa-Schock wurden solche Leistungsvergleiche von der Politik, gegen alle Kritiker, als Mittel zu Hebung der Bildungsqualität angepriesen. Nicht um Leistungsdruck sollte es gehen, sondern um Feststellung der Schwächen und Hilfen zu deren Behebung. Ein Ausschluss der Hauptschulen vom Vera-Test aus Furcht, die Ergebnisse könnten zu schlecht ausfallen, würde diese Argumentation Lügen strafen. Und sie würde zugleich eine ganze Generation von Hauptschülern abschreiben. Was völlig inakzeptabel ist - unabhängig davon, ob man diese Schulart auf Sicht abschaffen will oder nicht. Andreas Pecht (Erstabdruck am 17. November 2008) |
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