ape. Wie zu jedem Jahreswechsel an dieser Stelle: Nachdenken. Hier sind wir, wohin gehen wir? Ein vorerst wertfreier Befund: Im Zentrum der aktuellen Veränderung der Welt steht ein Epochen-Umbruch weg vom Nationalismus hin zu einer umfassenden Internationalisierung aller Lebensbereiche. Hinsichtlich der Sprache erzwingt die beobachtbare Zügigkeit dieses Prozesses die These: In längstens drei Generationen wird Englisch allgemeine Verkehrssprache sein.
Der TV-Reisende Gerd Ruge kauderwelscht im tiefsten Balkan mühselig mit zwei alten Leutchen. Die haben gerade ihre Kuh heimgetrieben. Hinzu tritt die Tochter der beiden. Zwischen der Bulgarin und dem deutschen Journalisten entspinnt sich eine fließende Unterhaltung – man spricht Englisch. Sie verkauft Holz nach Griechenland (also in die EU). Vermutlich sitzt die junge Frau tagsüber am Computer, prüft via Internet die globalen Holzmärkte, wickelt dann per Handy und E-Mail auf Englisch das Geschäft mit ihren EU-Kunden ab.
Die Situation ist symptomatisch für den Balkan, die Ökonomien der ehemaligen UdSSR, die dritte Welt: Vorindustrielle Subsistenz- neben Elementen globalisierter Gegenwarts-Wirtschaft. Erstere spricht in tausend Zungen, letztere Englisch – ob in Russland, China, Ghana oder Bolivien. Englisch ist bereits allgemeine Verkehrssprache der internationalen Wirtschaft und der Wissenschaft, ebenso der See-, Luft- und Weltraumfahrt, der Musik-, der Kino-, der Medienbranche. Und: Englisch ist die „Muttersprache“ des Internets.
Richtung Weltsprache
EU-Beamte kommunizie ren in Brüssel englisch miteinander, wenn sie auf den Fluren oder beim Kaffee zu mehreren den kleinen Dienstweg beschreiten. Je größer die EU, umso stärker wird der Druck in Richtung einer gemeinsamen Verkehrssprache.
Die Tendenz zur Weltsprache wird von mehreren Seiten her verstärkt. Einmal quasi von oben: Die zunehmende Multinationalität der Konzerne erzwingt Englisch als Konzernsprache, die sich Zug um Zug von den Managementebenen nach unten ausbreitet. Ähnlich in der Wissenschaft: Wer mithalten will, muss dem englisch geführten internationalen Diskurs folgen.
Hinzu kommt die subkutane, die „schleichende“ Ausbreitung des Englischen über die multimediale Alltagskultur. Auch wer nie Englisch- Unterricht hatte, verfügt heute über einen beträchtlichen (zumindest passiven) Englisch- Wortschatz. Die Vertreter der neuen Weltsprache verdrängen diejenigen der vorherigen europäischen Adels-, Bildungs- und Revolutionssprache Französisch: Portemonnaie, Kanapee oder Trottoir verschwinden aus dem Volksmund; der macht dafür eifrig von Airport, Business, Power, Show oder Shop Gebrauch.
Etwas völlig Neues ist der spachliche Paradigmenwechsel nicht. Englisch wird die dritte Generalsprache sein, die das Abendland nach Latein und Französisch annimmt. Von seinen beiden Vorfahren unterscheidet das Englische allerdings, dass es sich dabei erstmals um eine multinationale Volkssprache handelt. Neben die genannten wirtschaftlichen und kulturellen Trendverstärker tritt, dass inzwischen in den meisten entwickelten Ländern jeder Schulabgänger (Europa!) englische Sprachkenntnisse vorweisen kann.
Das Imperium Romanum brachte Latein als Herrschersprache über Europa, Kleinasien und Nordafrika. Nach dem Niedergang Roms sicherte das Christentum die Vormacht der Lingua Latina als europäische Elitesprache. Im Zeichen des Kreuzes redeten Kirchenmänner, Fürsten und Gelehrte für Jahrhunderte lateinisch miteinander.
Nach Reformation und Religionskriegen beendete das 18. Jahrhundert das lateinische Sprachmonopol vollends. An den Fürstenhöfen von Lissabon bis Moskau wurde der Glanz des französischen Hofes zum Trendsetter. Wer auf sich hielt, parlierte Französisch – und wer die Welt verändern wollte, tat’s auch: Autokraten, Aufklärungsphilosophen und Revolutionäre redeten in gleicher Zunge über alle Grenzen hinweg (gegeneinander). Französisch war nahe dran, erste allgemeine Verkehrssprache Europas zu werden. Doch dieser Entwicklung kam die Herausbildung der Nationalstaaten und mit ihr die Zersetzung freiheitlichen Aufklärungsgeistes durch Nationalideologien in die Quere.
Moderne oder Steinzeit
Die Folgen sind bekannt: Der Nationalismus führte im 19. und 20. Jahrhundert zu den größten Völkergemetzeln der Geschichte; bis heute befeuern nationalistische und nationalreligiöse Stimmungen die meisten Kriege. Dem könnte die Globalisierung alsbald ein Ende machen (was nicht ihre schlechteste Seite wäre!), denn es steht inzwischen jedes Volk und jedes Land vor der Alternative: Einsteigen in die Internationalisierung – oder zurück in die Steinzeit!
Auslaufmodell Nationalstaat
Dieser Automatismus macht iranischen Mullahs, chinesischen Kommunisten oder balkanischen Despoten ebenso zu schaffen wie amerikanischen Werte-Fundamentalisten oder Deutschtümlern. Globaler Fluss von Kapital und Waren, multinationale Unternehmens-Zusammenschlüsse und Staatsverbünde werden flankiert durch den englischsprachig grundierten und damit nahezu allgemein verständlichen Fluss von Kultur, Informationen und Ideen. Damit entzieht die Globalisierung dem Nationalismus tendenziell seine Basis: „Unser“ Geld, „unsere“ Wirtschaft, „unsere“ Wissenschaft, „unsere“ Kultur, ja sogar „unsere“ Politik – all das gibt es im globalen Dorf als national definierbare Größe immer weniger. Damit stellt die Globalisierung den Nationalstaat selbst als vorherrschende Organisationsform staatlicher Gemeinschaft in Frage.
Es gibt gute Gründe sich über diese Entwicklung sowohl zu freuen als auch zu entsetzten. Der Entwicklung selbst sind unsere Aufregungen freilich völlig gleichgültig. Sie gehorcht stur ureigenen Gesetzen – solange die Menschheit nicht als übereinstimmend vernünftig handelndes Subjekt den geschichtlichen Gang bestimmt. Dass derlei nirgends in Sicht ist, zeigt etwa der Blick auf die erbärmliche Unvernunft des jüngsten Klimagipfels oder die Wahnsinns-Ergebnisse „moderner“ Landwirtschaft oder die Vermarktungs-orientierte Kurzsichtigkeit der Gen-Wissenschaft …
So wird in Sachen Sprache die Entwicklung also höchstwahrscheinlich automatisch dahin treiben, dass in 40 bis 60 Jahren auch auf dem Gebiet des heutigen Deutschland die meisten Menschen englisch sprechen, denken, träumen. Dazu werden meine Enkel ebenso gehören wie die von Abdullah oder Ludmilla.
Was soll man nun davon halten? Für meinen Teil hoffe ich, die Enkel sprechen dann ein gutes, nuancenreiches, ausdrucksmächtiges Englisch, keine Werbe-Comic-Stümmelei. Sollten sie in der Lage sein, Goethes „Faust“ außer in der englischen Übertragung auch im deutschen Original zu verstehen, würde mich das gewiss recht freuen.
Andreas Pecht
Erstabdruck 2. Januar 2001