ape. Alles muss anders werden! Dies war die Maxime im zurückliegenden Jahr, wird es auch im kommenden sein. Die Welt ist mal wieder in Turbulenzen geraten, die bisherige Lebensweisen sämtlich in Frage stellen. Unser traditionelles Neujahrs-Essay bemerkt indes eine fatale Leerstelle in dieser Umbruchsphase: Nirgends sind Ideen, Visionen, Utopien sichtbar, zu welcher Art von Gemeinwesen all die Veränderungen letztlich führen sollen.
Der Sozialismus sowjeti scher Ausprägung wurde 1989 zu Grabe getragen. Er hatte den Kampf der Systeme politisch und ökonomisch verloren: Die Menschen mochten weder die Unfreiheit unter der Parteidiktatur noch die staatsmonopolistische Mangelwirtschaft länger ertragen. Doch im 13. Jahr nach der Wende fällt es zunehmend schwerer, den Kapitalismus als „Sieger“ zu besingen. Es mehren sich Fragen an die Zukunftstauglichkeit der jüngsten Ausprägungen dieser Wirtschaftsweise, die nunmehr unangefochten global vorherrscht – und sich dabei ganz ungeniert mit unterschiedlichsten Staatsformen von der westlichen Demokratie bis zur orientalischen Despotie verbindet.
Die Demokratie ist dem Wesen nach eine voluntaristische Herrschaftsform. Die frei gewählte Staatsführung soll dem in freier Diskussion gebildeten Volkswillen Geltung verschaffen und zugleich die individuellen Rechte der Bürger schützen. Somit hat in der Demokratie vom ideellen Grundsatz her das Primat von Politik und Recht zu gelten.
Nationale Machtlosigkeit
Betrachtet man jedoch die gegenwärtige Entwicklung, so findet man die Politik immer häufiger in der Rolle einer bloßen Reparaturkolonne. Atemlos rennen ihre nationalen Fraktionen hinter der weit gehend eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchenden Maschine Globalwirtschaft her, um nur einige der unangenehmsten Folgen von derem Wirken zu mildern. Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit, Verfall sozialer Strukturen und humaner Werte, Unterwerfung von Wissenschaft und Kultur unter Verwertungsmaximen seien als Stichworte genannt.
Unterstellen wir einmal, dass unsere Politiker und Wirtschaftsführer guten Willens sind, ihr Bestes auch im Interesse des Gemeinwesens zu tun. Wenn sich trotzdem scheinbar unlösbare Widersprüche häufen, können Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Systems selbst nicht ausbleiben. Einige Beispiele:
- Einerseits ist die Notwendigkeit zum öffentlichen wie privaten Sparen augenfällig. Andererseits stürzt Konsumreduzierung die Wirtschaft nur noch tiefer in die Krise.
- Einerseits sollen ältere Arbeitnehmer zwecks Bekämpfung der Arbeitslosigkeit früher in Rente gehen. Andererseits liegt zwecks Sicherung des Rentensystems eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nahe.
- Einerseits war die Produktivität pro Kopf der Beschäftigten nie so hoch wie heute. Andererseits sinkt der Wert ihrer Arbeit in wachsendem Tempo.
- Einerseits schafft unsere Volkswirtschaft mehr „Reichtümer“ denn je. Andererseits ist die Gesellschaft scheinbar so „verarmt“, dass sie das Niveau der Sozialsysteme nicht halten kann.
- Einerseits wäre es vernünftig, die Zahl der Autos auf den Straßen ebenso zu verringern, wie den Ressourcenverbrauch generell. Andererseits wären durchgreifende Fortschritte in dieser Richtung für die Wirtschaft katastrophal.
- Einerseits nimmt im unteren Drittel der Gesellschaft Armut immer mehr zu, wächst im mittleren die Gefahr schnellen sozialen Abstiegs. Andererseits konzentrieren sich im oberen Drittel ständig größere Teile des Reichtums.
- Einerseits beklagen wir den zunehmenden Verfall der Familien. Andererseits erfordert die strukturelle Wirtschaftsentwicklung den allseits mobilen und flexiblen (Wander-)Menschen.
- Einerseits müsste das Wachstum der Weltbevölkerung unbedingt gestoppt werden, andererseits wollen die Industrienationen unbedingt ihre sinkende Geburtenrate wieder in die Höhe treiben …
Wachstum als Staatsziel
Die Liste der Widersprüche ließe sich beliebig verlängern und auf sämtliche gesellschaftlichen Bereiche ausdehnen. Doch es sind heute die wirtschaftlichen Größen, von denen alles Übrige abhängt. Menschenwürde, Freizügigkeit, soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Wohlfahrt und Glück für jeden in einer intakten Umwelt – diese große Utopie, die ureigentliche Sinn- und Zweckbegründung der Demokratie wurde, verliert zusehends ihre Erstrangigkeit in der Staats- und Gesellschaftspolitik sowie in den Köpfen vieler Bürger. Vordergründig noch als ideeller Maßstab hochgehalten, werden diese Grundwerte in Wirklichkeit von den „wirtschaftlichen Zwängen“ des Globalismus mehr und mehr ins Museum für pietistische Nostalgie abgedrängt. Förderung der „Wettbewerbsfähigkeit“ und Steigerung des „wirtschaftlichen Wachstums“ werden de facto zum obersten Staatsziel. Darum ringen nun alle mit aller Macht, mal mehr, mal weniger Erfolg versprechend.
Spätestens an dieser Stelle aber beginnt die Katze sich von hinten her selbst aufzufressen. Denn die Geschichte des „wirtschaftlichen Wachstums“ besteht tendenziell in einer fortlaufenden Anhebung genannter Widersprüche auf höhere Niveaus. Die Wirtschaftszyklen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges brachten einen kontinuierlichen Anstieg des Arbeitslosensockels auf vier Millionen mit sich. Nach dem nächsten Zyklus könnten es fünf oder mehr sein ….
Neues Wachstum, das Besserung für morgen verspricht, ist nur die Vorbereitung einer noch größeren Krise übermorgen. Von der die menschliche Spezies insgesamt gefährdenden Überschreitung der „Grenzen des Wachstums“ mag schon keiner mehr reden. Wer beim Wachstumsspiel nicht mitmacht, schlecht spielt oder als freier Kleinunternehmer im selbstständigen Handel und Gewerbe sowie im Mittelstand schlechte Karten gegen die immer größeren Kapitalballungen hat, der gerät unter die Räder. Weshalb, notgedrungen, alle mitmachen und sich national wie international im Hamsterrad der „Wettbewerbsfähigkeit“ abstrampeln: Der Verlierer von heute konzentriert und rationalisiert, bis er Sieger über seinen Mitbewerber ist; dieser dreht nun seinerseits an der Rationalisierungsschraube …
Die Krux dieses Mechanismus ist, dass einer immer zu Lasten anderer gewinnt – und in jedem Fall zahlreiche Menschen auf der Strecke bleiben sowie riesige Sachwerte vernichtet werden. Recht besehen, funktioniert der Kapitalismus in seiner heutigen globalen Form noch immer nach dem unzivilisierten Gesetz des Stärkeren, nach der Naturregel von fressen und gefressen werden.
Die Kultur- und Geistesgeschichte lässt sich auch als permanenter Diskurs über die Frage betrachten, wie der Mensch diesen archaischen Automatismus überwinden und zu wahrhaft selbstbestimmter Zivilisiertheit fortschreiten kann. Dieser Diskurs hat mannigfache, sinnige wie unsinnige Alternativ- und Zukunftsentwürfe hervorgebracht, von den antiken Staatsphilosophien und diversen Gottesstaat-Ideen über die Vorstellungen der Aufklärer, der humanistischen und der frühsozialistischen Denker oder republikanischen Revolutionäre bis hin zum Versuch einer sozialen Marktwirtschaft als gleichberechtigter Partnerschaft von Arbeit und Kapital.
Womöglich erweist sich auch diese bislang letzte unserer Utopien, die soziale Marktwirtschaft, eben gerade als idealistischer Irrtum. Denn wie die meisten Utopien verlangt auch sie die Herrschaft des menschlichen Willens, in diesem Fall des demokratischen Gemeinwesens, über den Gang der gesellschaftlichen Dinge. Haben wir diese Herrschaft tatsächlich inne? Oder treibt uns nicht eher die Macht des Faktischen in Form der Allgewalt globalisierter Ökonomie vor sich her?
In beiden Fällen darf die Gesellschaft das Streben nach einer besseren Welt nicht aufgeben. Denn wer keine Vorstellung davon hat, was er über den Tag hinaus anstrebt, kann nicht Herr des Verfahrens bleiben oder wieder werden. Doch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben jedwede Utopie diskreditiert und alle heutigen Denker in „Tages- Realisten“ verwandelt oder in den Fatalismus getrieben. Das ist nachvollziehbar – doch ohne Visionen bleibt der Mensch ewig nur ohnmächtiger Spielball der Geschichte.
Der Weisheit letzter Schluss?
Dass die Demokratie eine der besten unter den vorstellbaren Staatsformen ist, steht außer Zweifel. Dass aber der turbokapitalistische Globalismus des frühen 21. Jahrhunderts der menschlichen Weisheit letzter Schluss an Wirtschaftskultur sein soll, das zu glauben fällt schwer. Es wäre gar zu erbärmlich, würde der Homo sapiens seine Zukunft einem Automatismus überantworten, der letztlich einem einzigen Grundgesetz folgen m u s s: Wachsen, wachsen, wachsen – wohin auch immer, das aber zu jedem Preis. Gesucht wird: Eine Perspektive, für die zu streiten sich lohnt.
Andreas Pecht