ape. Seit Pisa ist die deutsche Schul- und Bildungswelt nicht mehr, was sie war. Das zurückliegende Jahr stand im Zeichen großer bildungspolitischer Diskussionen und kleiner Reformansätze. Die Ressource „Geist“ wurde als zentraler Faktor für die künftige Stärke des Standorts Deutschland entdeckt. Doch der Missverständnisse sind viele. Damit setzt sich heuer unser traditionelles Neujahrs-Essay auseinander – vor allem mit dem ärgsten Missverständnis: der neuerlichen Reduzierung von Lernen auf Wissensaneignung.
Kleine Kinder sind eine geballte Ladung aus Neugierde, Entdeckerdrang, Pioniergeist, Lernfreude. Schon der Säugling rückt mit Haut, Mund, Händen seiner unmittelbaren Umgebung zu Leibe. Mit Lust will er sie erschmecken, erfühlen, ertasten, mit Entzücken die Welt ergreifen, sie be-greifen. Und die Erwachsenen ringsumher werden eingespannt in diesen Prozess der Weltgewinnung: Gib mir dies, bring mich dorthin, lehr mich jenes! Liebe und Wärme, Nährung und Reinigung, Spiel, Entdecken und Lernen: der Säugling unterscheidet nicht, für ihn fällt alles ineinander, ist Körperliches, Geistiges, Sinnliches unteilbares Grundbedürfnis; des Lebens Elixier.
Doch irgendwann schon in der früheren Kindheit beginnt dann etwas aus dem Ruder zu laufen. Das eine Grundbedürfnis wird zusehends zergliedert in Pflichten und Normen hier, Liebe, Spiel und Genuss da. Je nach Umgebungsbedingung kommt die Zergliederung früher oder später, fällt schärfer oder weniger scharf aus. Das Bauernkind voriger Jahrhunderte war in Zeiten harten Überlebenskampfes, kaum dass es laufen konnte, schon Arbeitskraft. Das Adelskind hingegen wurde zur gleichen Zeit dem Gesellschafts-Reglement unterworfen. Beiden wurde derart das Kindsein genommen. Kinder galten bis ins 18. Jahrhundert – hier der Not, dort der Norm gehorchend – als noch etwas schwächliche kleine Erwachsene. Es war der französische Zivilisationskritiker und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der erstmals der Kindheit die Bedeutung einer eigenständigen Lebensphase zusprach.
GEISTIGE PFLEGE
Das ist nun gut 250 Jahre her, prägt das Bild vom Kinde als eines zu liebenden, zu hegenden, zu fördernden Schutzbedürftigen mit freilich ganz eigenen berechtigten Interessen und Ausdrucksformen bis auf den heutigen Tag. Die Geschichte der Pädagogik hat folgend zahlreiche Denker und Praktiker hervorgebracht, deren Einsichten und Methoden dieses Verständnis von Kindheit verfeinerten, es schul- und lebenspraktisch zur Anwendung bringen wollten, teilweise gebracht haben.
Philanthropen, spätere Humanisten, Reformpädagogen, bei allen Unterschieden ist vielen von ihnen eine Überzeugung gemein, die sie teilen mit antiken Geistern wie Plato, Aristoteles, Cicero oder dem ersten systematischen Pädagogen der Neuzeit, dem Italiener Piero Paolo Vergerio (1370-1444): Erziehung sei „cultura“ (Cicero), also „geistige Pflege“ im Sinne einer Sorge für das natürliche Wachstum des Individuums.
AUSGANGSPUNKT INDIVIDUUM
Für Vergerio ist Erziehung nicht die Einübung nach einem vorgegebenen Modell, sondern dient der Entfaltung und Vervollkommung der natürlichen Fähigkeiten des Kindes, einer Formung des ganzen Charakters zur reifen moralischen Persönlichkeit. Ausgangspunkt dieser Art von Pädagogik ist immer das einzelne Kind, Ziel dieser Art von Pädagogik ist stets dessen optimale Entfaltung.
Zwischen solchem Anspruch und der schulischen wie auch familiären Wirklichkeit liegen noch heute Welten. Die Diskrepanz rührt nicht allein von der Kluft zwischen pädagogischen Idealen und den Zwängen der Wirklichkeit. So manche Pädagogik begründete einst auch sich ungut entwickelnde, aber bis heute zäh nachwirkende Traditionen. Ihre Wurzeln reichen in die Reformationszeit zurück. Johannes Sturm (1507-1589) entwarf eine protestantische Pädagogik, in der erstmals die noch von Melanchthon geforderte allumfassende, enzyklopädische Erziehung dem Ziel einer „weisen und beredten Frömmigkeit“ untergeordnet wurde.
Sturm war auch einer der ersten, bei dem die rationelle Planung der Lehr- und Lernprozesse herausragende Bedeutung gewann. Auf katholischer Seite waren es fast zeitgleich die Jesuiten, die ihre Zöglinge in Klassen einteilten, die nach einem strengen Stundenplan mit vorgeschriebenen Lehrbüchern und Methoden unterrichteten. Straffe Lehr- und Lernordnung, Bewährungsproben, strenge Prüfungen, standardisierte und religiös ausgerichtete Lehrerausbildung – die Prinzipien der jesuitischen „Kollegs“ (Gymnasium) des 16. Jahrhunderts haben im Schulwesen und dem populären Verständnis davon bis heute wahrscheinlich deutlichere Spuren hinterlassen als alle individualpädagogischen Ansätze zusammen. Die „Lehranstalt“, die Schülern von außen vordefinierte Inhalte, Fertigkeiten, Kenntnisse und Verhaltensmuster beibringt, beibiegt, einbleut hat sich in Deutschland im Grundsatz als überzeitliche Regeleinrichtung behauptet. Von den großen Pädagogik-Reformen vorher und seither sind vor allem Verfeinerungen der Beibieg-Didaktik, formale Humanisierungen im Umgang und psychologische Methoden-Hilfen für den Unterricht geblieben.
Wie tief dieses (Selbst-)Verständnis von Schule als „Lehranstalt“ für abrufbare Wissenskanons und Fertigkeiten sitzt, zeigte im zurückliegenden Jahr etwa der Beschluss der Kultusministerkonferenz, sich auf bundesweit einheitliche Schulleistungstests zu einigen. Pisa hatte bei deutschen Schülern vor allem ein Defizit in selbständiger Denkfähigkeit offenbart. Wie reagiert man hier zu Lande darauf? Was wird als aktuell wichtigster Reformschritt der Nach-Pisa-Zeit gefeiert? Stärkere Zentralisierung, mehr Prüfungen, Erhöhung des Drucks zur Aneignung standardisierten Wissens. Zugespitzt formuliert, verhält sich die Kultuspolitik wie der Volksmund gerne schwatzt: Weil die Anderen besser sind, müssen die Unsrigen eben auf den Hosenboden gezwungen werden und mehr pauken.
Gott sei Dank gibt es auch ein paar klügere Ansätze, etwa das rheinland-pfälzische Ganztagsschulen-Programm, sei es auch noch so mangelhaft. An dem nun freilich wieder gemäkelt wird, dass es während der Nachmittage noch zu wenig „Lehranstalt“ sei, weil ja nicht Stund um Stund durchunterrichtet werde. In der Mäkelei spiegelt sich das alte Missverständnis wider, (klassischer) Unterricht sei das Herz allen Lernens. Falsch, völlig falsch! Eigenes Tun ist das A und O des Lernens: forschen, entdecken, versuchen, nachdenken, besprechen, üben, rekapitulieren, arbeiten, spielen ž einzeln, zu zweien, in der Gruppe, mit oder ohne Lehrer. Die Bedeutung des Klassen-Unterrichts fürs Lernen wird landläufig maßlos überschätzt – wie der Wert von Faktenwissen maßlos überschätzt wird.
Nachgerade hanebüchen ist deshalb auch ein Vorschlag aus der Bayerischen Wirtschaft, künftighin schon vierjährige Kinder „arbeitsorientiert“ zu verschulen. Nicht, weil deutsche Vierjährige nicht lernen wollten. Das Gegenteil ist doch der Fall: Je jünger die Kinder, desto größer ihre Lernlust. Leider hat Pisa für Deutschland zugleich offenbart: Je mehr Schuljahre unsere Kinder auf dem Buckel haben, umso größer wird ihre Lernunlust. Könnte es sein, dass ausgerechnet unsere Art der Schule, unsere „Lehranstalt“ den Sprösslingen die Freude am Lernen austreibt?
VORBILD KINDERGARTEN
Viel besser als das Schulwesen insgesamt stehen unsere Kindergärten und Grundschulen im internationalen Vergleich da. Was ist dort anders als an den Gymnasien? Spielen und Lernen, Entdecken und Erproben, Zuwendung und Förderung, soziales Miteinander und Füreinander, Praxis und Theorie, Zielorientierung und humanbildende Zweckfreiheit sind wesentlich stärker ineinander verwoben als bei den späteren Schulformen. Was bei unseren Kleinen (oder in Finnland bei allen) geschieht, wird oft als „pädagogischer Ringelpietz“ diskriminiert. Die so urteilen, sollten nach Pisa begreifen, dass ein Mangel an „Ringelpietz“ einen Mangel an Geistes-, Herzens-, Kultur- und Sozialkompetenz zur Folge hat. Einen Mangel an Lernerfolg also, der unversehens ins internationale Abseits führt. „Vom Lernen unsrer Jüngsten lernen“, sollte die Devise heißen, denn Kindergarten und teils noch die Grundschule sehen eher den ganzen kindlichen Menschen. Nachher wird aus ihm das Belehr-Subjekt, herzurichten weniger fürs Leben als fürs Berufsleben – und deshalb letztlich für beides nicht recht gerüstet.
Was so leichtfertig als „pädagogischer Ringelpietz“ abgetan wird, ist dem ursprünglich natürlich-lustvollen Lernen angemessener als jede noch so raffinierte Art des Paukens. Und sage keiner, der Nachwuchs scheue bloß die Anstrengung. Man schaue ihnen zu, wie sich anstrengen und placken beim Bau von Sandburgen, Baumhäuschen, Staudämmen. Man erlebe die Wissbegierde und das schweißtreibende Zupackenwollen von Kindern auf dem Bauernhof. Man betrachte den Forschereifer im Schullabor, den Fleiß beim Streetball, das Engagement in der Theater-AG, die Wachheit beim Fremdsprachen-Austausch.
SPANNENDE ALTERNATIVEN
Laschheit, Unlust, TV-Hörigkeit greifen immer dann Platz, wenn keine Alternativen vorhanden sind. Da hilft kein Klagen und kein Verweis aufs Nötige für den ferneren Lebensweg, erst recht nützt die Peitsche nichts: Die Alternativen müssen einfach interessanter sein – jetzt und hier. Das ist die zentrale Herausforderung für die Pädagogik wie für die häuslichen Gemeinschaften.
Wir haben es nicht mit den Kindern von gestern zu tun, sondern mit denen von heute. Die werden durch Bedingungen geprägt, die ihre Eltern geschaffen haben. Also hören wir bitte auf, über eine „missratene Jugend“ zu lamentieren. Und kümmern uns statt dessen darum, dass diese Kinder Lernen als das erfahren, was es vom ersten bis zum letzten Tag des Lebens sein kann: das größte aller Abenteuer.
Andreas Pecht