ape. Fragen der Religion und Religiosität haben sich während des zurückliegenden Jahres in der öffentlichen Diskussion breit gemacht wie lange nicht. Die westlichen Demokratien suchen nach Antworten auf die Bedrohung durch fundamentalistischen Terror und die He-rausforderung durch die Renaissance des Islam. Unser Autor warnt in seinem traditionellen Neujahrs-Essay davor, Gleiches mit Gleichem zu beantworten und so das große Erbe der europäischen Aufklärung zu gefährden.
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Noch vor ein paar Jahren war die Ansicht in der westlichen Hemisphäre verbreitet, Immanuel Kants „Wahlspruch der Aufklärung“ könne alsbald vollends verwirklicht sein. Gedanken- und Glaubensfreiheit waren in den Demokratien selbstverständlich; von Hautfarbe, Geschlecht, sozialer oder ethnischer Herkunft unabhängige gleiche Bürgerrechte für alle hatten Verfassungsrang erlangt. Das abergläubische Mittelalter schien ebenso überwunden wie die Epoche der Religionskriege und die der Klassenkämpfe. Man hielt die Vorherrschaft von Vernunft und Toleranz im Umgang der Menschen und Staaten miteinander für eine realistische Möglichkeit.
Doch binnen gerade mal 15 Jahren werden die Ergebnisse des im 16. und 17. Jahrhundert begonnen „aufklärerischen“ Prozesses von mehreren Seiten in die Zange genommen. Die mit der Revolution des Ayatollah Khomeini im Iran begonnene Renaissance des Islam entwickelt sich nach dem Zusammenbruch des so genannten „sozialistischen Lagers“ weltweit zur zentralen Gegenbewegung wider die globale Expansion der „westlichen Kultur“ und die Vorherrschaft ihrer Industrien. Zeitgleich beginnt im Westen selbst die Umwandlung bisheriger Sozialer Marktwirtschaften in „freie“ Instrumente der Globalisierung. Wiederum fast zeitgleich machen sich auch in den westlichen Gesellschaften längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster breit.
Wieder die Gretchenfrage
Galt eben noch die friedliche, gleichberechtigte Koexistenz von Nationen und Kulturen als weltpolitisch erstrebenswerte Maxime, so greift nun wieder Sendungsbewusstsein um sich. Fühlte man sich eben noch gut aufgehoben als Gleicher in der Gemeinschaft der Völker, so macht sich nun wieder das Drängen nach größer, besser, überlegen breit. Betrachtete man eben noch Religion als Privatsache und die religiöse Neutralität des Staates als Selbstverständlichkeit, so wird auf einmal die Gretchenfrage aus Goethes „Faust“ – „wie hältst du“s mit der Religion“- zum Dauerbrenner nicht nur in der privaten, sondern auch in der öffentlichen, selbst in der staatspolitischen Diskussion.
Als gäbe es den Wertekanon des Grundgesetzes nicht, hallten im zurückliegenden Jahr mannigfach Rufe durch unser Land, dem Drängen diverser Moslems nach Gottesstaaten müsse der Westen die Rückbesinnung auf seine christlichen Wurzeln entgegensetzen. Religiösem Eiferertum mit religiösem Eifer begegnen? Ein solcher Ansatz wäre eindeutig voraufklärerisch. Schon vergessen, was etwa Lessing in seinem Theaterstück „Nathan der Weise“ versucht, seinen Zeitgenossen und den Nachgeborenen ins Stammbuch zu schreiben? Dass der Zwist rechthaberischer und allein seligmachender Religionen nur Unglück über die Menschen bringt; dass noch über dem Recht der Gläubigen die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen steht.
Das Erbe der Aufklärung besagt: Religion kann kein Bestimmungsfaktor für die allgemeine Ordnung eines aufgeklärten Gemeinwesens sein, weil es dadurch für Andersgläubige und Ungläubige zur Zwangsjacke würde. Von 82 Millionen Bundesbürgern gehören 54 Millionen einem halben Hundert verschiedener christlicher Gemeinschaften an. Daneben leben rund drei Millionen Moslems im Land. Von den übrigen 25 Millionen Bürgern ist die überwiegende Mehrheit schlicht religionslos. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung würde von einem wie auch immer religiös definierten Gemeinwesen an den Rand gedrängt, am Ende gar unterdrückt.
In früheren Zeitaltern haben Könige, Fürsten, Grafen ihre Unteranen zu ihrer jeweiligen Religion gezwungen. Dies Prinzip hat schon einmal Europa in Schutt und Asche gelegt. Die Denker und Reformer der Aufklärung machten ihm den Garaus, indem sie vom Grundsatz her Religion zur Privatsache erklärten, und den Staat in den Rang des neutralen Garanten der Würde und Freiheit a l l e r Bürger setzten. Katholik oder Protestant, Moslem oder Buddhist, Esoteriker oder Atheist – gemeinsam sind allen die universellen Menschenrechte sowie die Rechte und Pflichten des Staatsbürgers. Der Privatmann mag seinen Gott über den Gott seines Nachbarn zur Rechten stellen, beide mögen sich privatim für etwas Besseres halten als ihr völlig gottloser Nachbar zur Linken – dem aufgeklärten Staat sind sie alle drei gleich lieb und schutzbefohlen. Einen höheren gemeinsamen Wert als diesen „urhumanen“ kann es auf Erden kaum geben – und anders als bei den Regeln des Himmels bedarf es dazu nicht des Glaubens, sondern „nur“ der Vernunft.
Doch mit dieser geht es neuerdings rapide bergab. Dass die nie von einer der europäischen Aufklärung vergleichbaren Bewegung durchdrungene moslemische Kultur sich schwer tut mit der weltlichen Vernunft, ist eine Sache. Und die wird nicht einfacher durch die Arroganz westlicher Macht und die trübsinnigen Unarten ihrer merkantilen „Kultur“. Die totale Unterwerfung aller Lebenssphären unter die Gesetze von Verkaufbarkeit und Käuflichkeit kann Moslem, Christ und Atheist gleichermaßen in Rage bringen. Im Grabe würden sich die großen Aufklärer von Kant und Lessing über Diderot, John Locke, David Hume bis Rousseau und Voltaire umdrehen, müssten sie nur einen Tag die „Geistigkeit“ von Big-Brother-Containern, Dschungelcamps, einschlägigen Gewalt- oder angeblichen Erotik-Blockbustern erleben.
Vernunft auf dem Rückzug
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ sagte Kant – nicht ahnend, dass Zeit zum Nachdenken einmal als Langeweile begriffen und mit abgeschmackten Zeitvertreiben bekämpft werden würde. Die Aufklärer bauten auf den selbstwussten, informierten, nachdenklichen, aufgeschlossenen, sich in die öffentlichen Belange couragiert einmischenden Bürger. Doch der macht sich rar im frühen 21. Jahrhundert: versinkt im Fernsehsessel; nutzt seine Freiheit zur Wahl unter 22 Telefonanbietern; beweist seine Mündigkeit, indem er sinkende Arbeitseinkommen akzeptiert, zugleich ebenso „vernünftig“ mehr konsumiert, mehr für Krankenversicherung und Altersvorsorge ausgibt (geben soll).
Im Kleinen wie im Großen
Es ist fatal, aber dem Erbe der Aufklärung wird von den Erben der Aufklärung selbst das Wasser abgegraben. Das geschieht im westlichen Alltag, das geschieht auch in der großen Politik. Amerika leistet sich einen Präsidenten, der sein Tun im Inneren wie im Äußeren als göttliche Sendung, damit als sakrosankt und für alle Welt Glück bringend ausgibt. Ein US-Präsident, der meint, im Namen des christlichen Gottes zu handeln – wie der Terrorist Osama bin Laden meint, im Namen Allahs zu handeln. Osama bekämpft Amerika als potenziellen Totengräber der islamischen Kultur, George W. bekämpft den Islamismus als potenziellen Gefährder des American Way of Life. Womit wir wieder bei Lessing wären, denn aus der religiösen Rechthaberei beider Fraktionen erwächst Unheil für beide und für Unbeteiligte. Wobei, wie stets in der Geschichte, zu den religiösen Gründen jede Menge ganz handfester hinzukommen.
Mehr noch: Die Verfestigung der Frontstellung verschärft nicht nur die Formen des „Krieges“, sondern legitimiert die Ausbreitung einer Kultur der Unfreiheit im Innern der verfeindeten Lager. Nie wurden in Amerika Bürgerrechte so massiv abgebaut wie seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Wobei es den Anschein hat, als nutze die jetzige Regierung die Situation auch, um der eigentlich multikulturellen US-Gesellschaft eine nationalistische und christreligiöse Leitkultur überzustülpen. Dafür gibt es im Moment in den Vereinigten Staaten augenscheinlich eine knappe (Wahlstimmen-) Mehrheit. Doch die Durchsetzung hat einen hohen Preis: Die Spaltung des Landes in einen „wertkonservativen“ und in einen liberalen Bevölkerungsteil. Frage: Ab wann empfindet sich Letzterer an den Rand gedrängt oder in die Zwangsjacke gesteckt? Wenn die Evolutionslehre zu Gunsten der Schöpfungslehre aus den Schulbüchern verdrängt wird? Wenn homosexuelle Liebe wieder unter Strafe gestellt wird? Wenn Parlamentarier nur noch werden kann, wer bereit ist, auf die Bibel zu schwören?
Schaden für alle
Ansichten, wonach die Renaissance des Islam die hauptsächliche oder einzige Gefahr für das Erbe der Aufklärung darstellt, greifen zu kurz. Nicht minder schwerwiegend würde sich auswirken, wenn die westlichen Demokratien sich im Gegenzug von ihren bisherigen aufklärerischen Grundsätzen abwenden. Nichts gegen Religiosität! Solange sie dem Andersdenkenden seine Freiheit und die Finger von der Neutralität des Staates lässt. Wer auch immer aus welchem Glaubensgrund auch immer in eine andere Richtung drängt, er schadet letztlich sich und uns allen.
Andreas Pecht