Habe neulich in alten Nummern dieser Zeitschrift geblättert. Die reichen schon ziemlich weit zurück, denn wie die Koblenzer Kulturfabrik in diesem Herbst 25 Jahre alt wird, so das Kulturinfo 20. Beim Blättern also – erwächst plötzlich die Frage: Was haben die Leute hier zu Lande vor 20, gar 30 oder mehr Jahren den Sommer durch eigentlich getrieben? Die historischen Veranstaltungskalender und das eigene Gedächtnis legen nämlich den Befund nahe: Verglichen mit heute herrschte damals im Juli und August geradezu tote Hose – lassen wir die allweil munter begossene Feuerwerksbeschießung von Burgen und Schiffen mal außer acht, die heuer zum 50. Mal (13.8.) den Rhein entflammt.
Wie war das, seinerzeit, als unsereins jung und schön an die heutigen Jungen und Schönen noch nicht dachte, sie gerade zeugte, gebar oder in Windeln wiegte? Da war Bayern dem Mittelrhein weit voraus mit seinen Biergärten allüberall, da hatte das Freiluftcafé am innerstädtischen Straßenrand hier noch Seltenheitswert. In ganz Mayen soll es anno 1975 zwei Wirtshaustische draußen vor der Tür gegeben haben. Koblenz kam wohl nur dank seines Kaffee & Kuchen-Angebotes am Schiffsanleger sowie der Heimatverbundenheit seiner italienischen Eisdiele auf ein paar mehr.
Und wo bitte waren die Leut´? Im Schwimmbad, bei der Stadtranderholung, auf Balkonien, vielleicht mal in einem der damals noch vier Kinos in der Koblenzer Innenstadt. Aber die meisten waren ohnehin – verreist. Wer irgend konnte, machte fort von daheim, Otto Normal-Mittelrheiner bevorzugt gen Nord- und Ostsee, mehr noch nach Österreich, Italien, Spanien. Was links, hippiesk, alternativ oder sonstwie seltsam angehaucht war, begab sich im Klappervehikel auf den Trip nach Südfrankreich oder Jugoslawien, um am Strand noch einmal diskursiv auszuvögeln, was beim letzten Lambrusco-Gelage in der WG-Küche längst klar war: Dass es so nicht weiter gehen kann, mit der Welt.
Und es ist ja dann tatsächlich auch alles anders gekommen. Das Barbecue wurde aus us-imperialistischer Fremdherrschaft befreit und als Grillfete mit (rheinischem) Spießbraten zu einer Kulturtechnik höherer Ordnung sozialisiert. Wer es nicht glaubt, schlage im Duden unter „Barbecue“ nach. Der Internationalismus siegte auf breiter Front: Man besäuft sich am Rhein (auch) italienisch und spanisch; isst (auch) griechisch, asiatisch, türkisch; liebt (auch auf) die französische Art… Die Nächte von St. Marie und Rimini sind europäisch vergesellschaftet – nur dass hierorts der Volksgesundheit wegen um Mitternacht der Außengastronomie amtlicherseits Bettruhe verordnet wird.
Nachhaltig wirksam die große Kulturrevolution. Der Marathon ist nicht länger Privileg einer auserwählten Sportlerkaste; bei dessen Schleifung wirkten jüngst am Mittelrhein selbst Staatssekretäre und Kulturdezernenten im Schweiße ihres Angesichtes mit. Davor, danach und sonst auch wird in, an, auf sämtlichen Gemäuern, Straßen, Plätzen sowie in Wald und Flur Theater gespielt, auf jede erdenkliche Art in friedlicher Koexistenz musiziert und gefeiert. Wo Kunst und Kultur in derartiger Fülle entstanden und Gemeineigentum geworden sind, darf die Befreiung vom Joch des Sommerlochs bejubelt werden. Selbst die Staatsräson konnte sich dieser Hauptströmung in der Geschichte nicht verschließen und verlegte darob den Bundeswahlkampf in die Sonnensaison. Womit in summa die Urlaubsfahrt weg von hier nur mehr ein dem Untergang geweihtes Relikt finsterer Vorzeit wäre.
Freiheit ist ein beglückender, aber bisweilen auch anstrengender Zustand. Die Qual der Wahl will durchgestanden sein, sowohl bei der neuen Parteienfülle wie beim Angebot an Sommerkultur. Für den 18. September im Bund verbietet sich an dieser Stelle selbstredend eine Wahlempfehlung. Fürs erste Augustwochenende in der Region hätte ich allerdings eine: das internationale Gaukler- und Kleinkunstfestival in Koblenz. Warum ausgerechnet das? Weil´s so was sonstwo in Deutschland nicht gibt. Weil dabei absolute Maulfreiheit herrscht. Weil die Jungen und Schönen von heute und die von morgen dabei ebenso auf ihre Kosten kommen wie die von gestern, auch wenn die inzwischen nur noch schö … – – – Is gut, ich halt ja schon die Klappe.