Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Ob Godot vielleicht am 1. Mai kommt?

„Bedenke, du bist nur ein Mensch!“ Ausgerechnet beim triumphalen Einzug in die Hauptstadt des Römischen Reiches bekamen die siegreich heimkehrenden Feldherrn in antiker Zeit diese Worte von einem Diener alle paar Minuten eingeflüstert, gewissermaßen hinter die Ohren geschrieben. Die Wirkung der erzieherischen Maßnahme auf die Helden war bekanntlich  begrenzt: In vielen Fällen erwiesen sich erfolgreich geschlagene Schlachten als überaus förderlich für den Karrieresprung zum Imperator oder Gottkaiser.  Dennoch mochte nachher selbst Shakespeare auf den Einflüsterer nicht verzichten:  Der Weise in seinen Spielen ist zumeist ein ärmlicher Narr – bei aller spöttischen Skepsis eine Art Mensch gewordenes Prinzip Hoffnung, das wider besseres Wissen und trotz Samuel Beckett bis heute daran glaubt, dass Godot irgendwann doch noch kommt.

Ruhelos die großmütterliche Nähmaschine traktierend, knurrt Freund Walter: „Worauf willst du eigentlich hinaus?“ Auf den Triumphzug von Kurt Beck selbstredend. Erst absolute Mehrheit hier, dann zzusätzlich Kommando-Übernahme auf dem alten Tanker SPD, und alsbald dürfte er obendrein wohl gegen Frau Bundeskanzler in den Ring steigen respektive sein Gewicht in die Waagschale werfen. „Aha“, so Walter, „und wir sollen nun für Kurt den Mahner spielen; etwa mit dem Spruch: Bedenke, du bist nur ein pfälzischer Elektriker!“ Womit er nichts gegen Pfälzer, geschweige denn gegen Elektriker gesagt haben wolle. Auch nichts gegen Beck, schließlich „kriegt jede Partei den verdienten Vorsitzenden, jedes Land den verdienten Staatslenker.“ Weshalb Walter übrigens jetzt erstmals seit Jahren wieder einen Italienurlaub plant. Nicht wegen der Wahl Becks, sondern wegen der Abwahl Berlusconis; damit es da keine Missverständnisse gibt.

Und die Nähmaschine ruckelt dazu. (??) Freund Walter näht, nein bastelt, sich erstmals im Leben eine rote Fahne. Mit der will er, ebenfalls erstmals im Leben, zur Mai-Demonstration. Allseitiges Kopfschütteln ist ihm darob sicher – denn nie, aber auch niemals war er mit von der Partie gewesen, wenn die Freunde in früheren Jahren wofür oder wogegen auch immer auf die Straßen zogen. Dieser Mensch hatte sich allweil in der Rolle des distanzierten Stoikers oder Zynikers gefallen. Woher jetzt der Sinneswandel? „Ackermann und die Franzosen“ lautete die erste knappe Antwort, als er Stecken, Stab und Stangerl nebst einigen Metern roten Tuches anschleppte. Genaueres folgte im Zuge fortschreitender Bastelarbeit:

„Wenn die Ackermänner im Monat mehr verdienen, als ein fleißiger Facharbeiter im ganzen Leben verdienen könnte, wenn man ihn arbeiten ließe, dann ist was faul im Staate Dänemark. Wenn nun der Ackermänner Fürstensalär auch noch explosionsartig wächst, während zugleich die Entlohnung normaler Arbeit kontinuierlich sinkt, dann ist es Zeit für die Straße.“ Sagt Walter, auf die Geschichte verweisend, die Aufruhr als notwendige Folge herrschaftlicher Völlerei bei gleichzeitiger Hungerleiderei im Volke ausweise. Und dass die Straße einen durchaus wirkungsvollen und wertvollen Beitrag zur Demokratie leisten kann, hätten ja eben die Franzosen bewiesen: „Inakzeptables Gesetz; Schulstreik, Unistreik, Generalstreik; Gesetz perdu. Basta“. Es sei doch schön, wenn ein Volk Traditionen bürgerschaftlicher Renitenz habe und diese gelegentlich auch pflege.
 
So spricht Walter, begutachtet zufrieden seine rote Fahne und macht sich auf die Suche nach der nächstgelegenen 1.-Mai-Demonstration.  Die geht in Koblenz um 10.30 Uhr am Stadttheater ab, läuft um 11 Uhr am Münzplatz ein: zur Ansprache von Andrea Nahles und anderen Frühlings-Lustbarkeiten. Mal schauen, ob dem Freund zusagt, was er dort unter dem Motto „Deine Würde ist unser Maß“ vorfindet.

Apropos Maß. Wann hört Koblenz auf, das Maß der mittelrheinischen Dinge zu sein? Wenn es Kleinstadt geworden ist, meinen ein paar aufgeregte Schängel dieser Tage. Der Fall soll jüngsten Berechnungen zufolge binnen zehn bis zwölf Jahren eintreten. Dann unterschreite die Kommune am Rhein-Mosel-Eck die Marke von 100 000 Einwohnern, wodurch sie den Titel „Großstadt“ verlöre.

Aber bitte, liebe Mitbürger, was gelten uns schon hohle Titel. Wird nicht Ehre viel mehr durch ehrenhaftes Verhalten eingelegt, Autorität durch Fleiß und Kompetenz erworben? Ansehen kommt schließlich auch nicht von Aussehen, sonst säße Heidi Klump im Kanzleramt und nicht Frau Merkel. Und weil das so ist, bleibt uns der Trost, dass Beck und die Amtsinhaberin am Ende ihren Strauß doch irgendwie politisch werden ausfechten müssen. Denn unser Kurt hat zwar Gewicht, aber Schönheit ist dann doch wieder etwas anderes. Mit Koblenz verhält es sich ähnlich: Großstadt oder Kleinstadt – nehmt´s gelassen. Wenn nur ein ordentlicher Charakter drinsteckt, kann uns das offizielle Titularreglement allemal den Buckel runter rutschen.

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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