Seltsam, dass in einem so sehr dem Sport zugetanen Land wie dem unsrigen Übergewichtigkeit eine Volkskrankheit ist. „Stop!“ schreit Walter: „Keine akademischen Spitzfindigkeiten, die mir doch bloß den Spaß am TuS-Aufstieg und an der WM vermiesen wollen.“ Der sonst so zurückhaltende Freund droht die Contenance zu verlieren. Das kommt von was? Vom Fußball. Diese Sportart verursacht auch bei an sich vernünftigen Zeitgenossen eine Art fiebriger Erregung, unabhängig davon, ob sie im Schweiße ihres Angesichts mitkicken oder das Spiel nur als Zuschauer verfolgen – was bisweilen nicht minder schweißtreibend abgeht.
„Du weißt doch gar nicht, wovon du redest, warst seit 20 Jahren in keinem Stadion mehr“, schimpft Walter. Fußballmuffel sind ihm ein totales Rätsel. Mir geht´s mit eingefleischten, flammenden Fußballfans ähnlich. Womit wir beide ein ziemlich genaues Abbild der Meinungsverteilung im Land sein dürften: die eine Hälfte der Bevölkerung fußballerisch enthusiasmiert, die andere distanziert bis desinteressiert. Das mit den 20 Jahren Stadionabstinenz stimmt: Je älter ich werde, umso mehr befremden mich Massenaufläufe von begeisterungstaumeligen Mitmenschen, sei´s im Sport, beim Pop oder Papst. Was keinesfalls – Nietzsche bewahre – abwertend gemeint ist, nur eben meine Sache nicht (mehr).
In einem Punkt allerdings muss Walter widersprochen werden: Ich weiß schon, wovon ich rede. Mit den Reglement des Fußballs, auch mit dem Finanzgebaren in dieser Großindustrie, ja selbst mit der Geschichte der Sportart bin ich recht ordentlich vertraut (erstes vergleichbares Spiel 3000 vor Chr. in China nachgewiesen; Anfänge des modernen Fußballs im 19. Jahrhundert an englischen Eliteschulen, später Ansteckung deutscher Oberschulen; 1848 Festschreibung der bis heute in Grundzügen noch geltenden „Cambridgeregeln“; 1878 Gründung des ersten deutschen Fußballvereins in Hannover; 1903 die ersten deutschen Meisterschaften). Ich kann auch ein gutes von einem schlechten Spiel unterscheiden. Und, Sie werden staunen, ich kann ein gutes Match am Fernseher durchaus mit einigem Genuss gucken.
„Wenn das stimmt“, jetzt wieder Walter, „welches ist dann deine Mannschaft?“ Das war mal, freilich in einem anderen Leben, der SV Waldhof Mannheim. Kennt heute kaum noch jemand. Würde jenes andere Leben noch andauern, könnte das jetzt TuS Koblenz sein. Die beiden Vereine haben manches gemeinsam. Regionale Traditionsclubs beide, endlose Zeiten in der Bedeutungslosigkeit, dann plötzlich der wundergleiche Schuss nach oben. In Mannheim war seinerzeit der legendäre Schlappi, was in Koblenz dieser Tage Sasic ist. Indes währte der Mannheimer Glanz damals ähnlich kurz wie jüngst der Trierer – was um Himmels Willen kein Kassandra-Ruf ´gen Koblenz sein soll.
Der TuS sei der Aufstieg ebenso gegönnt wie den 05ern und der Frankfurter Eintracht der Klassenerhalt. Leid können einem Köln und Kaiserslautern tun. Walter insistiert: „Schwätz nicht, nenn deine Mannschaft!“ Tja, lieber Freund, die gibt es nicht. Wenn schon Fußball, dann halte ich jeweils zu denen, die besser spielen. Walter tobt: „Oh du elender Opportunist, Speichellecker der Sieger, Bayern-Lakai…“ Moment mal! Seit wann, bitte, wäre im Fußball besser, schöner und interessanter spielen gleichzusetzen mit gewinnen?
Die andern spielen besser, „aber am Ende gewinnt immer Deutschland“, heißt es in einer der vielen überheblichen WM-Werbungen. Als ginge es bei diesem Weltturnier (neben dem Millionengeschäft) bloß um den Sieg Deutschlands. „Ja worum denn sonst?!“, sagt Walter. Worauf hin mir fassungslos die Kinnlade runter fällt. Tief durchatmen, dann die Gegenposition: Mich interessieren schöne Fußballspiele, spielerisches Können, spielerisch-taktische Raffinesse, sportliche Fairness bei sportiver Einsatzfreude. Mich interessieren weniger Gewinner, und gleich gar nicht interessiert mich, für welche Nation die überbezahlten Wanderarbeiter diverser Vereinsligen dieser Welt während vier WM-Wochen ausnahmsweise antreten. Das treibt nun wiederum Walter, der im „normalen Leben“ gegen National-Gedöhns völlig immun ist, die Maulsperre ins Gesicht.
Schluss mit dem Streit! Jene Hälfte der Leserschaft, die mit Fußball keinen Vertrag hat, haben wir bis hierher schon verloren. Da in dieser Frage eine echte Verständigung ohnehin unmöglich scheint, schlage ich folgenden Kompromiss vor: Fußball kann eine der schönsten Nebensachen der Welt sein und darf von diesem Verrückten so genossen werden, von jenem Verrückten ganz anders. Das mit den zwei Sorten Verrückter gefällt Walter. Gegen die Einstufung „Nebensache“ würde er vielleicht noch opponieren wollen, spräche der warnende Blick seiner derzeitigen Lebensabschnittsgefährtin nicht von wirklichen Hauptsachen – in den kommenden Sommernächten.