Aus, aus, aus! Die Party ist aus! Deutschland ist nicht Fußballweltmeister. Weshalb Heerscharen schwarz-rot-goldener Landsleute eigentlich an der Weltlogik oder am eigenen Verstand (ver)zweifeln müssten: Hatten sie den WM-Gewinn durch die deutsche Mannschaft vorab doch zur naturgesetzlichen Selbstverständlichkeit erklärt. Wenn schon zu Selbstzweifeln nicht fähig, so wäre jetzt wenigstens das Eingeständnis vom kollektiven Größenrausch fällig. „Lass gut sein. Ist doch bereits alles Schnee von gestern. Die alte Erde hat uns wieder“, fällt Walter mir brummend in die Parade. Oh nein, mein Freund, mit Schwamm-Drüber und Blick-Nach-Vorn kommen sie mir nicht davon, diese angeblichen Superpatrioten und vermeintlichen Fußballfans! Wenn nirgendwo sonst, hier wird endlich Tacheles geredet!
Im sportlichen Wettstreit gewann die italienische Mannschaft gegen die deutsche. Dem Reglement entsprechend kam „unsere“ Auswahl folglich nicht ins WM-Endspiel. Das hat seine Ordnung. So ist es halt im Sport: Wenn kein Betrug vorliegt, gewinnt der Bessere, der Raffiniertere und/oder der Glücklichere. Was indes trug sich zu in Deutschland am Morgen nach dem verlorenen Halbfinale? Ein gewisses Quantum Volkstrauer hätte man nachvollziehen können. Dass aber die Hälfte der nationalen Jubelmasse über Nacht einen Großteil ihrer Autofähnchen einfach einzog, war arg. Das Idiom meiner badischen Geburtsheimat benutzt für derartiges Verhalten das jiddische Lehnwort „schofel“ – im Sinne von gemein, ehrlos, anstandslos, ohne Haltung. Ja was sind denn das für Patrioten, die zum Vaterland nur halten, solange es triumphierend auf der Siegerspur marschiert? Was sind denn das für Fans, die sich schnöde abwenden, sobald die eigene Mannschaft nicht mehr erster Sieger werden kann?
Immerhin, es gewann die andere Hälfte des deutschen Publikums seine Fassung wieder und feierte auch noch die Dritte-Platz-Party ausgiebig. Doch wahrer Sportsgeist und echter Patriotismus sollten sich erst beim WM-Endspiel zeigen: Jene Deutschen, die mit italienischen und französischen Freunden und Gästen gemeinsam vor den Leinwänden den Höhepunkt der WM, das letzte Spiel um den Weltpokal verfolgten, sie sind der eigentliche Stolz der Nation. Sie gratulierten den Gewinnern, blieben herzliche Gastgeber bis zum Schluss, blieben dem Fußball um seiner selbst willen sowie dem Spaß an der Freud treu. Das nenne ich Reife, das ist Größe, so geht Lebensart. Leider aber zählten diese Deutschen am WM-Ende nicht mehr nach Dutzenden Millionen, sondern nur noch nach ein paar Hunderttausend. Weshalb begreiflich ist, dass Herr Klinsmann beizeiten das Weite sucht: Die Nur-Siege-Zählen-Patriötchen würden ihn umstandslos schlachten, brächte er von der kommenden Europameisterschaft irgendetwas anderes als den Titel mit.
Dies, lieber Walter und verehrte Leser, musste noch klar gestellt werden. Es könnte sonst das Märchen, Deutschland und die Deutschen hätten sich mit der Fußballweltmeisterschaft 2006 völlig neu erfunden, als Legende eingehen ins Kulturerbe, oder sich gar als vorgebliches Faktum in den Geschichtsbüchern festsetzen. Und damit soll´s an dieser Stelle bis auf Weiteres genug sein mit der Fußballeritis. Der Sommer hat noch ein paar Wochen. Wie meist im August könnten es die etwas ruhigeren werden, denn auch viele Sommerfestivals haben dann, zumindest am Mittelrhein, ausgespielt. Horizonte und Lahneck Live rum, RheinVokal und MMM passé, Rommersdorf-Festspiele vorbei, Brückenfestival und Rosenball in Bad Ems ebenfalls …
So richtig still wird es allerdings auch in der Kulturwelt nie – mögen die Musen sich noch so sehr nach Muße sehnen. Das Koblenzer Gauklerfest steht an und das Pellenzer Open-air; auf der Mayener Burg wird noch zwei Wochen Theater gespielt, auf der Lahnsteiner Burg nachher auch; Rhein in Flammen wird wie üblich gegeben, und auf der Festung Ehrenbreitstein mit „Nabucco“ eine Wiederbelebung der Festungsspiele versucht. Am 3. August tritt in Koblenz ein paranoider Michael Mittermeier in der Rhein-Mosel-Halle gegen René Kollo, Ilja Richter und Co. im „Jedermann“ am Deutschen Eck an. Der ganz normale Wahnsinn eben. Welch ein Glück, dass nicht jeder überall hin muss.
Was nun das wieder für ein Spruch sei, will Walter wissen. Ausgerechnet in einem Journal, das Publikum für Kultur werben soll. Kultur, mein Lieber, ist per se Wahnsinn. Denn sie versucht stets, für Momente eine andere, bessere Welt denkbar werden zu lassen. Das Kulturpublikum weiß, dass solche Augenblicke bloß vorübergehende Illusionen sind. Schlechte Werbung will ihnen dies sichere Empfinden für die Wahrheit austreiben. Gute Werbung verstärkt es. Woraus allerdings auch folgt, dass gute Werbung nur guten Produkten zuträglich sein kann.