Schlussplädoyer in einem „Streit der Fakultäten“ anlässlich einer Feier zur Zertifikats-Vergabe an den ersten Teilnehmerjahrgang der Marienberger Akademie anno 2006
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Dem nachfolgend abgedruckten Vortrag waren Einlassungen von Vertretern der Kunstgeschichte, der Theologie, der Philosophie und der Naturwissenschaften vorausgegangen. Ihnen war im Sinne eines Kantschen „Streits der Fakultäten“ die Aufgabe gestellt worden, (mit gebotenem Ernst, aber nicht ohne Humor) zu begründen, warum ihr jeweiliges Fach das wichtigste unter den Wissenschaften sei. Von mir wurde nachher eine Conclusio nebst Krönung oder anderweitigem Richtspruch erwartet.
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Meine sehr verehrten Damen und Herrn, hochgeschätzte Fakultätsvertreterin und Fakultätsvertreter,
wieder einmal fällt der Zunft der Journalisten und Kritiker die undankbarste aller Aufgaben zu: Vertreten durch meine Person soll sie die Richterrolle übernehmen im Streit der Fachleute darüber, welches die wichtigste der Wissenschaften sei. Ein braver, ein gescheiter, ein hochgebildeter Mensch, so wird dann jener Akademiker über mich sagen, dessen Fach ich den Lorbeer zuspreche. Bei den anderen dreien könnte das hingegen so klingen: Wie kann er sich erdreisten, kann er sich anmaßen, solch ein Urteil über uns zu fällen, dieser Kerl, der mit seinem allenfalls gepflegten Halbwissen allweil Leute behelligt. Was könnte ich zu meiner Entlastung anführen? Erstens: Man hat mich gebeten, ich habe mich nicht aufgedrängt. Und zweitens: Wollte das Publikum auf meine Dienste verzichten, es müsste wohl verhungern. Denn: Ganz auf sich gestellt, möchten die Vertreter der Akademien den Laufsteg nie mehr verlassen.
Wohlan denn, wie steht nun die Sache?
Die PhILOSOPHIE behauptet von sich, die Mutter aller Wissenschaften zu sein. Das tut sie durchaus mit gewisser Berechtigung. War sie es doch, die das Warum-Weshalb-Wieso in die Menschheitsentwicklung eingeführt hat.
Holla, rufen sogleich die NATURWISSENSCHAFTEN dazwischen: Das waren wir, die den Neandertaler, oder wie wir neuerdings wissen, den Homo sapiens sapiens, zuerst mit dem Warum-Weshalb-Wieso zwickten und zwackten. Werkzeuge, Waffen, Kleidung, immer raffiniertere Überlebensstrategien, das sind doch jeweils Ergebnisse der Auseinandersetzung mit den Gesetzen der Natur. Somit sind´s, wie primitiv sie seinerzeit auch ausgesehen haben mögen, naturwissenschaftliche Prozesse.
Und schon stehen wir scheinbar vor einem Dilemma oder vor einem scheinbaren Dilemma: Philosophie UND Naturwissenschaft beanspruchen die Ersteinführung des Warum-Weshalb-Wieso in die Humangeschichte.
Nichts da, mischt sich jetzt auch noch die THEOLOGIE ein. Und sie stellt – auch durchaus nicht unberechtigt – Transzendenzbewusstsein, also Religiosität, als entscheidende Wegmarke an jene Kreuzung, von der aus Tier und Mensch in verschiedene Richtungen gingen.
Und die KUNST? Schweigt sie etwa stille? Begnügt sie sich etwa mit späterem, aber vielleicht umso wirkungsvollerem Einzug in die Geschichte? Keine Spur. „Ich bin die wichtigste Fakultät“ wirft die Kunstgeschichte spitz in die Runde, denn erst die Kunst besiegelt als bewusste Spiegelung des Lebens und damit auch den Augenblick überdauerndes Kollektivgedächtnis die Scheidung des Menschen vom Tier. Ohnehin seien Musik, Tanz, Skulptur und Gemälde älter als die Sprache.
Es lässt sich unschwer erkennen, dass, was ihre historische Präsenz angeht, im Grundsatz alle vier Recht haben. Ein Streit ums Erstgeburtsrecht ist in anthropologischer Hinsicht, mit Verlaub, schierer Unfug. Ein Streit um Huhn oder Ei respektive um des Kaisers Bart. Würden die Fakultäten jetzt noch anerkennen, dass die eine ohne die andere gar nicht sein kann, wir kämen der Wirklichkeit und damit passabler Welterkenntnis stracks einen guten Schritt näher.
Nicht nur, weil wir uns zurzeit noch im Brecht-Jahr befinden, möchte ich ihnen und den Disputanten Bertolt Brecht ans Herz legen. Was unsere momentane Kalamität in dieser Runde angeht, insbesondere sein Theaterstück „Das Leben des Galilei“. Ich will jetzt nicht den Inhalt referieren oder Sie, verehrte Zuhörer, mit aller Gewalt ins Theater treiben (obwohl ein Theaterbesuch gelegentlich gewiss nicht die schlechteste Idee ist). Ich will nur darauf hinweisen, dass in diesem Stück auf frappierend einleuchtende Art die wechselseitigen Abhängigkeiten, Durchdringungen, ja auch Befruchtungen von Naturwissenschaft, Philosophie, Religion und Kunst vor Augen geführt werden. Brechts Stück handelt vom naturwissenschaftlichen und geistigen und seelischen und sozialen Sterben des Mittelalters, das in seinem Sterben das nachfolgende Zeitalter gebiert. Unter Schmerzen, mit erheblichen Verwerfungen auf allen Ebenen.
Ihr seht´s bei Kopernikus und Galilei, könnte unser naturwissenschaftlicher Freund nun einwerfen: Meiner Disziplin kommt bei der Revolutionierung der Welt eine Schlüsselfunktion zu. Ja natürlich, würde Brecht sagen. Und in seinem schnarrendem Ton hinzufügen: Aber dem Brotpreis nicht minder! Brotpreis? Wie kommt der Mann angesichts welterschütternder Umbrüche auf so etwas profanes wie den Brotpreis? Darauf könnten die in Bad Marienberg vereint auftretenden Fakultäten Kunstgeschichte und Soziologie, könnten auch helle Historiker diese Auskunft geben: Es war der in schwindelnde Höhen gestiegene Brotpreis, der den Girondisten, den Simonisten, den Jakobinern und wie die mehr oder minder gescheiten Fraktionen des revolutionären Frankreich alle hießen, im rechten Augenblick jene Waffe in die Hand gaben, mit der die Revolution überhaupt nur zu machen war: das Volk.
Die Ideen für eine andere Ordnung verbünden sich mit dem Hunger und dem Elend der Massen zum politischen Umsturz. Ohne den Hunger bleiben die Ideen ein Salonvergnügen, ohne die Ideen der Hunger nur Triebkraft für blinde Wutausbrüche.
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ heißt es ebenso zutreffend wie frustrierend in der „Dreigroschenoper“. Und das kann nun weder den Naturwissenschaften, noch der Philosophie, noch der Theologie gefallen – weist es doch den Ideen, dem rationalen Einsichtsvermögen, selbst der Kantschen Vernunft einen Platz nur neben, gar unter dem Animalischen im Menschen zu. Wenn Hunger, wirklicher, richtiger, existenzieller Hunger in den Eingeweiden tobt, meine Damen und Herrn, tritt sehr bald das Tier in uns die Herrschaft an. Vielleicht ist es im Streit der Fakultäten hilfreich, wenn immer wieder mal daran erinnert wird, auf einer wie dünnen Zivilisationskruste alle Fakultäten sich gleichermaßen bewegen.
Schenken wir einen Augenblick noch den Naturwissenschaften besondere Aufmerksamkeit. Ich finde es ausgesprochen interessant, dass sie hier und heute aus einer vermeintlichen Defensive heraus argumentieren, dass ihr Vertreter versucht zu beweisen, warum auch sie ein Bildungsgut sind. Dieser Umstand verrät uns viel über die Geisteshaltung im Umfeld der Marienberger Seminare: Eine Haltung, die die Geistes- und Kulturwissenschaften auf gleiche Stufe mit den Naturwissenschaften stellt, in launigen (und etwas kurzsichtigen) Momenten sogar darüber.
Denn Herrschaften, Obacht! In der großen Welt um uns herum ist das ganz anders, ist es gerade umgekehrt! In Schulpolitik, Bildungspolitik, Forschungspolitik und natürlich in der Wirtschaft genießen die Naturwissenschaften und ihr praktischer Zwilling, die Ingenieurwissenschaften, heute unangefochtenes Primat. Warum ist klar: Ihrer praktischen, will sagen ökonomischen Nützlichkeit wegen. Philosophie, Theologie, Germanistik, Kunstgeschichte etc., die ganze Geisteswissenschaft, die einst das Zentrum des akademischen Lebens bildete – heute hockt sie am universitären Katzentisch und muss, um überhaupt noch Futter zu kriegen, seine wohlfeile Nützlichkeit erstmal wieder und bald wohl tagtäglich neu unter Beweis stellen. Insofern sind die Marienberger Seminare auch eine renitente Einrichtung. Eine, die sich dem Zeitgeist an einer Stelle widersetzt, wo der Zeitgeist vor Dummheit stinkt: Nämlich dort, wo er Bildung und Wissenschaft ganz und gar dem Rentabilitätsgesetz unterwerfen will.
Die Marienberger Seminare und Akademien wären allerdings schlecht beraten, würden sie nun ihrerseits die Naturwissenschaften an den Katzentisch setzen. Denn was die entdecken und austüfteln, könnte ggf. unseren Geist und unsere Seele erneut in einer Weise umkrempeln, wie es dereinst Kopernikus bei den Altvorderen tat. Zwei Beispiele nur, die zu ignorieren auch Philosophen, Theologen, Künstler zu bloßen Ignoranten machen würde.
Erstens: die Gen-Forschung, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ff
Zweitens: die Hirnforschung, die uns fast täglich neue Erkenntnisse darüber serviert, wie wir wurden, wie wir ticken, was wir sind oder sein könnten, und welchen Einfluss jeder für sich darauf hat oder eher nicht.
Aber, liebe Freunde der Naturwissenschaft, auch ihr werdet inzwischen zugeben müssen, dass das wirkliche Leben noch um einiges komplexer ist, als die entschlüsselten Genkodes oder die Hirnwärmebilder vermuten lassen. In beiden Fällen hat die Öffnung einer neuen Erkenntnis-Tür bloß den Weg frei gemacht hinein in das Labyrinth menschlich-weltlicher Ganzheit mit Myriaden noch völlig unerforschter Wechselwirkungen. Wenig nur ist gewiss, und ob mit dem Fortschritt der Forschung die Gewissheit wächst, ist ungewiss. Unser Universum besteht, habe ich jetzt erfahren, nicht länger aus dunklem Leerraum mit lichten Sterneninseln dazwischen. Weil die Astrophysiker vergangene Woche ihre jüngsten Berechnungen veröffentlichten, besteht das Universum nunmehr zum größten Teil aus unsichtbarer oder schwarzer Materie. Die sichtbare, ja selbst die bislang nur messbare Welt, unsere Welt also – von diesem Sonnensystem bis zum entfernsten Galaxienhaufen -, das Gewicht dieser lichten Welt verhält sich zur unsichtbaren Materie wie die Menge des Bodenseewassers zur Menge sämtlichen Wassers auf der Erde.
Lieber Gott hilf, dass ich nicht ersaufe in der eigenen Bedeutungslosigkeit!
Unendliche Himmel über mir, und unendliche Welten in mir: Diese Dimensionen verschlugen selbst dem Giganten zu Königsberg, unserem Freunde Immanuel Kant, manchen Augenblick lang den Atem. Wollt Ihr, hochverehrte Fakultätsvertreter dann solche Herausforderungen je als Einzelne schultern? Das Leben ist nicht nur Naturgesetz, ist nicht nur begreifbar aus Philosophie, nicht nur aushaltbar mit Religion und nicht nur durch Kunst genießbar. Das Leben ist größer, schwieriger, komplexer, frustrierender und aufregender als jede Einzelwissenschaft zu erhellen, darzustellen oder spürbar zu machen vermag.
Und: Sobald Wissenschaft sich nicht nur mit sich selbst, sondern mit dem Leben befasst, werden die Grenzen zwischen den Fakultäten fast von alleine durchlässig. Womit wir, quasi nebenbei, ergründet haben, warum die Fakultätsgrenzen bei den Marienberger Seminaren nie besonders stabil waren und sind: Weil man hier die Wissenschaft stets nach Ihrer Bedeutung fürs Leben befragt – was viel, viel mehr meint als blödes Insistieren auf wirtschaftlichen Nutzen.
„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar
Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum-
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheiter als all die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel-
Dafür ist mir auch alle Freud entrissen,
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
Auch hab ich weder Gut noch Geld,
Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt;
Es möchte kein Hund so länger leben!
Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält, ….“
Sie kennen, was ich eben zitierte, meine verehrten Damen und Herrn: Anfang erster Teil von Goethes „Faust“, es ist Nacht, einsam in seinem Studierzimmer hadert der Doktor Faust mit den Wissenschaften. Und zwar schlechterdings mit allen, die es zu seiner Zeit gab. Die hat er, im Gegensatz zu unseren heutigen Fakultätsvertretern, allesamt höchstselbst studiert. Der Herr Faust ist, was man einen Universalgelehrten nennt – für uns also Museumsexemplar einer längst ausgestorbenen Akademiker-Spezies.
Nützt dem alten Zausel seine universelle Gelehrtheit etwas? Jawohl, indem er nämlich mit der größten Gewissheit feststellen kann und muss: Ich bin so klug als wie zuvor, was meint: Ich bin, obwohl ich mehr studiert habe als jeder von Euch, dumm geblieben und weiß noch immer nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Faust kennt die Fakultäten alle, er weiß um ihre jeweilige Begrenztheit. Verlangten wir von ihm, er solle eine Prima inter Pares, eine Erste Wissenschaft unter den Wissenschaften krönen, der Mann würde sich kategorisch verweigern. Das völlig zurecht, weshalb ich mich dem Doktor Faust in diesem Punkte gerne anschließe.
Was uns nun allerdings bekümmern könnte, ist, dass Faust schließlich an seinem Dasein vollends verzweifelt. Und dass der Grund für dieses Verzweifeln die Erkenntnis ist: Auch alle Wissenschaften zusammen können die Grenzen des Wissens zwar weiter hinaus schieben, aber nie und nimmer allumfassende Erkenntnis liefern. So behält selbst im günstigen Fall, als welchen ich den interdisplinären Diskurs bei den Marienberger Seminaren bezeichnen möchte, auf den sich natürlich auch unsere scheinbaren Kontrahenten verpflichtet fühlen – so behält also selbst in diesem günstigen Fall auf absehbares Menschengedenken der Satz seine Gültigkeit: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Und so sehen wir auch heute wieder betroffen: den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Andreas Pecht