Anmerkungen zur Diskussion um demographischen Wandel, Familien- und Ehekrise nebst der von Eva Herman, Bischof Mixa und Co. forcierten Kampagne für die Rückkehr zur traditionellen Frauenrolle.
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(Unkorrigiertes Vortragsmanuskript, teils ausformuliert, teils nur in Stichworten. Das Referat wurde 3. März 2007 bei Marienberger Seminaren gehalten.)
Meine sehr geehrten Damen und Herrn,
ich habe ein riesiges Stoffpaket mitgebracht. Musste aber dennoch schon bei der Vorbereitung unzählige wichtige Aspekte auslassen. Unser Thema behandelt nun mal eine der wesentlichen, vielleicht die wesentlichste Frage der Zivilisationsgeschichte: Wie halten wir es mit der Reproduktion des Menschengeschlechts, welche Rolle soll die Hälfte der Menschheit spielen: die Frauen.
Sie werden in den kommenden drei Stunden wahrscheinlich mit einer Menge recht ungewohnter Blickwinkel, Thesen, Argumente konfrontiert. Und ich bin davon überzeugt, dass von Satz zu Satz, von Kapitel zu Kapitel das Bedürfnis nach Widerspruch und Diskussion wachsen wird. Trotzdem möchte ich darum bitten, dass Sie nicht nach jedem Satz, der Sie vielleicht auf die Palme bringt, um Aussprache ersuchen. Vieles wird sich im Verlauf meines Vortrages klären.
Frau Abigt und ich hatten einen guten Riecher, als wir vor Monaten dieses Seminar auf den Plan setzten. Wie gut er war, wurde erst in den letzten beiden Wochen deutlich:
Plötzlich findet sich unser Seminar inmitten eines wilden Schlachtengetümmels wieder, eines Kulturkampfes in dem es angeblich um Rettung oder Vernichtung der Institution Familie geht.
AKTUELLE FRONTSTELLUNG
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Hier:
Ursula von der Leyen = Aufstockung der Kitaplätze um 500 000 und Idee von einem Vorschulpflichtjahr. Unterstützung durch Merkel, Teile der CDU und aller anderen Parteien nebst ev.Kirche, kath. Laien, Gewerkschaften etc.
Interessant: Kita-Ausbau resp. Stärkere öffentliche Kinderbetreuung war eine Forderung der Bischofskonferenz.
Dort:
Augsburger Bischof Mixa = Zerstörung der Familie durch Primat der berufstätigen Frau; Reduzierung der Frau auf Gebärmaschine.
Brandenburgs Innenminister Schönbohm = antiquiertes Männerbild.
Beide: Leyen wolle der Bevölkerung ein bestimmtes Familienbild vorschreiben.
An Leyens Vorstellung ist nichts wirklich neu. Ihre Forderungen sind alt: siehe Bischofskonferenz, Gewerkschaften, CDU + Unzahl von Artikeln für Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den letzten Jahren durch bessere Kinderbetreuung.
Diskussionen gab es in den letzten Monaten und jahren reichlich. Den konservativen Part hatten etwa Schirrmacher und Eva Herman inne, von denen noch die Rede sein wird. Aber eine Aufregung wie jetzt, Stichwwort: Kulturkampf, war da nicht.
Woher kommt nun diese Aufregung, deren Inhalte ich erstmal noch gar nicht bewerten will?
Weil Traditionalisten wie Mixa und Schönbohm erleben müssen, dass der familienpolitische/gesellschaftsideologische Paradigmenwechsel, wie sie das sehen, von völlig unerwarteter Seite kommt:
Aus der CDU
Vorgetragen von einer siebenfachen Mutter,
Die man vorher für ein liebes Mädchen gehalten hatte,
Mit konservativen Familiengrundwerten,
Töchterchen des erzkonservativen Ex MP Niedersachsens Ernst Albrecht.
Von der Leyen ist auf den ersten Blick das genaue Gegenteil einer modernistischen Emanze. Sie genießt „Ehe- und Mutterglück“ und sollte deshalb gerade Verfechterin der in den letzten 80 Jahren normativen Familienideologie sein. So mögen es Mixa und Co beim Regierungsantritt empfunden haben. Nun tritt plötzlich das Gegenteil ein.
Verrückt an dieser Sache ist, dass die Konservativen genau genommen einen Kampf gegen Windmühlen führen. Denn niemand hat je die Abschaffung der herkömmlichen Familie gefordert, selbst von deren Diskreditierung im öffentlichen Diskurs kann nicht wirklich die Rede sein. Die alte Kernfamilie aus berufstätigem Mann, Hausfrau und Kindern hat sich seit den 1960ern einfach stillschweigend von der vorherrschenden Regelerscheinung zu einer Lebensform unter anderen entwickelt.
Von der Leyens Ansinnen zielt lediglich auf eine Politik ab, die dem besser gerecht werden soll, was heute in mehr als 60 Prozent aller Familien Realität ist: Dass auch die Frau arbeiten geht – lassen wir einmal dahingestellt ob sie muss oder ob sie will oder beides.
Auf diese Realität war bundesdeutsche Familienpolitik bislang eben gerade nicht eingerichtet. Mutterschutz, Familiengeld, Kindergartenrealität, betriebliche Realität – überall Sachverhalte, die davon ausgehen oder darauf abzielen, dass Mütter über längere Zeit daheim bei ihren Kindern bleiben.
Die das nicht konnten oder wollten, mussten zusehen, wie sie zurecht kommen. Für sie gab/gibt es keine Förderpolitik, keine Betreuungsstruktur, keine Hilfe. Deshalb stehen berufstätige Mütter bis heute lebenspraktisch vor teils fast unlösbaren Problemen und enormen Mehrfachbelastungen. Iris Radisch , Literaturredakteurin bei der „Zeit“ und selbst späte Mutter von drei Kindern, bilanziert diesen schwierigen Zustand mit dem Satz: „Die angepriesene Vereinbarkeit von Beruf und Kindern ist eine Schimäre. Da gibt es nichts zu vereinbaren. Da gibt es nur etwas zu addieren.“
In Wahrheit also diskriminiert die bisherige Familien- und Gesellschaftspolitik das Lebensmodell einer Familie bestehend aus zwei berufstätigen Elternteilen zugunsten des alten Familienbildes: männlicher Versorger, Hausfrau/Mutter, Kinder.
Leyens Vorstoß zielt genau genommen auf die Anerkennung beider Lebensmodelle als gleichberechtigte. Jeder möge sich die Lebensform heraussuchen, die am besten zu ihm passt. Von einer Bevorzugung der berufstätigen Mutter, gar einem Diktat, in Zukunft so leben zu müssen, kann überhaupt keine Rede!
Freilich: Das Dogma von der herkömmlichen Mutti-kocht-Vati-arbeitet-Familie als EINZIG wahrer, ethisch wertvoller, moralisch richtiger und gesegneter Form des Zusammenlebens verliert damit seine Alleinstellung, seine Quasi-Position als Staatsdoktrin. Wodurch auch offiziell nachvollzogen würde, was draußen in der Welt längst Wirklichkeit ist.
„Zur Kritik der Gegenemanzipation“ heißt unser Thema. Ich aber spreche nun schon eine Weile über Familienpolitik. Das hat seine Richtigkeit. Denn die gegenemanzipatorischen Bemühungen der jüngsten Gegenwart beziehen sich allesamt auf die Bedeutung der Frau für die Gesellschaft als Frau in der Familie.
Das war übrigens immer so: Alle Einwände gegen Frauenemanzipation begannen und beginnen damit, dass sie Frau nicht als eigenständiges Individuum definieren, sondern stets nur als Familienwesen.
In den zurückliegenden 6, 7 Jahren DREI GEGENEMANZIPATORISCHE WELLEN:
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Welle I: Die Deutschen sterben aus, die Katastrophe des demographischen Wandels, der kommende Kollaps der Sozialsystemst. Ursache: Unsere Frauen gebären zu wenig.
Welle II: Aufbauend auf I die scheinbar gediegen intellektuelle Auseinandersetzung in den Büchern von Frank Schirrmacher und Eva Herman. Ziel: Frauen sollen wieder mehr gebären.
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Welle III, ist das, was wir eben erleben: Mixa, Schönbohm und Co propagieren offen das Primat, die unbedingte Vorherrschaft der herkömmlichen Familie; sie zeihen jeden anderen Weg als Zerstörung der Familie. Ziel: Frauen sollen mehr gebären, den Beruf sein lassen und sich der Kindesaufzucht widmen.
EXKURS: KLEINE GESCHICHTE DER FRAUENBEWEGUNG
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Bevor wir auf die drei Wellen etwas genauer eingehen, eine kurze Erinnerung an das, was davor war, nämlich die Tendenz zur Emanzipation, die Geschichte der Frauenemanzipation.
Ansätze gab es immer, schon in der Antike.
Sogar im christlichen Mittelalter, etwa die Beginen-Bewegung im 11./12. Jahrhundert: Witwen und Alleinstehende Frauen taten sich zu weltlichen Orden zusammen, um sich in der Gesellschaft zu behaupten.
Richtig Schwung in die Sache brachte Franz. Revolution:
Freiheit und Gleichheit schienen zunächst nur eine Sache der Männer, auch wenn Frauen auf den Barrikaden vielfach von entscheidender Bedeutung waren. Doch im Begeisterungstaumel der Revolution entschlossen sich die Frauen, ebenfalls für ihre Rechte zu kämpfen. Für den Einzug in den Konvent reichte es zwar noch nicht, aber es lässt sich leicht vorstellen, was in den Heimen los war, nachdem Frauen im Straßenkampf ihren Mann gestanden hatten. Weibliche Soldaten, ja sogar Kommandeure waren bei den Revolutionsgarden durchaus normal.
Im englischsprachigen Raum wurden die Frauenrechtlerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Namen Suffragetten[5] bekannt. Die wichtigsten Ziele der Frauenrechtsbewegung waren die Erlangung der Bürgerrechte (Wahlrecht, Recht auf Bildung, Recht auf Privateigentum). Interessanter Weise spielte dabei die familiäre Rollenverteilung zwischen Mann und Frau kaum eine Rolle.
Die nächste Emanzipationswelle nimmt Ende der 1940er wieder in Frankreich ihren Ausgang. Sie hat eine stark intellektuelle Prägung und leistet vor allem eine analytische Geschichtschreibung über Rolle und Situation der Frau nbis dahin: Als Zentralwerk kann „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoire gelte.
Die jüngste und noch immer andauernde Emanzipationsphase ist vor allem eine Folge der Erfindung und Verbreitung der Antibabypille.
Tiefer will ich an dieser Stelle nicht in die Geschichte der Frauenemanzipation eindringen. Nur soviel noch aus meiner Sicht zum heute erreichten Stand: Mit vielen Zeitgenossen/innen ging ich bis kurz nach der Jahrtausendwende davon aus, dass der Emanzipationsprozess der Frauen schiere Selbstverständlichkeit geworden ist = und dass der Hauptaspekt nun nur noch sei: Wie schnell und tiefgreifend schreitet dieser Prozess in Richtung Vollendung voran.
DOCH DANN KAM DER ERSTE GEGENSCHLAG (WELLE I):
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Ganz unschuldig, sehr wissenschaftlich und scheinbar fernab der Emanzipationsfrage – die Diskussion um den demographischen Wandel.
Die Gesellschaft werde immer älter. Das gefährde die Sozialsysteme. Die Rente sei deshalb künftig nicht mehr sicher. Die Lebensqualität der Rentner in Gefahr…..
Frank Schirrmacher schrieb sein Buch „Das Methusalem-Komplott“, das neben endlosen Zahlenwerken zur kommenden Überalterung der Gesellschaft sehr schön gegen den Jugendwahn im Kapitalismus schimpfte und an das Selbstbewusstsein und die Stärke der neuen Senioren appellierte. Die Frauen ließ er in diesem Buch noch weitgehend in Ruhe.
Es war die Bild-Zeitung, die bald die unterschwelligen Begleittöne der Demographie-Diskussion auf den schreienden Punkt brachte: Die Deutschen sterben aus. Und plötzlich hatten wir eine Situation, in der die demographische Problematik zum sozialen und nationalen Existenzproblem stilisiert wurde, das nur eine Lösung kennt: Deutsche Frauen müssen mehr Kinder gebären. Das war die erste Welle der neuen Gegenemanzipation.
WELLE II: INTELLEKTUELLE GEGENEMANZIPATION
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Diese erste Welle brachte die biologische Funktion der Frau als Gebärerin ins Zentrum der gesellschaftlichen Zukunftsdiskussion zurück. Das mit Verve und schier unerträglichem Furor, anno 2006. Sogar der „Spiegel“ entblödete sich nicht, von einer „Schöpfungsnotwendigkeit“ (= Kinder gebären) zu posaunen, der sich die Frauen der Zukunft Deutschlands nicht entziehen dürften.
Frank Schirrmacher brachte sein Buch „Minimum“ heraus, in dem er nun die familiare Bedeutung der Frau für die Gesellschaftszukunft groß herausstrich: „Großmüttern, Müttern und Töchtern“ halste er die verantwortung dafür auf, „ob und wie unsere Gemeinschaft neu entsteht“ beziehungsweise nicht, also untergeht. Was unweigerlich eintreten werde, wenn es nicht gelänge, die widerstandsfähigste und leistungsstärkste Sozialstruktur überhaupt zu retten und zu reaktivieren: die klassische Kernfamilie.
Da platzte dann Iris Radisch, , der Kragen und sie schimpfte in ihrer Zeitung: „Es vergeht kein Tag mehr, an dem nicht irgendein neuer älterer Herr die jungen Frauen an ihren Auftrag für Vaterland, Rentenkasse und Kulturnation erinnert.“
Beispiel: Man fühlt sich als junge Frau getrieben. Alle Welt schreit „Du musst gebären!“ und wer´s nicht tut kommt sich beinahe schon als asoziales Element vor.
„Die Gebärkampagnen der letzten Monate sind Propaganda. Die Appelle an die jungen Frauen, Kinder in die Welt zu setzen, erzählen viel über männliche Planspiele und wenig über weibliche Wirklichkeit.“ Schreibt Radisch in ihrem letzte Woche erschienen Buch „Die Schule der Frauen – Wie wir die Familie neu erfinden.“
In einem Punkt irrt die hochgeschätzte, kluge Kollegin. Es gibt auch Frauen, die bei dieser Gebärkampagne propagandistisch mitmachen. zB Miss tagesschau Eva Herman die in ihrem 2006 erschienen Buch „das Eva-Prinzip“ für eine „neue Weiblichkeit wirbt“, die allerdings bei näherer Betrachtung eine ziemlich altbekannte ist.
Was Frau Herman in ihrem Buch ausbreitet, lässt sich auf etwa folgende Kernthesen reduzieren.
68er und Frauenbewegung hätten die (Klein-)Familie als Hort der Liebe und idealen Ort sozialer Erziehung zerstört.
Erstes Werkzeug dazu sei die Lebenslüge von der Selbstverwirklichung der Frau durch Berufstätigkeit.
Zweites Werkzeug sei die Ideologie der „Gleichheit“ von Mann und Frau.
Beide Werkzeuge hätten die Frau von ihren natürlichen Anlagen, Fähigkeiten, Wünschen und Neigungen getrennt: Wo aber Frau nicht mehr Mutter und Nestpflegerin sein könne, höre sie auf Frau zu sein.
Alle übrigen Krisen des menschlichen Miteinanders betrachtet Eva Herman als Folge der Wegentwicklung der Frauen von ihrer biologischen Bestimmung.
Schlussfolgerung und Programm für eine Bewegung der „neuen Weiblichkeit“, die die Autorin gerne ins Leben rufen möchte: „Ich würde mir einen Mann suchen, ihn arbeiten lassen und mich um unsere fünf Kinder kümmern.“ Basta.
Die biologistische Betrachtungsweise von „Das Eva-Prinzip“ stellt alles, was Mutter und Kind voneinander trennt unter Generalverdacht: Krippen, Horte, Tagesmütter, Babysitter etwa. Sie mag auch von Softie-Männern nichts wissen, denn dem Manne sei ebenfalls seit Urzeiten eine natürliche Rolle zugewiesen: Zeuger, Versorger, Beschützer.
Neue Weiblichkeit und auch neue Männlichkeit, das meint bei Eva Herman nichts anderes als Rückbesinnung auf alte Weiblichkeit und alte Männlichkeit, mithin auch auf die alte Rollenverteilung in der alten Familienstruktur. Hier nun treffen sich die Schirrmachers und Hermans ideologisch mit den konservativen Protagonisten der WEelle III, mit den Mixas und Schönbohms zum großen Projekt „Gegenemanzipation“.
Gemeinsam ist ihnen allen diese Position:
Die Mutter-Kind-Bindung sei von der Natur als wichtigste Menschenbindung überhaupt vorgegeben. Fremdbetreuung bedeute für Mutter und sowieso für die Kinder die Hölle auf Erden. Die Klein- oder Kernfamilie sei die zentrale Säule jeder Gesellschaft. Jede andere Lebensform berge Verderbnis in sich. Gattinnenschaft und Mutterschaft sei Glückseligkeit und oberster Zweck des Frauenlebens. Familie sei der Sinn des Daseins und ein kleiner Vorgriff aufs Paradies.
Und damit stehen sie durchaus nicht allein.
WIE DIE FAMILIENIDYLLE ZUR NORM WURDE
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Wirklichkeit und Ideologie, Realität und Idyllevorstellung: Es gibt kaum ein Thema bei dem diese Pole so weit auseinander liegen wie beim Thema Familie.
Hand aufs Herz:
Im Grunde (bewusst oder subkutan) sind wir doch davon überzeugt, dass das, was wir Kernfamilie nennen – Vater, Mutter, Kind – Urzelle und soziales Zentrum aller Gesellschaften ist, seit das Menschengeschlecht von den Bäumen gestiegen?
Wir halten die Konstellation Vater, Mutter, Kind für eine Art ewiges Naturgesetz, kulturgeschichtlich symbolisiert in der monogamen christlichen Triade Josef, Maria, Jesuskind: der sog. Heiligen Familie.
Ich will mich hier keineswegs gegen die Familie aussprechen, ihre Bedeutung für die menschliche Kulturentwicklung ist tatsächlich beträchtlich. Aber: Die triadische Familie als ewig, als von Gott gegeben oder von Natur als Urgesetz vorgezeichnet, als quasi Bedingung für Gesellschaft und Zivilisation überhaupt darzustellen, überschätzt die Bedeutung dieses spezifischen Sozialgefüges doch arg.
Und je näher man den entwicklungsgeschichtlichen Aspekten des Phänomens Familie tritt, umso fragwürdiger wird der Absolutheitsanspruch der triadischen Kernfamilie. Umso fragwürdiger wird zugleich, was uns Märchen, Rittergeschichten und Hollywood-Filme wie Nero, Ben Hur, Kleopatra oder das Sklavenepos „Spartacus“ als angebliche Überlieferung anbieten. Schauen wir uns einige dieser entwicklungsgeschichtlichen Aspekte der familie an:
DIE HEILIGE FAMILIE
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Wir gehen gemeinhin davon aus, dass in der christlichen Lebenswelt das Ideal der Heiligen Familien fundamental ist und seit 2000 existiert.
Das trifft aber nicht zu!!!
– Das katholische Kirchenjahr etwa kennt ein Fest der Hl. Familie erst seit dem 19. Jahrhundert. Die Verehrung der Hl. Familie ist freilich doch schon etwas älter:
– Man geht heute davon aus, dass Anfang des 13. Jahrhunderts erstmals eine Krippe (Bethlehem, Stall, Jesuskind) im Gemeindeleben auftauchte. Bei der figürlichen Darstellung fehlten in jener Zeit allerdings Maria und Josef noch völlig. Es ging bei den frühen Krippen um die Geburt Christi, nicht um die Hl. Familie.
So ist es auch vom allerersten Krippenspiel des Mittelalters überliefert: dem szenischen Weihnachtstheater des Francisco de Assis Ferreira de Vasconcellos 1223 in Greccio: Jesuskind, Ochs, Esel, Hirten – kein Josef, keine Maria.
Genau genommen spielte die Hl. Familie in der christlichen Dogmatik die ersten 1500 Jahre A.D. fast gar keine Rolle. Maria mit dem Kinde, das ja. Also jungfräuliche Gottesmutter als Gefäß für die irdische Inkarnation Gottes. Aber von Familie keine Spur.
Das ändert sich erst mit dem Konzil von Trient (1545-1563), bei dem auch Taufe und Ehe in den Rang von Sakramenten = göttlichen Weihen erhoben wurden.
Von da an entfalteten Jesuiten und Franziskaner eine für damalige Verhältnisse gewaltige Umerziehungskampagne: Sie propagierten die Hl. Familie als Ideal – und betrieben so die Heiligung der weltlichen Familie.
Die Kirche hatte in Familiendingen Nachholbedarf, denn ihr Einfluss auf die mittelalterliche Sozialstruktur des täglichen Zusammenlebens im einfachen Volk war nicht so total wie man gemeinhin denkt. Im europäischen Mittelalter war die „auf ewig“ geschlossene Ehe keineswegs selbstverständlich. Allein die hohe und frühe Sterblichkeit führte in der Volkspraxis zu mehrfachen Neuverheiratungen, Patchwork-Familien und anderen sozialen Zusammenschlüsse in großer Zahl.
Es herrschte damals ein unglaublicher Wildwuchs familiarer Lebensformen, eben angepasst an die Notwendigkeiten des Überlebens. Sodom und Gomorrha, wenn man es unter puristischen Gesichtspunkten beurteilen wollte. Eheschließung insbesondere unter Gemeinen war eine ganz weltliche und auch ziemlich unspektakuläre Angelegenheit. Sie bedurfte nicht des Segens der Kirche: Es genügte bis zum Konzil von Trient ein Versprechen unter vier Augen und die Ehe war geschlossen.
Ratsam war ein Zeuge, ggf die Erlaubnis des Leibherrn und eine Beurkundung durch den Dorfschulzen…. Kaum jemand ging davon aus, dass die Eheschließung auf Lebzeiten beider erfolgt – weil die Wechselfälle damaligen Lebens so etwas ohnehin kaum erwarten ließen.
1563 erließ dann das Konzil von Trient das sog. Dekret Tametsi, wonach für einen gültigen Ehebund priesterlicher Segen unabdingbar wurde. Und: Diese Ehen wurden nun als unlösbare Bünde fürs Leben geschlossen. Damit hatte die Kirche die Hoheit auch über Küche und Bett übernommen. Die ideologische Begleitmusik bestand wie gesagt in der gleichzeitig beginnenden jesuitischen Glaubensoffenive zur Verehrung der „Heiligen Familie“.
Erst Mitte des 16. Jahrhunderts also hielt ein Familienverständis Einzug in die abendländische Geschichte, das es bis dahin überhaupt nicht gegeben hatte: Die harmonische Vater-Mutter-Kind-Triade als religiös fundiertes Ideal nach dem Vorbild von Josef-Maria-Jesuskind.
Hl. TRIADE HISTORISCH HÖCHST UNWAHRSCHEINLICH
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Aber selbst dieses Vorbild muss, was seine lebenswirkliche Ausmalung angeht, mit einiger Skepsis betrachtet werden. Viele Historiker und Bibelforscher gehen heute davon aus, dass das Bild von der weltlichen Familie Jesu in den Evangelien nachträglich umgezeichnet wurde. Wie auch immer: Eine dreiköpfige Zimmermanns-Familie nahezu ohne Einbindung in einen größeren Verwandtschaftsverband ist für das Palästina vor 2000 Jahren schlechterdings undenkbar.
Der damaligen Zeit gemäß müsste die Familie Jesu so aussehen: Jesus ist der Erstgeborene (wg. Jungfrauenempfängnis) von 4 bis 5 überlebenden der 10 bis 14 geborenen Geschwister, die mit einer Unzahl anderer Kinder einer Vielzahl von Onkeln und Tanten zwischen den Füßen herumwuseln. Opas und Omas dürften seltener gewesen sein, denn man lebte bis ins 18. Jahrhundert hinein im Durchschnitt bloß 35 Jahre.
FAMILIENSTRUKTUREN IN DER GESCHICHTE
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Gehen wir einmal weg von der Bibel und schauen ins wirkliche historische Leben hinein und was es dort mit der Familie auf sich hatte.
Hier eine Zahl aus der ethnologioschen Forschung, die zu denken gibt:
Von 849 weltweit erforschten Kulturen herrschte nur in 137 (16 Prozent) die monogame Ehe vor. In 712 Kulturen (84 Prozent) galten hingegen polygame Verbindungen als normal.
Will sagen: Im Weltmaßstab war die Einehe in der Kulturgeschichte die Ausnahme, die Vielehe die Regel. Dabei überwog die männliche Vielehe = ein Mann hat mehrere Frauen. Aber es gab auch eine Reihe von Gesellschaften mit matriarchalischer Struktur. Wohl weniger als politischer Herrschaftsform, wohl aber in sozialer Form. Mutterschaftliche Erblinie, freie Partnerwahl der Frauen, geschlechtsdualistische Verwaltung bis hin zu Kriegführung.
Ob patriarchalisch oder matriarchalisch, ob monogam oder polygam – allen früheren Gesellschaften war ein sehr hohes Maß an sozialer Kollektivität eigen. Stamm, Clan, Sippe, Dorf, Nachbarschaft, Haushalt spielten lebenspraktisch eine wesentlich größere Rolle als die Kernfamilie.
Die älteren unter ihnen erinnern sich vielleicht wie es noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vielen Bauern- und Handwerkerhaushalten zuging:
Gesellen, Knechte, Mägde, Geschwister, Onkel, Tanten – sie alle gehörten ggf. zu einem Haushalt. Viele historische Zunftordnungen wiesen dem Meister Lebensverantwortung für seine Lehrlinge und Gesellen zu. Der Haushalt war der Angelpunkt des Lebens, nicht die Kernfamilie. Die Kernfamilie allein wäre in Gesellschaften der Jäger und Sammler, ebenso der Bauern und Handwerker gar nicht überlebensfähig gewesen.
GROSSTEIL HISTORISCHER BEVÖLKERUNG VON EHE AUSGESCHLOSSEN
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Es gibt einen weiteren Grund, warum überfamiliäre Gemeinschaften historisch wichtiger waren als die Kernfamilie: Große Teile der Bevölkerung waren von der Ehe schlichtweg ausgeschlossen.
Wie die gesamte Sklavenpopulation der Antike, so brauchte auch ein Großteil der einfachen Bevölkerung des Mittelalters gar nicht erst an Heirat zu denken: Knechte, Mägde, Gesellen, eben das besitzlose Gesinde jeder Art blieb größtenteils alleinstehend, lebend in Gemeinschaftsunterkünften oder aufgenommen in die Haushalte anderer, Besitzender. Dazu Mönche und Nonnen oder auch Landsknechte, Knappen, Leibeigene. (= Erkläre Unwirtschaftlichkeit der Aufzucht von Sklavenkindern).
Eheschließungen unter Menschen, die nichts hatten, als das Hemd auf dem Leib und eine völlig ungewisse Zukunft waren schwierig. Hätte man damals als Einzelner überleben können, die mittelalterliche Welt wäre voll von Single-Haushalten gewesen. So war sie voll von Kollektiven verschiedenster Größenordnung. Einsiedler lebten gefährlich und nagten am Hungertuch, einsiedlerische Frauen lebten stets am Rande des Scheiterhaufens.
Noch im 18. und 19. Jahrhundert, ja bis ins mittlere 20. Jahrhundert hinein galt unseren Vorfahren für die Verheiratung eine Konvention, die in manchen Staaten sogar in entsprechenden Gesetze festgeschireben war: Bedingung für eine Heiratserlaubnis war: Die neue Familie muss sich nachweislich ernähren können. Liebe hin oder her: Wer ohne Aussicht auf dauerhaft gesicherte Einkünfte eine Ehe einging, galt im bürgerlichen wie auch im proletarischen Milieu als verantwortungsloser Hallodri oder leichtfertiges Gör. Die Literatur ist voll von solchen Geschichten.
Wir sehen: Die triadische Kernfamilie ist kein ewiges, naturgesetzliches, alle Gesellschaften und Zeitalter prägendes Prinzip. Das Verständnis von Familie und ihre Bedeutung für die Gesellschaft unterlag stets dem historischen Wandel.
DAS AMMEN-PRINZIP
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Wie aber ist es mit der Mutter-Kind-Beziehung, von der Herman, Schirrmacher, Mixa und viele, viele andere als von existenzieller Bedeutung für Mutter und vor allem Kind sprechen? Sie ist doch ein Naturgesetz? Oder etwa nicht?
Bei dieser Frage hilft uns die Wissenschaft, in Sonderheit die Entwicklungspsychologie ausnahmsweise mal überhaupt nicht weiter. Denn jede Theorie hat ihre Gegentheorie, jede Untersuchung ihre Gegenuntersuchung. Am Ende ist´s eine Glaubensfrage geblieben, ob solitär mütterliche Umsorgung das Beste für das Kind und Fremdbetreuung ein Gräuel ist, oder ob das nicht der Fall ist. Oder ob nicht sogar umgekehrt qualitativ hochwertige Fremdbetreuung dem Kinde besser tut als die Verhätschelung durch eine liebestolle Mutter.
Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den diversen psychologischen Schulen ließe sich etwa so definieren:
A) Kinder brauchen zum gedeihlichen Aufwachsen
einen Kernbestand an ziemlich intimen Vertrauensbeziehungen, die Liebe, Wärme und seelische Fürsorge einschließen. Sie brauchen
B) auf Welterforschung und Sozialerfahrung gerichtete multiple Außenreize, Außenkontakte und Außenbetätigungen.
Das Elend dieser Diskussion seit Jahr und Tag ist, dass die eine Partei der Betreuung durch die Mütter Defizite im Bereich B) unterstellt, die andere Seite der Kindesbetreuung durch Personen, die nicht die Leibesmutter sind, die Fähigkeit für den Bereich A) abspricht.
Die Mütterlichkeitsvertreter verweisen dann oft auf „früher“, meinen damit: Schon immer habe, naturgemäß, die Mutter-Kind-Beziehung aus gutem Grund eine zentrale Stellung eingenommen.
Das aber trifft historisch NICHT zu!
„Zur Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf“ heißt ein afrikanisches Sprichwort. Darin spiegelt sich wieder, dass in den meisten Kulturen die Kinder nach der Stillzeit in gemeinschaftliche Obhut entlassen wurden, vielerorts heute noch werden. Bei uns haben sich die kollektiven Sippen- und Dorfstrukturen mit fortschreitendem Kapitalismus aufgelöst. Kindergärten und Schulen sind heute an deren Stelle getreten.
Aber die Säuglinge, die wurden doch zu allen Zeiten und in allen Kulturen von ihren Müttern versorgt, genährt?
Auch diese Annahme kann historisch keine Allgemeingültigkeit beanspruchen.
William Shakespeare hat in den Jahren 1595/96 das uns allen bekannte Stück „Romeo und Julia“ geschrieben. Bei wem sucht und findet die kindliche Julia Vertrauen, Liebe, Trost, Schutz, Hilfe angesichts der Zwangsverheiratungspläne des Vaters? Nicht bei ihrer Mutter, sondern bei ihrer Amme. Bei einer nicht blutsverwandten Frau also, die sie als Säugling gestillt, später umsorgt, gepflegt, großgezogen hat.
Shakespeares Amme ist kein seltener Einzelfall: Die historische Welt ist voller Ammen. Seit der Antike gaben Mütter der gehobenen Stände in der Regel ihre Kinder in die nährende Fürsorge fremder Frauen. Das war Usus quer durch alle Kulturen und durch alle Zeitalter bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
Noch Ende des 19. Jahrhunderts gehörten beispielsweise in Berlin die sogenannten „Spreewaldammen“ zum Straßenbild. Meist waren das jüngere Frauen aus der Niederlausitz, die in sorbischer Tracht ihre Pfleglinge ausführten – Kinder fremder Leute, die sie gegen Löhnung stillten und versorgten. In der Schweizer Hauptstadt Bern wurde die letzte gewerbsmäßige Amme 1954 in den Ruhestand geschickt.
Aber nicht nur reiche Leute nahmen die Dienste von Ammen in Anspruch. Man muss sich gewärtigen, dass in historischer Zeit jedes zweite Neugeborene die ersten vier Wochen nicht überlebte. Zugleich kam etwa ein Drittel der gebärenden Frauen bei einer Niederkunft ums Leben. Es gab also stets eine Menge Frauen mit eingeschossener Milch, aber ohne eigenen Säugling, sie zu verfüttern. Zugleich gab es viele Neugeborene, deren Mütter eben gestorben waren. Und so dumm war das Menschengeschlecht nie, dass es in dieser Situation nicht die logische Konsequenz zog: Mütter, deren Säuglinge gestorben waren, nährten Säuglinge, die keine Mütter hatten. Nicht ausnahmsweise, sondern millionenfach. Das Wissen um diese Sachverhalte ist aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt worden durch die Mutterschafts- und Kleinfamilienverherrlichung im 20. Jahrhundert.
Gute Ammen / schlechte Ammen
Milchgeschwister
Bezahlte Leistung / Liebevolle Ersatzmutter
Wir halten heute das Stillen – nach Schwangerschaft und Geburt – für den intimsten Akt zwischen Mutter und Kind. Teils nehmen die Ansichten darum Züge religiöser Überhöhung an. Vor allem Männer machen gerne ein großes Mysterium daraus. Dem Kind freilich dürfte eine satt nährende und zärtliche Amme lieber sein, als eine grantige Leibesmutter.
HEIMCHEN AM HERD = EINE GROSSBÜRGERFANTASIE
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Zurück zu den familiären Wurzeln, fordern Eva Herman und Frank Schirrmacher. Der FAZ-Herausgeber macht das etwas klüger als Miss Tagesschau. Schirrmacher insistiert auf die tatsächlich starke Bedeutung der Frauen für die Gesellschaft, früher wie heute. Er unterstreicht dabei „die hohe soziale Kompetenz der Frau“, den Laden zusammenzuhalten und vorwärts zu bringen. Für Frau Herman reduziert sich diese Kompetenz auf Nestpflege und Kinderumsorgung. So sei es früher gewesen, vor dieser unsäglichen Emanzipation, und da will sie wieder hin.
Nur: Es war früher gar nicht so!!!
Zumindest nicht in der breiten Bevölkerung. Dort hatten die Frauen überhaupt nicht die Zeit, den ganzen Tag liebevoll erst die Kinder zu betütteln, dann den Mann zu befreidigen.
Es wird häufig so getan, als sei aushäusige Arbeit und Erwerbstätigkeit der Frauen ein Erfindung des 20. Jhdt., insbesondere der jüngeren Gegenwart. Falsch, völlig falsch! Frauen mussten immer auch außerhalb des Heimes arbeiten. In den 1930ern gingen in Deutschland bereits 53 Prozent der Frauen einer Erwerbsarbeit nach. Während des Krieges schnellte der Prozentsatz auf fast 80 Prozent hoch – um während der Wirtschaftswunderzeit weit unter 50 Prozent zu fallen. Bis 1991 stieg der Anteil der Erwarbstätigen Frauen langsam auf 58 % an. Heute liegt der Anteil der erwerbstätigen Frauen bei rund 65 Prozent.
Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts hieß die tatsächliche Alternative oft: Entweder du wäschst die Familienwäsche von Hand, kochst deine Lebensmittel selber ein – oder du gehst arbeiten, um Waschmaschine und Konserven kaufen zu können; Kraft- und Zeitaufwand sind am Ende hier so groß wie da.
Auch Frauen in Handwerker- und Bauernhaushalten hatten wahrlich anderes zu tun, als dem biedermeierlichen Idyllebild von Familie zu entsprechen und sich im Kinder- und Mannesglück zu verwirklichen. Dieses Wohnzimmeridyll entsprang der Lebenssphäre des wohlhabenden Bürgertums des späten 19. Jahrhunderts. Allerdings war es bloße Ideologie, zeigt nur die Kulisse einer Welt, hinter der Amme und Hauslehrer die Kinder betreuten, Köchin und Hausdiener die Wirtschaft besorgten.
Das Leben des Volkes und seiner Kinder sah ganz anders aus:
(Lebenspraktische Beispiele erzählen)
IDEAL UND REALITÄT
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Man muss Herman, Schirrmacher und Mixa vorwerfen, dass sie einem Ideal, einer Idylle das Wort reden, die man nicht einmal als “gestrig“ apostrophieren kann, weil es sie auch gestern nie gegeben hat. Oder allensfalls für Bürgertum und proletarische Mittelschicht nur eine ganz kurze Zeit – im Wirtschaftswunder der 50er und frühen 60er.
Das war die Zeit der strahlenden Konsummütter, die im Kostümchen den neuen Staubsauger schwingen, dem Gatten den neuen Scheiblettenkäse servieren und die propperen Kindlein mit Rotbäckchen-Saft mästen.
Doch auch in dieser Zeit wich das tatsächliche Familienleben vom propagierten Idyll deutlich ab. Generationskonflikte, Beziehungskrisen, sozialer Druck, innerfamiliäre Diktatur …: Die Familie war immer auch Quell von Unglück; Statistiker weisen sie als denjenigen sozialen Raum aus, in dem nach wie vor die meisten Gewalttaten begangen werden – von der Tracht Prügel für Frau und Kinder bis zu Vergewaltigung, zu Kindesverwahrlosung und Kindesmisshandlung.
Je brüchiger das Ideal, umso mehr sprießen Sehnsüchte danach. Der Traum von der glücklichen Familie erweist sich vor allem für viele Frauen bald auch als Albtraum – der im Wirtschaftswunder-Deutschland seine größte Blüte erlebte.
Das allermeiste am klassischen Familienideal war nie real – war eine Fantasterei, ein Wunschtraum, ein Utopia, obendrein ein männlich geprägtes, zu dem die Frau zwar als unverzichtbares, aber, zumindest in den jüngeren patriarchalischen Gesellschaften nie als gleichwertiges Element gehörte.
Es ging bei der Emanzipation nie um Gleichmacherei wie Frau Herman behauptet. Es ging um Gleichwertigkeit. Der erste Schritt dazu liegt schon eine Weile zurück und bestand in der Anerkennung der Tatsache: Die Frau ist ein vollwertiges menschliches Wesen, dem Manne ebenbürtig (nicht gleich) und deshalb mit ebenbürtigen Rechten auszustatten. Gleiche Rechte erhielten die Frauen zuerst im Staate, um Ebenbürtigkeit in Wirtschaft und privatem Heim wird noch gestritten. Womit wir wieder am Ausgangspunkt meines Vortrages angekommen wären.
ALLE SIND FÜR MEHR KINDER
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Gibt es eigentlich keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen Emanzipations- befürworten und Gegenemanzipierern?
Doch, die gibt es in zwei zentralen Punkten:
A) Wir sehen eine ganz Große Koalition für mehr Geburten und Kinder in Deutschland.
B) Es gibt auf allen Seiten einen erkennbar heftigen Widerwillen dagegen, dass das Leben von Frauen und Familien völlig den Interessen der Wirtschaft untergeordnet wird.
Ad a): Große Koalition für mehr Kinder umfasst alle politischen Parteien und die Mehrheit der Bevölkerung. Die kinder- und ehelosen Bischöfe sind ebenso dafür wie Frau Herman, der Herr Schirrmacher, die siebenfache Mutter von der Leyen und selbst die dreifache Mutter Radisch.
Letztere, Radisch, hält die Angst vorm Aussterben immerhin für übertrieben und die aktuelle Gebär-Propaganda für unerträglich. Ihre Position: Wenn wir mehr Kinder wollen, müssen wir Partnerschaft und Familie neu und anders erfinden, müssen wir nicht zuletzt das Arbeitsleben familiengerecht grundlegend umkrempeln.
Stimmen, die im Sinken der Geburtenrate kein großes Problem oder gar einen Segen sehen, gibt es nur vereinzelt.
Und das ist eine außerordentlich seltsame Entwicklung in den vergangenen 10 Jahren = Paradigmenwechsel in Sachen Einstellung zur Bevölkerungsfrage:
In 70/80/90ern war Common Sense = Hauptproblem der Menschheit ist die explosionsartig anwachsende Überbevölkerung der Erde. (3 MR in den 50ern, 6,5 heute, 9 bis 10 MR bis Mitte des Jhdt.).
Kriege um Wasser, Acker- und Siedlungsfläche, Rohstoffe wurden prognostiziert. Ebenso verheerende Einflüsse auf Umwelt durch Energiehunger via Industrialisierung der Entwicklungsländer.
Auto-Beispiel: 1,3 MR Chinesen und 1 MR Inder streben nach westlichem Lebensstandard. Bei einer Autorate von 1 pro 2 Menschen würde das mehr als 1 MR zusätztliche Autos weltweit bedeuten. Folgen…….., irrwitzig.
Zentrales Anliegen der UNO: Globale Bevölkerungsbegrenzung. Dabei Hilfreich: sinkende Geburtenraten auf der Nordhalbkugel.
Paradigmenwechsel dort wg. Panik vor demographischer Entwicklung: Die Deutschen sterben aus, Renten nicht mehr bezahlbar etc.
Jetzt seltsame Global-Konfusion: UNO müht sich um Bevölkerungskontrolle in der dritten Welt, Industriestaaten unternehmen gewaltige Anstrengungen um bei sich Geburten zu steigern. Kontraproduktiv.
Geistig = Unwille/Unfähigkeit globales Dorf auch als solches zu begreifen. Widerspruch = Man kann nicht wirtschaftlich global handeln, ansonsten aber die Welt mit nationalen Mauern überziehen.
Das ist nicht haltbar, wie die bereits stattfindende Völkerwanderung von Süd nach Nord zeigt. Sie wird stärker werden, beschleunigt noch durch Klimawandel, egal ob der natürliche oder menschliche Ursachen hat.
Folgerungen ad a):
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Ausweitung der Migration ist nicht abzuwenden.
Die angebliche Bedrohung durch Bevölkerungsschwund und entleerte Landschaften in DT. ist eine Schimäre – globales Menschreservoir ist schier unerschöpflich.
Selbst wenn stimmen sollte, was Bevölkerungstatistiker für DT. ausrechnen: Was wäre so schlimm daran, wenn 2050 8 bis 10 Prozent weniger Leute in DT leben würden? DT Reich hatte zur zeit der größten Ausdehnung unter Hitler gerade 70 Mio Staatsbürger.
Alle Problemstellungen im Zusammenhang mit den Sozialsystemen sind Fragen der Arbeitsproduktivität, der Arbeitsentwertung, der Arbeitsverteilung.
EXKURS: DIE PILLE
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Dass die Demographie-Hysterie ausgerechnet zur Jahrtausendwende mit solcher Macht ausbricht, ist von der Sache her nicht begründbar.
Erstens:
Ich selbst, Jahrgang 1955, gehöre zur Generation der Babyboomer. D.h. ich bin ein Kind der Geburtenexplosion in Deutschland nach dem Weltkrieg. Meine etwas jüngere Schwester ist eine der letzten Babyboomer-Vertreter. Denn in den 1960ern brach die Geburtenrate fast schlagartig ein und sinkt seither kontinuierlich. Das Phänomen sinkender Geburtenrate begleitet die Bundesrepublik seit rund 40 Jahren. Man wusste davon.
Und woher kommt´s? 1951 meldete der Chemiker Carl Djerassi ein Derivat des weiblichen Geschlechtshormons Progesteron in den USA als ein Verhütungsmittel zum Patent an. Am 18.8. 1960 kam die erste Antibabypille unter dem Namen „Enovid“ auf den amerikanischen Markt; ein Jahr später brachte sie die Berliner Schering AG mit „Anovlar“ in Deutschland heraus.
Binnen nur 5 Jahren wurde die Pille zum meistgebrauchten Medikament der nördlichen Hemisphäre, bald ergänzt durch Spirale, Spermien abtötende chemische Implikatoren und neuartige Präservative. Pille und Co. Verursachten in den Industrieländern eine tatsächliche welthistorische Kulturrevolution –
und wir werden noch bedauern, dass diese auf der südlichen Welthalbkugel erst sehr viel später in Gang kam und bis heute viel zu langsam voran kommt.
Frau Herman irrt, wenn sie die Schuld für den dt. Geburtenrückgang ursächlich im heutigen Ergebnis der Frauenemanzipation seit den 60ern sucht, ausgelöst von 68er-Bewegung. Umgekehrt wird ein Schuh draus:
Zuerst war die Pille – sie wurde zum entscheidenden Katalysator für eine stürmisch sich entwickelnde Emanzipationsbewegung.
Mit der Pille konnte ein Jahrtausende währendes, meist vergebliches Suchen der Frauen nach effektiven Verhütungsmitteln, endlich zum Erfolg geführt werden……. (Kräuterweiber, Beschwörungen, Kondome aus Leder und Holz, Abtreibungen etc.)
Die Frau wurde von der Diktatur der ungewollten Empfängnis befreit. Verhütung war nicht länger auf den Goodwill der Männer angewiesen. Plötzlich hatten die Frauen es in der Hand, zu empfangen oder nicht. Damit war ihnen die objektive Möglichkeit einer eigenständigen Lebensplanung in die Hand gegeben –erstmals in der Menschheitsgeschichte.
AD B = GEMEINSAMKEIT EMANZIPATION/GEGENEMANZIPATION:
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Es gibt auf allen Seiten aus einen erkennbar heftigen Widerwillen dagegen, dass das Leben von Frauen und Familien völlig den Interessen der Wirtschaft untergordnet wird.
Das ist ein wirklich sehr ernst zu nehmender Faktor.
Die Erwerbstätigkeit oder die potenzielle Möglichkeit dazu ist für Frauen aus ganz lebenspraktischen Gründen ziemlich wichtig: Wenn heute im Bundesdurchschnitt jede dritte Ehe geschieden wird, in den Großstädten fast jede zweite = leicht auszurechnen, welches Ausmaß Frauenarmut annehmen würde, hätten die meisten keinen Beruf, keine Berufserfahrung oder erst gar keine Berufsausbildung.
Liebe ist eine wunderbare Sache und Treue ist es auch. Aber eine Garantie auf ewige Haltbarkeit der diesbezüglichen Schwüre gibt es eben nicht. Das Leben geht nur allzu oft gerade nicht den Weg der hehren Ideale.
Heuzutage erst recht nicht, da berufliche Flexibilität bis in die späte Nacht und übers Wochenende verlangt wird, wo Mobilität quer durch die Republik und ins Ausland Grundforderung für viele Jobs ist.
Und schlechte Karten hat im Falle der Trennung dann immer derjenige, der ganz und gar auf die Versorgung durch den Partner gebaut hat, und der nicht in der Lage ist, sich selbst zu ernähren. Wenn trifft das am meisten: Frauen, Mütter mit Kindern und vor allem ältere Frauen.
Von daher ist Berufstätigkeit oder die Befähigung zur Berufstätigkeit im Bedarfsfall als Notnagel für das Scheitern von Beziehungen nicht zu unterschätzen.
Nun beklagen wir, auch das völlig zu recht, oft die Ökonomisierung aller Lebensbereiche durch den modernen Globalkapitalismus. Leistungsprinzip allüberall, sogar in der Liebe. Rentabilitätshetze in Krankenhäusern, Altenheimen, Theatern und Museen, sogar in der Kirche und auf dem Friedhof. Schule und jetzt auch Kindergarten wird nicht mehr als Ort der Menschenbildung verstanden, sondern als Ort, in dem funktionstüchtige Arbeitskräfte geschmiedet werden. Es gibt kaum noch einen Wert an sich, Wert hat nur noch, was sich im Endeffekt wirtschaftlich rentiert.
So ist es denn auch kein Zufall, dass Frau von der Leyen sehr starken Zuspruch von den Verbänden der deutschen Wirtschaft erhält. Dort gibt es ein grundlegendes Interesse an berufstätigen jungen Frauen. Nur werden natürlich Schwangerschaft und Mutterschaft als störende Faktoren empfunden. Frauen mit kleinen Kindern stellt man ungern ein, weil ihre Einsetzbarkeit der Kinder wegen begrenzt ist. Eine Optimierung der Fremdbetreuung in staatlicher Hand und auf staatliche Kosten käme deshalb der Wirtschaft sehr gelegen.
Interessanter Weise ist bislang kaum ein Unternehmen auf die Idee gekommen, selbst Hand anzulegen und wiederzubeleben, was es in der Frühzeit der Bundesrepublik als Tendenz schon einmal gegeben hat: betriebliche Kitas, Familienmittagstisch in der Betriebskantine, tarifvertraglich garantierte Kinderversorgungszeiten während der Arbeitszeit, betriebliche Sport- und Freizeiteinrichtungen auch für Kinder und Ehepartner der Betriebsangehörigen. Man hielt einmal solche Dinge für einer wirklich Sozialen Marktwirtschaft angemessen. Es blieb leider bei Anfängen, die schon während der ersten Konjunkturdellen auch als erstes wegrationalisiert wurden.
Heute tut die Wirtschaft, als ginge sie die gesamte Familien- und Jugend- und Altersproblematik nichts an. Arbeit ist Arbeit, um alles andere soll sich der Staat und der liebe Gott kümmern. Es wird nur reichlich lamentiert, wenn gesellschaftliche Probleme dann auf die betriebliche Wirklichkeit rückwirken.
RESÜMEE:
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So ist die Erwerbstätigkeit der Frauen eine zweischneidige Angelegenheit: Einerseits Element der Selbstverwirklichung, des Verdienens von eigenem Geld, der Verminderung der Abhängigkeit vom Manne. Andererseits unterwirft Erwerbstätigkeit die Frauen auch allen Schattenseiten der Lohnarbeit.
UND: Die Lasten von Mutterschaft und Hausfrauenschaft bleiben ihr dennoch in den meisten Fällen zusätzlich aufgebürdet.
Das ist in der Tat ein arges Dilemma,
aus dem Herman, Schirrmacher, Mixa den Frauen als Ausweg den Verzicht auf Erwerbstätigkeit nicht nur anbieten, sondern geradezu abverlangen.
Ein Ausweg, der für die allermeisten Frauen allerdings keiner ist,
weil er sie zurückwerfen würde auf den Status ihrer Großmütter;
weil er sie zurückzwingen würde in die von ihnen so empfundene Enge der familiären vier Wände;
weil er sie wieder hineindrängen würde in die totale Anhängigkeit vom Ehegatten;
weil obendrein heute das Einkommen eines Verdieners oft objektiv nicht mehr hinreicht, die Familie über Wasser zu halten.
Die Rückkehr der Frauen in einen Regelzustand, in eine Norm als Hausfrau und Mutter, dieser Zug ist längst und entgültig abgefahren.
Ich kenne viele Frauen, die als Berufstätige schwanger wurden, dann mit Freuden in ihren Mutterschutz gegangen sind. Die sechs Monate, ein Jahr, manchmal auch eineinhalb daheim geblieben sind – um dann mit größter Selbstverständlichkeit den Wiedereintritt ins Berufsleben vorzubereiten. Dann aber begannen die eigentlichen Probleme erst: Denn Arbeitswelt und bisheriges Kinderbetreuungswesen passen nicht zueinander – und das für nachfolgende 12, 14, 16 Jahre bis die Sprösslinge allein zurecht kommen. Mit den Männern brauchten sie meist nicht zu rechnen, und mit Verständnis auf der Arbeit gleich gar nicht.
ABSCHLIESSEND:
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Mit der nochmaligen Frage, warum diese Frauen nicht einfach zu Hause geblieben sind, komme ich zum Ende.
Die Antwort ist eigentlich denkbar einfach: Weil diese Frauen daheim in der Rolle als Hausfrau und Mutter sehr bald sehr unglücklich geworden wären. Und weil unglückliche Mütter für die Erziehung von Kindern alles andere als Glücksfälle sind. (Unglückliche Väter übrigens auch).
Ich möchte betonen, dass das nicht für jede Frau gilt. Auch Frauen sind, Gott sei dank, sehr verschieden. Deshalb darf in Deutschland, wer mag und sich dabei gut fühlt, den Lebensweg der ausschließlichen Hausfrau und Mutter beschreiten. Umgekehrt muss aber auch gelten: Dass andere Frauen andere Wege beschreiten dürfen.
Dass in beiden Fällen die häusliche und mütterliche Arbeit weder gesellschaftlich, noch von Staats wegen angemessen gerechnet und anerkannt wird, ist eine Schande.
Vielleicht wirft mir nun der eine oder andere von Ihnen vor, ich habe das Wohl der Kinder und der Familie zu wenig im Auge. Da widerspreche ich entschieden und empfehle die Lektüre des „Stern“ der vergangenen Woche. Dort wird aufschlussreich entwickelt, dass Familie ein guter Ort für Kinderaufzucht sein kann, es aber keineswegs von Natur aus ist. Dass vielmehr in Deutschland heute etwa 35 Prozent der jungen Familien mit der Erziehung von Kindern weitgehend bis völlig überfordert sind. Auch und manchmal gerade dort, wo junge Mütter den ganzen Tag daheim sind.
Will sagen: Die Lebenswirklichkeit ist – und war es, wie wir gehört haben, auch in früheren Zeitaltern schon – mit dem Beharren auf realitätsfernen Idyllebildern weder verstehbar noch erklärbar. Erst recht nicht lässt sie sich damit bewältigen oder gar verändern. Weshalb es einerseits mit der von Frau Herman und Herrn Mixa herbeigesehnten Gegenemanzipation nix werden wird. Weshalb andererseits die Herstellung von besseren Bedingungen für die Erwerbstätigkeit von Müttern nicht als Vollendung der Frauenemanzipation missverstanden werden darf.
Andreas Pecht