ape. Zwei Drittel der Deutschen halten sich für religiös. Drei Viertel meinen, die Regierung tue zu wenig für soziale Gerechtigkeit. Und für fast alle ist Liebe das Wichtigste und Schönste auf Erden. Größer kann der Widerspruch zwischen ideeller Herzensstimmung und einer nahezu allumfassend auf Effizienz, Nützlichkeit, Rentabilität ausgerichteten Gegenwart kaum mehr sein. Zum Jahresbeginn 2008 einige Gedanken über das sich verstärkende Befremden zwischen der Realität und dem Menschlichen.
Ein Gespenst geht um in der Welt. Das Gespenst der Marktgesellschaft. Marktgesellschaft? Wir kennen das Wort Marktwirtschaft, begreifen es als Synonym für eine Kapitalismus genannte Wirtschaftsweise. Wir wissen um die Soziale Marktwirtschaft und verstehen darunter einen domestizierten, gezähmten Kapitalismus, der nicht zuletzt auf soziale Gerechtigkeit verpflichtet ist, sein sollte. Was aber meint Marktgesellschaft?
Der in jüngerer Zeit vermehrt im öffentlichen Diskurs auftauchende Begriff ist nicht wirklich neu. Im vergangenen Jahrhundert wurde er häufig nur als anderer Ausdruck für Marktwirtschaft benutzt. Oder er bezeichnete schlicht eine auf marktwirtschaftlicher Basis agierende Gesellschaft. „Marktgesellschaft“, ein im Grunde also unverdächtiges Wort – dem sich neuerdings aber ein bedrohlicher Unterton beigesellt. Der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer spricht von einem aktuell „forcierten Übergang von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft“. Der zeige sich darin, „dass ökonomistische Prinzipien wie Effizienz und Nützlichkeit das soziale Leben durchdringen und andere, nicht marktrelevante Grundsätze zurückdrängen“.
Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit, letztlich Rentabilität werden in Bereichen zu Leit-Maßstäben, in denen vordem Mitgefühl und Fürsorge, Muße und zweckfreies Spiel, Liebe und Lust, ungebundene Geistigkeit und frei schwebende Gefühligkeit vorherrschten: Soziale Pflege und Solidarität, Kunst und Kultur, Partnerschaft und Familie, Kindheit und Bildung beispielsweise. In diesem Sinne bedeutet „Marktgesellschaft“, zugespitzt formuliert: Die Gesetze des Marktes durchdringen, prägen und dominieren die gesamte Gesellschaft. Alle Werte werden in Geldwerte umgemünzt, alle Maßstäbe entlang der Kategorie Nützlichkeit geeicht.
Heitmeyers Forschungen über „Deutsche Zustände“ befassen sich mit Einstellungen der Deutschen gegenüber wirtschaftlich schwachen Gruppen wie Fremden, Obdachlosen, Langzeitarbeitslosen oder Behinderten. Und er findet „Hinweise auf die moralvernichtenden Effekte des dominierenden Marktes“, insofern unter den allgemein sich verstärkenden Nützlichkeits-Aspekten abwertende Haltungen gegenüber schwächeren Bevölkerungsgruppen zunehmen. „Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten“, dieser Aussage stimmten bei einer Umfrage 33,3 Prozent der befragten Deutschen zu. Die These „wir nehmen in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht auf Versager“ erfuhr 42,3 Prozent Zustimmung.
Die ökonomistische Orientierung ist in den Köpfen angekommen, ringt dort mit älteren sozialen und humanen Grundeinstellungen. Der Wandlungsprozess von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft geht schleichend vor sich. Erst der Rückblick macht das Ausmaß seines Fortschreitens auch auf Feldern bewusst, die man für weitgehend unanfällig gehalten hatte. Kunst und Kultur beispielsweise haben während der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte einen tief greifenden Bedeutungswandel vom „weichen Gesellschaftsfaktor“ zum „harten Wirtschaftsfaktor“ durchgemacht.
Als zu Beginn der 90er Sparwellen durch die Kulturförderung der Öffentlichen Hand zu fluten begannen, versuchten Intendanten, Festivalmacher, Künstler ihr Metier in den Rang eines ökonomisch nützlichen Elements für den Standortwettbewerb zu erheben. Eine in dieser Szene ungewöhnliche Argumentation, die Anfangs oft bloß als bemühter Lobbyismus in eigener Sache belächelt wurde. Heute spielt das kulturelle Angebot bei jeder Regionen-Bewertung, jedem Städte-Ranking und jeder Prognose auf die Zukunftschancen urbaner wie ländlicher Quartiere im Orchester aus Gewerbe, Verkehrserschließung und Bildungseinrichtungen gleichberechtigt mit. Heute klotzen und protzen Landes- und Kommunalpolitik sowie Tourismuswerbung mit allem, was sich am Ort irgendwie als Kunst und Kultur bezeichnen lässt. Burgen und Schlösser, Theater und Museen, Kulturfabriken und Kleinkunstclubs, Festivals und Sonderevents aller Künste: Wehe der Stadt, die derartiges nicht zu bieten hat.
Kunst und Kultur sind somit nicht länger zivilisatorische Werte an sich, sie werden tatsächlich als Wirtschaftsfaktor begriffen. Und als solcher auch bewertet: Wie man den Wert einer Fernsehsendung nach der Einschaltquote bemisst, so nunmehr den Wert von Konzerten, Ausstellungen oder Theaterinszenierungen nach der Menge und Zahlungsfähigkeit des Publikums, das sie mobilisieren. Keine Frage: Vor vollem Haus zu spielen ist angenehmer als vor halbvollem oder fast leerem. Wenn die Künstler allerdings anfangen, sich im Hinblick auf Publikums-Zugkraft zu verbiegen, dann verabschiedet sich die Kunst von ihrem Selbstverständnis. Kunst und Kultur werden sich selbst fremd, sobald sie ökonomische Nützlichkeit als Primat fürs eigene Schaffen anerkennen.
Dies ist eine schwierige Diskussion, weil in den meisten Köpfen längst als selbstverständlich gilt, dass auch Kunst „sich rechnen muss“, sich durch Nützlichkeit zu legitimieren hat. Ein Selbstverständnis indes, das deutscher Geistestradition widerspricht, wie wir sie in der Weimarer Klassik, im Idealismus, in der Romantik begründet finden. Den Rückgriff auf diese Tradition mahnt eines der wohl wichtigsten Bücher des Jahres 2007 an: Rüdiger Safranskis „Romantik. Eine deutsche Affäre“ (Hanser). Darin werden Philosophie und Literatur vom Ende des 18. Jahrhunderts und das ganze 19. hindurch dargestellt als Gegenbewegung zum ebenso gefühlskalten wie geschäftstüchtigen Negativ-Ausfluss des Rationalismus: dem Diktat der Nützlichkeit, das etwa Friedrich Schiller so sehr beklagt: „Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht.“
Schiller auch war es, der uns vor mehr als 200 Jahren ins Stammbuch schrieb, dass das ureigentlich Menschliche sich nicht aus wirtschaftlichem Tun definiert, sondern „der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt“. Der Dichterphilosoph meint mit „Spielen“ Freiheitsräume gegenüber den Diktaten von animalischen Affekten sowie von Geschäften und profaner Nützlichkeit. In diesem Sinne ist, so fasst Safranski den Schiller zusammen, „Kunst also erstens Spiel, zweitens Selbstzweck und drittens kompensiert sie die spezifische Deformation der bürgerlichen Gesellschaft: das entwickelte System der Arbeitsteilung“. Das Spiel der Kunst ermuntere den Menschen zu tun, was ihm Arbeitsteilung und Marktdominanz verwehren: Alle seine Kräften zu entfalten – Verstand, Gefühl, Einbildungskraft, Erinnerung und Erwartung. Diese Funktion aber kann die Kunst nur erfüllen, „wenn sie sich selbst will“, wenn sie – wie Liebe, Freundschaft oder bisweilen die Religiosität – ihren Zweck in sich selbst findet. Dann „kann es geschehen, dass sie (die Kunst) auch, gewissermaßen unbeabsichtigt, der Gesellschaft dient“.
Der Gedanke von der Vollendung des Homo sapiens im autonomen Homo ludens, im spielenden Menschen, stellt gewissermaßen den Gegenpol zur Marktgesellschaft dar. Dieser Zusammenhang wird nirgendwo deutlicher als im gegenwärtigen Umgang mit Kindheit und Schulzeit. Ausgerechnet jene Lebensphase, in der das Spielen noch am meisten als urwüchsig das Individuum bildende Kraft wirkt, soll nun fortschreitend verschult werden: die Kindheit. Kindergärten werden zu Institutionen frühschulischer Ausbildung umgemodelt. Der natürliche Spieltrieb der Kleinen wird kanalisiert, wird „nutzbar“ gemacht als Instrument früher Schulung. Ehedem freies Spiel verwandelt sich in von Erwachsenen vorgegebene Lernstrukturen – zum Zwecke der Effizienzsteigerung des gesamten Bildungsweges.
Natürlich, diese Entwicklung wird in teils guter Absicht vorangetrieben: Um Defizite und Ungleichgewichte auszugleichen, die Familien, Gesellschaft, Umwelt, Kultur und Unkultur den Kindern mit in die Wiege legen und auf den Weg geben; um die späteren Chancen des Nachwuchses auf dem Überlebens-Markt zu verbessern. Aber wird da nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Stiehlt man den Kindern nicht auch die Kindheit, wenn man ihr Spiel seiner selbstvergessenen Zweckfreiheit, seiner anarchischen Neugier beraubt und es vollends einem strikten Reglement der Nützlichkeit unterwirft? Ähnliche Fragestellungen lassen sich gegenüber den nachfolgenden Bildungsgängen aufwerfen. Man lernt für das Leben, nicht für die Schule – diese uralte Weisheit ist in ein großes Missverständnis umgeschlagen, insofern heutzutage unter Leben zumeist bloß Erwerbsleben verstanden wird.
„In demselben Maße, wie die Gesellschaft im Ganzen reicher und komplexer wird, lässt sie den Einzelnen in Hinsicht auf die Entfaltung seiner Anlagen und Kräfte verarmen“, schreibt Safranski in Anlehnung an Rousseau, Schiller, Hölderlin und Hegel, an Karl Marx und Max Weber. Wir finden diese Aussage bestätigt etwa in der Verkürzung der Gymnasial- und Studienzeiten, im wachsenden Anteil der technisch-naturwissenschaftlichen Fächer am Schulunterricht, in der Verschulung des Hochschulstudiums im Rahmen des Bologna-Prozesses. Das gesamte Bildungswesen hat sich von Humboldt verabschiedet und den Weg zum wirtschaftlich nützlichen Ausbildungswesen eingeschlagen. Sicher, das erhöht die Chancen des Einzelnen auf den Märkten. Zugleich aber reduziert es seine Chancen auf Ausformung einer im humanistischen Sinne reifen Persönlichkeit. Eigentlich steht die Bildungspolitik also vor einem schwerwiegenden Dilemma. Doch sorgt sie sich darum eher wenig, weil sie mit forschem Pragmatismus die Weichen längst in Richtung wirtschaftliche Nützlichkeit gestellt hat.
Die Entwicklung zur Marktgesellschaft macht weder vor Kunst und Kultur noch vor Kindheit und Bildung halt. Sie macht vor gar nichts halt. Sport zum Beispiel ist ein großes Geschäft, und Freude daran genügt nicht mehr als Motiv, ihn auszuüben: Sport ist nützlich, er stärkt die Gesundheit, erhöht das Leistungsvermögen und verlängert das Leben. Selbst der Kampf um den Erhalt unserer Umwelt folgt nicht der Einsicht ins Notwendige, sondern gehorcht den Gesetzen des Marktes; siehe CO2-Ablasshandel. Entweder wird Klimaschutz zu einem großen Geschäft oder es findet keiner statt – die internationale Umweltpolitik hat sich nicht erst in Bali dieser Logik hingegeben. Und sogar das Kinderkriegen darf nicht mehr einfach um seiner selbst willen betrieben oder unterlassen werden: Kinder zu zeugen, gilt hier und heute vor allem als ökonomische Notwendigkeit zwecks Beschaffung von Geldmitteln für die Sozialsysteme.
Die Krux am rationalen Nützlichkeitswahn ist: Er macht, vielleicht, den Magen voll, lässt aber das Herz frieren und verödet mannigfach sinnliche wie intellektuelle Potenziale. Kurzum: Ein vollends zur Marktgesellschaft verkommenes Gemeinwesen verurteilt seine Individuen dazu, eine Existenz als „Bruchstücke“ (Schiller) ihrer selbst zu führen. Wenngleich auf wesentlich niedrigerem Niveau als heute, so bestand diese Tendenz doch bereits im 19. Jahrhundert. Die große geistig-kulturelle Gegenbewegung dazu war die Romantik, diese schwärmerisch-seelenvolle Hinwendung zum Fantastischen, Träumerischen, Ganzheitlichen, auch Metaphysischen – zur verspielten und deshalb „erhabenen Nutzlosigkeit“. Klägliche Überreste davon treiben uns heute zu Romantikabenden in Romantikhotels oder vor die Leinwände und Mattscheiben, über die mit Sehnsüchten nach Herzenswärme und freiem Abenteurertum aufgeladene Schinken flimmern. Vom romantischen Universalgeist ist das kleine Glück eines verdrückten Tränchens oder kurzen Schauderns geblieben. Aber auch das gehört längst zum Geschäft.
Andreas Pecht
Erstabdruck am 2. Januar 2008 in der Rhein-Zeitung, wo seit den späten 1990ern im Kulturteil jährlich mein „Neujahrsessay“ publiziert wird