Es wird einem ja ganz schwindelig von so viel grundstürzenden Weltveränderungen im Eilzugtempo. Die CSU vom Jahrhundertthron gekippt. Die letzte der alten Supermächte (USA) mit der Schnauze im Dreck. Ihr präsidialer Bush der unbeliebteste Typ weltweit. Die globale Wirtschaftselite vermisst zwischen Frühstück und Feierabend plötzlich ein Portemonnaie mit 3000 Milliarden Dollar drin. Am Spielautomaten versemmelt oder Kolleginnen von Brigittche (1) selig ins Höschen gesteckt – wie die TuS-Kicker vor Rostock ihren Verstand?
Nichts Genaues weiß keiner. Der siegreiche Weltkapitalismus jedenfalls plötzlich auf dem letzten Loch pfeifend. Seine Helden geteert und gefedert auf den multimedialen Straßen spießrutenlaufend. Seine schreibenden, dozierenden, singenden Parteigänger von eben aufheulend wie betrogene Liebhaber, und ebenso rachsüchtig. „Neoliberal“ wird zum Unwort des Jahres, „freier Markt“ zum Synonym für Pestilenz. Privatisierung klingt wie Abrisskommando, Börsengang wie Mehdorn, Finanzmanagement nach Kannnitverstahn. Omas Matratze und Opas Genossenschaftsbüchse kommen als Geldanlage auch für Gutbetuchte in Mode. Die Banker sind schuld, der Papst verhängt den Bann über sie.
Die Kanzlerin probiert eine neue Rolle und befiehlt die Herren des Geldes zum Rapport. Der Finanzminister macht’s nach und versohlt den Ackermännern den Hintern. Der Staat rettet die Welt vor der Geldmarkt-Anarchie. Die politischen Aufseher über die Staatsbanken entkommen indes knapp der Guillotine, weil: Aus Blödheit mitzocken, duldend wegsehen oder von Tuten und Blasen keine Ahnung haben fällt bei Staatspersonal unter Unzurechnungsfähigkeit. So einfach lassen wir die privaten Wirtschaftsführer nicht aus. Deutsche Massenblätter schreien nach Käfigen für den Raubtierkapitalismus. Die Chefsprecher von heute-journal wie Tagesthemen rufen Lenin zu Hilfe: „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“.
Bischof Marx donnert von der Kanzel wider Kapitalistengier. Sein historischer Namensvetter aus Trier ist dieser Tage der meistzitierte Klassiker, dessen „Kapital“ wurde seit Jahren nicht mehr so gut verkauft wie heute. Deutschland hat seinen Verteidigungskrieg am Hindukusch verloren, unsere Soldaten kämpfen nur noch ums nackte Überleben. Der greise Marcel Reich-Ranicki haut der versammelten Fernseh-Mischpoke ein giftiges „Blödsinn!“ um die Ohren. Elke Heidenreich legt „hirnlose Scheiße“ aus „verlotterten Sendern“ nach. Worauf Freund Walter und ich jubelnd anstoßen: Wunderbar, auf ewig Dank, beiden!
PFFFfffffff.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, liegt das alles schon ein paar Tage zurück. So schnell, wie die Welt sich momentan dreht, sieht sie bei Erscheinen des Heftes (2) vielleicht schon wieder ganz anders aus. Womöglich hat die Bundesregierung inzwischen alle Banken verstaatlicht und im Gedenken an einstige SPD-Forderungen sowie an das erste CDU-Nachkriegsprogramm die großen Schlüsselindustrien gleich mit. Mag sein, die Berliner Koalition hat in Rückbesinnung auf den territorialen Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes die Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen zurückbeordert. Könnte sogar angehen, dass zwei, drei Herren, die in Rheinland-Pfalz Ministerpräsident waren, zwischenzeitlich ihre Vorreiterrolle beim Ermöglichen der hemmungslosen Ausbreitung des Privatfernsehens bedauern.
Am Ende ist keineswegs auszuschließen, dass nunmehr auch der letzte Mitbürger begriffen hat: Geld arbeitet nicht, es sind allein Menschen, die arbeiten. Wo es scheint, als vermehre sich Geld von selbst, liegt in Wahrheit vor, was Marx Enteignung der Produzenten und Brecht Diebstahl nannte: Zins und Profit, die oben abgeschöpft werden, sind unten erarbeitet worden. Falls nicht, wird nur mit heißer Luft gehandelt. Was also ist Finanzkapitalismus? Mal Hehlerei, mal der reine Blödsinn. Meist beides zugleich.
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(1) Brigittche hieß eine über Jahrzehnte allseits bekannte und vielfach beliebte Altstadt-Hure in Koblenz. Dieses „Original“ ist heuer im Sommer gestorben.
(2) „Heft“ meint die mittelrheinische Monatszeitschrift „Kulturinfo“, die jeweils zum Monatswechsel erscheint und stets auf Seite 2 meine Kolumne „Quergedanken“ enthält. Zwischen Redaktionsschluss und Erscheinen des Heftes liegen in der Regel knapp zwei Wochen.