Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Britannien und die (musikalische) Klassik Europas

Über die Anziehungskraft des historischen englischen Musikmarktes auf Komponisten (Händel, Haydn, Mendelssohn Bartholdy) vom Kontinent

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(Unkorrigiertes Rohmanuskript für einen Langvortrag im Rahmen einer halbtägigen Veranstaltung der Marienberger Seminare am 4. Juli 2009 in Bad Marienberg. Der mündliche Vortrag wich teils erheblich vom Manuskript ab)

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ape. Meine sehr verehrten Damen und Herrn,

„Britannien und die Klassik Europas“ ist unsere heutige Veranstaltung betitelt. Gemeint ist die musikalische Klassik, weshalb es im Verlaufe des Nachmittags selbstverständlich auch eine ganze Menge Musik geben wird.
Und zwar live dargeboten von unseren beiden Gästen Frau Ulrich und Herr Siefert.

Sie werden das Seminar mit drei kleinen Konzertblöcken zwischendurch auflockern und mit einem weiteren Block beschließen. Die beiden haben dafür Stücke von eben jenen Komponisten ausgewählt, die in meinem Vortrag eine große, kleinere oder ganz kleine Rolle spielen. Wobei diese Musik hier nicht als Unterrichtsmaterial missbraucht werden soll. Vielmehr wird sie in erster Linie gegeben, um Sie/uns an diesem Nachmittag zu erfreuen.

Zusätzlich werde auch ich noch etwas Musik beisteuern. Dafür allerdings nicht selbst zum Instrument greifen, Gott bewahre Sie davor. Sondern bloß die eine oder andere CD auflegen lassen, damit Sie ein paar Höreindrücke von größer besetzter Musik aus dem Schaffen der zur Rede stehenden Komponisten gewinnen können.

*** Freie Vorrede über
a) Großbritannien = Musiksupermacht des Pop-Zeitalters
b) Im 17./18. Jahrhundert klang die Musik ziemlich anders als wir es heute in der Regel gewohnt sind = Instrumente, Übebedingungen etc. ***

„Britannien und die Klassik Europas“. Wie kommt man freiwillig auf so ein Thema? Schließlich bin ich von keiner Seite gebeten, beauftragt oder gezwungen worden, mich dessen anzunehmen. Der Vorschlag für dieses Seminar kam von mir selbst. Ob das wirklich so eine gute Idee war, darüber geriet ich im Laufe der Vorbereitung auf den heutigen Vortrag allerdings mehrfach in Zweifel: Je näher ich an die Sache herantrat, umso uferloser erschien mir die Stofffülle. Wie also kommt man ohne Not auf dieses Thema?

Es ist da, war immer schon da. Bei jedem, der sich berufsmäßig oder als Hobby mit klassischer Musik befasst, flackert dieses Thema als Fragezeichen immer wieder am Rande des Blickfeldes auf. Man bereitet sich als Musiker, Dozent, Programmheftschreiber, Konzertbesucher oder Konzertkritiker auf sein jeweiliges Geschäft vor, und fast jedesmal stößt man wieder auf einen Hinweis, dass dieser oder jener Komponist zu diesem oder jenem Zeitpunkt das oder das mit London, mit England oder Schottland zu tun hatte.

Solche Hinweise gibt es nicht nur vereinzelt und gelegentlich, es gibt sie dauernd und in großer Fülle. Irgendwann verfestigt sich der Eindruck, dass England für viele namhafte Klassikkomponisten irgendwie wichtig war, und dass man deshalb dem historischen britischen Musikleben bei Gelegenheit mal erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden sollte – um dahinter zu kommen, warum es so wichtig war. Doch wie das so ist im Leben: Es bleibt beim guten Vorsatz. Bis, ja bis der Lauf der Zeiten zufällig die britischen Bezüge europäischer Klassik mit Macht auf die Tagesordnung und damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit drückt.

Solch einen Zufall brachte das Jahr 2009 mit sich: Eine Klumpung von für die Musikwelt bedeutsamen Jubiläen. Die da wären:
– 250. Todestag von Georg Friedrich Händel
– 200. Todestag von Joseph Haydn
– und 200. Geburtstag von Felix Mendelssohn Bartholdy
Es erschienen aus diesen Anlässen neue Biografien, die Zeitungen druckten große Würdigungen, Radio und Fernsehen taten das Ihre, Konzertprogramme und dazugehörige Programmhefte ließen sich verstärkt und vertiefend auf die drei Jubilare ein. Und was fiel plötzlich besonders auf: Alle drei hatten ein besonderes Verhältnis zu Britannien.

Händel lebte und arbeitete die letzten 50 seiner 74 Lebensjahre in England.
Haydn verbrachte insgesamt drei seiner späten Jahre auf den Inseln und hatte ernsthaft überlegt, auch dorthin umzusiedeln und die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Mendelssohn Bartholdy reiste während seines 38 Jahre kurzen Lebens neun oder zehn Mal für jeweils mehrere Wochen oder Monate nach England, das er seine „zweite Heimat“ nannte.

Damit der Zufallsklumpung nicht genug. Unabhängig von den musikalischen Jubiläen machte auch der rheinland-pfälzische Kultursommer eine seit vielen Jahren gehegte Absicht wahr: Er stellte das Landesfestival 2009 unter das Jahresmotto „Cool Britannia“, um einmal schwerpunktmäßig die teils uralten und vielfältigen kulturellen Beziehungen wie wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Großbritannien und Deutschland genauer in Augenschein zu nehmen. Das alles zusammen war für mich der unmissverständliche Wink mit dem Zaunpfahl, besagtes Fragezeichen vom Rande des Bildschirms zu holen, in dessen Mitte zu schieben und das seit Jahren latente Thema endlich mal in Angriff zu nehmen.

Deshalb stehe ich heute hier, spreche über „Britannien und die Klassik Europas“. Mein Vortrag wird sich konzentrieren auf das 18. Jahrhundert. Ein Schwerpunkt wird Georg Friedrich Händel sein, der Brite aus Halle an der Saale, weil sich an seiner Vita schön verdeutlichen lässt, was kontinentale Musiker immer wieder so sehr nach England zog, was dort anders war als in den Klassikzentren Österreichs, Italiens oder Deutschlands. Ich werde über Joseph Haydn sprechen und unter anderem der Frage nachgehen, was ihn bewogen hat, in schon recht fortgeschrittenem Alter sich auf ein großes britisches Abenteuer einzulassen.

Würde das Seminar zwei Tage dauern, könnten wir auch dem 8-jährigen Wolfgang Amadeus Mozart nach London folgen. Könnten ihn dort in enger Freundschaft mit und kindlicher Bewunderung für einen jungen Mann und Musicus namens Johann Christian Bach finden, dem jüngsten Sohn von Johann Sebastian Bach. Wir könnten Felix Mendelssohn Bartholdy wieder und wieder nach England begleiten, und uns beim Blick auf seine Konzertprogramme dort wundern, wie seltsam doch die Konzertgepflogenheiten dereinst waren. Ein Beispiel wenigstens will ich kurz erzählen:

Mendelssohn war ein musikalischer Frühentwickler, der schon als Knabe komponierte und zwar sehr ordentlich. Im alter von 11 Jahren hatte er ein Streichoktett geschrieben, also ein Stück für achtköpfiges Streicher-Ensemble. Zehn Jahre später, 1829, weilte Felix erstmals in London; er sollte und wollte dort seine 1. Sinfonie aufführen. Bei der Vorbereitung auf sein Konzertdebüt in England schaute er nochmal die Partitur für die Sinfonie durch. Der Menuett-Satz darin kaum ihm plötzlich „schrecklich langweilig“ und „monoton“ vor. Das Konzertprogramm brauchte seines Erachtens an dieser Stelle unbedingt ein bisschen Pep. Was tat der 21-Jährige? Er schrieb kurzerhand den Scherzo-Teil seines alten Streichoktetts für Orchester um – und ließ dieses muntere Stückchen mitten in die Sinfonie hinein spielen. An seine Eltern schreibt Felix nacher: „Das war sehr dumm, aber es klang sehr nett. Steinigt mich nicht!“

Da haben Sie, meine Damen und Herrn, eines jener Beispiele für eine historische Konzertkultur, die wir heute ganz ungehörig, ja völlig unmöglich fänden. Da wurden Sinfonien auseinandergerissen, besonders beliebte Sätze spontan wiederholt oder zwischen die Sätze ganz andere Stücke, Solistenauftritte, Tanzdarbietungen, Gedichtrezitationen oder Speis und Trank geschoben. Das strenge, puristische, ehrfuhrchtsvolle, ja fast gottesdienstliche Reglement der Konzerte, wie wir es kennen, ist eine noch recht junge Mode, geht wahrscheinlich zurück auf den maßlosen Genie-Kult der mittleren und späten Romantik.

Wenn wir dann noch mehr Zeit hätten, könnten wir die Blickrichtung auch einmal umdrehen und schauen, was urbritische Komponisten wie Henry Purcell oder Benjamin Britten zur europäischen Klassik beigetragen haben.

So aber wird kurz nach 18 Uhr hier die Abendverpflegung serviert, während bei mir daheim in einem Zelt vor dem Haus der Nachbar schon das erste Bierfass anschlägt, um das alljährliche Straßensommerfest zu eröffnen, in das auch ich mich dann alsbald zu stürzen gedenke. Also konzentrieren wir uns auf Georg Friedrich Händel und Joseph Haydn als Stellvertreter für viele, an denen exemplarisch ergründbar ist, was es mit der Beziehung zwischen Britannien und der musikalischen Klassik Europas Eigentümliches auf sich hat.

Jetzt aber wird es Zeit für den ersten musikalischen Block. ………………

Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn Bartholdy waren vier von vielen großen deutschen respektive deutschsprachigen Komponisten, für die Britannien von einiger Wichtigkeit war. Warum die Einschränkung „deutschsprachig“. Ei, weil „unser“ Mozart gar nicht uns gehört, sondern zeitlebens Österreicher war – und bloß für jene berüchtigten kurzen 1000 Jahre des Herrn Hitler dem großdeutschen Kulturerbe einverleibt. Weil auch Haydn ein Landsmann Mozarts war, also Österreicher. Und, weil schließlich Händel zwar Geburtsdeutscher war, dann aber doch Brite geworden ist.

Natürlich sind all diese nationalen Zuordnungen ohnehin fragwürdig oder zumindest unscharf. Denn sie wurden von der Nachwelt vorgenommen. In jener Zeit selbst war der Nationalstaatsgedanke noch gar nicht oder erst schwach entwickelt, man dachte in Reichen und Fürstentümern. Ethnisch gesehen könnte beispielsweise der in Niederösterreich geborene Haydn auch als Tscheche oder Slowake durchgehen. Musikalisch etwa griff er vielfach folkloristische Elemente auf, die aus der tschechischen Volkskulturlinie seiner Heimatregion stammen.

Wie sind unsere zwei heutigen Haupthelden zeitlich zu verorten?
Händel ist der ältere, geboren 1685 wie gesagt in Halle an der Saale und stammt also noch aus dem 17. Jahrhundert. Er starb 1759 wo? In London selbstredend. Dort wurde er am 20. April mit einem Staatsbegräbnis in Westminster Abbey inmitten der verstorbenen Könige und Lords von Britannien beigesetzt. Zur vergleichenden Erinnerung sei erwähnt: Mozart wurde von der Öffentlichkeit unbeachtet in einem Wiener Armengrab verscharrt.

Haydn kam 1732 im niederösterreichischen Rohrau zur Welt und starb 1809 in Wien.
Händel 1685 bis 1759, Haydn 1732 bis 1809.

Ich mache nun etwas, was bei allen, auch den bedeutendsten Komponisten üblich und völlig normal war: ökonomische Nutzung des eigenen Oeuvres in Form von Mehrfachverwendung eigener Ideen, Stücke, Kompositionsteile für diverse Werke. Wer von Ihnen neulich bei unserem Bach-Seminar dabei war, wird sich erinnern, dass der große Johann Sebastian Bach ausgiebig mit solchen Synergien arbeitete. Ja dass er nicht einmal davor zurückscheute, auch Werke von Kollegen und Vorläufern als Ideen-Steinbruch zu benutzen. G. F. Händel, mit dem wir uns nun gleich etwas genauer befassen, machte von der Kunst der Mehrfachnutzung wohl noch um einiges mehr Gebrauch als der alte Bach. Aber was heißt hier alter Bach: Händel und der Leipziger Thomaskantor sind Zeitgenossen. Die beiden musikalischen Großmeister des Barock sind sogar Jahrgangsgenossen – beide geboren 1685.

Weshalb ich nun, der Praxis der Großen folgend, mühelos ein Kapitel aus meinem eigenen Bach-Vortrag klauen und heute in anderem Zusammenhang ein zweites Mal verwenden kann. Zitat Pecht, dabei den Namen Bach durch Händel ersetzend:

„Lassen sie uns ganz kurz und grob klären, in welchem welthistorischen Umfeld wir uns bei der Beschäftigung mit G.F. Händel bewegen. Als Händel 1685 zur Welt kommt, herrscht Ludwig der XIV. (der Sonnenkönig) im 42. Jahr über Frankreich, 30 weitere sollten noch folgen. Der Westfälische Friede und damit die Neuordnung Europas nach katholischen und protestantischen Einflusssphären liegt 37 Jahre zurück. Während Händels Lebzeit schwingt sich Preußen von einem bedeutungslosen Fürstentum zum Königreich von europäischem Gewicht auf, versucht Zar Peter der Große Russland zu einer modernen europäischen Großmacht zu entwickeln. Kurzum: Händel wird ins „Zeitalter des Absolutismus“ und der Aufklärung hineingeboren, und zwar – genau wie Bach – auf der protestantischen Seite. Zu seinen Zeitgenossen zählen etwa Isaac Newton, John Locke, Leibniz, Voltaire, Rousseau. Was sagt uns das? Die Welt zu Händels Zeit befand sich auf allen Ebenen im Umbruch und steckte voller Widersprüche – politisch, technisch, ökonomisch, geistig.“

So weit die politisch-geistige Großwetterlage. Wann immer wir Heutigen uns mit dem Wirken von Menschen in historischer Zeit befassen, sollten wir allerdings auch die Bedingungen des damaligen Alltages mitdenken. Für das heutige Thema wichtig sind beispielsweise folgende Faktoren:
– Eine Reise von Halle nach Rom konnte im 18. Jahrhundert selbst ohne ausschweifende Besichtigungs- oder Bildungsaufenthalte und zu bester Sommerzeit gut und gerne 14 Tage dauern. Sie war obendrein gefährlich und eine arge Tortur für sämtliche Knochen und Muskeln im Leib – wie etwa Goethe und Heinrich Heine über ihre Fahrten nach Italien berichten.
– Gleiches gilt für Abstecher nach England. Was auf dem Weg gen Süden die Alpen sind, ist auf dem Weg nach Norden das Meer: Unberechbares, oft buchstäblich lebensgefährliches Reisehandikap, das sich nicht selten zum unüberwindlichen Hindernis wird. Man geht davon aus, dass im 17./18. Jahrhundert etwa ein Fünftel der Transporte über den Ärmelkanal mit schweren Beschädungen oder dem Totalverlust der Schiffe endete.

Und trotzdem legten zahlreiche Musiker zeitlebens viele Tausend Reisekilometer quer durch Europa zurück. Mozart beispielsweise lebte als Kind mehr aus Koffern denn daheim in Salzburg. Ein ums andere Mal packt Vater Leopold Mozart den Wolfgang Amadeus und dessen Schwester Nannerl in die Kutsche, um bei ausgedehnten Konzerttourneen der Welt seine beiden „Wunderkinder“ vorzuführen. Eine dieser Tourneen begann 1763 und dauerte bis 1766. Drei Jahre, die von Salzburg über München unter anderem nach Frankfurt am Main, Brüssel und Paris führten. Von da aus ging’s erst nach London, dann wieder in die Niederlande, von dort über Utrecht erneut nach Paris. Schließlich führte der Weg die Mozarts über Lyon, Genf, Bern, Zürich, Ulm und München zurück nach Salzburg. Ein paar Monate später Aufbruch nach Wien, im Jahr darauf Reise nach Rom. In den drei Folgejahren noch zwei ausgedehnte Italienreisen.

Meine Damen und Herrn, solche Operationen sind schon mit dem Auto eine Tortur; wie erst mit der Pferdekutsche. Und dennoch waren die meisten Musiker, Maler, Schriftsteller, ebenso die Söhne (seltener die Töchter) gebildeter und wohlhabender Kreise in schier unvorstellbarem Umfang buchstäblich auf Achse. Mal der Notwendigkeit des Broterwerbs und der Stellungssuche geschuldet, mal um sich einen Namen zu machen, mal um sich zu bilden und zu entwickeln – um zu wachsen an der Auseinandersetzung mit Lebensarten, mit Zeugnissen vergangener Kultur und gegenwärtigen Kunstentwicklungen in anderen Ländern.

Und ich behaupte, die wechselseitige Kenntnis von kulturellen wie auch politisch-geistigen Strömungen in Europa war damals umfassender und intensiver als heute. Denn logischerweise: Man nimmt nicht die Beschwernisse einer zweiwöchigen Kutschfahrt auf sich, um in Rom bloß drei Tage Sigthseeing zu betreiben. Wer es sich einigermaßen leisten kann verweilt – ein paar Wochen, mag sein ein paar Monate. Man lebt in der Fremde und mit ihr, taucht ein ins dortige Kulturgeschehen. Man logiert bei Einheimischen, besucht örtliche Salons und Konzerte, beteiligt sich am Diskurs, gibt selbst Konzerte, nimmt eventuell sogar vorübergehend einen Job an als Gastmusiker, Hauskompositeur auf Zeit oder Musiklehrer irgendeines notablen Gastgeberzöglings.

*** Erkläre „Kavaliersreise“ als Initiationsritus ins männliche Erwachsenenleben. ZB Mendelssohn: Vier Jahre dauerte seine Tour. Glück: Er musste unterwegs nicht verdienen, weil reich von Hause aus. Stationen: London, Schottland; Leipzig, Weimar, München, Wien; Florenz, Venedig, Rom, Neapel; die Schweiz, Paris, dann wieder London. Siehe auch: Romantischer Britentourismus am Mittelrhein.

Dieses intensive Reisen erklärt auch – teilweise – ein für uns heute kaum fassbares Phänomen: Selbst in den abgeschiedensten Ecken Deutschlands oder im fernen London wussten Musiker und Musikliebhaber sehr gut Bescheid über das, was sich in musikalischen Zentren wie Wien, Paris oder Mailand, Florenz, Venedig, Rom Neues tat. Trotz seiner Leipziger Zurückgezogenheit war beispielsweise Bach über den französischen oder italienischen Musizierstils seiner Zeit stets sehr gut im Bilde – ganz ohne Telegraf, Telefon, Radio und Fernsehen.

Angenommen wird, dass auch schon der zehnjährige Händel über seinen frühen Musiklehrer Friedrich Wilhelm Zachow in Halle nicht nur mit Musik aus dem gesamten deutschen Raum, sondern ebenso aus Italien in Kontakt kam. Vorallem in Form geschriebener und gedruckter Noten, von denen der Kleinstadtkantor Zachow eine ansehnliche Sammlung besessen haben soll. Zum musikalischen Lernen jener Zeit gehörte etwas, das es so längst nicht mehr gibt: Kopieren, Noten abschreiben. Jeder Musikschüler tat das ausgiebig. Aus zwei Gründen: Erstens, um an der praktischen Vorlage Schreibarten und Stile diverser Komponisten kennenzulernen; zweitens, wer daheim üben will, braucht bekanntlich Noten dafür – und gedruckte Notenblätter waren zu jener Zeit schweineteuer.

Warum? Warum waren gedruckte Musikalien noch bis vor 20 Jahren wesentlich teurer als gedruckte Schriftwerke vergleichbaren Umfangs? Weil Musiknoten sich dem Druck mit beweglichen Lettern entziehen. Das Gutenbergsche Druckverfahren lässt sich auf Noten nicht oder nur mit erheblich Umständen anwenden. Natürlich könnte man bleierne Notenbuchstaben herstellen genau wie Schriftbuchstaben. Aber anders als bei der Druckschrift, können Noten nicht einfach auf einer Basislinie hintereinander weg gesetzt werden, sondern müssen in, auf, unter, über fünf Notenlinien in ständig wechselnder Höhe angeordnet sein.

Für den normalen Druck war das bis zur Einführung des digitalen Schriftsatzes seit den 1980er-Jahren ein richtiges Problem. Weshalb wahrscheinlich im 16. Jahrhundert als Seitenzweig der Kupferstecherei das Spezialhandwerk des „Notenstechers“ entstand: Versierte Handwerker übertrugen mit Stichel, Meißel, Hämmerchen und anderen Werkzeugen Komposition auf Platten aus Kupfer oder sonstigen weichen Legierungen, die dann direkt als Druckplatten oder als Gussformen für Druckplatten benutzt wurden.

Gedruckte Noten waren in historischer Zeit folglich ein teures Gut – deshalb aber auch ein wertvolles Mitbringsel, als Geschenk in Musikerkreisen hochgeschätzt. Wer einem Musiker seine Referenz erweisen wollte, schickte Noten oder brachte sie von Reisen mit. Der Kavalier, der bei einer musizierenden Gräfin, Prinzessin oder nachher auch höheren Bürgerstochter Eindruck schinden wollte, machte gedruckte Noten zur Liebesgabe. So verbreiteten sich musikalische Stile, Trends, Moden schnell in ganz Europa; zwar nicht im Tagestempo wie heute, aber doch schon binnen weniger Monate. Und interessanterweise war das ferne London stets eine der ersten Metropolen Europas, die von neuen Musikmoden oder aufstrebenden Sternen am Komponistenhimmel des Kontinents erfuhr.

Wieso das? Ganz einfach: Britannien wurde im 17. Jahrhundert DIE aufstrebende Wirtschaftsmacht in Europa; London war bald DAS Finanzzentrum der Welt. Britische Kaufleute, Banker, Militärs, Politiker trieben sich scharenweise überall herum, wie umgekehrt jeder kontinentale Geschäftsmann früher oder später in London oder mit Londoner Partnern zu tun hatte. Und wie man noch heute nach dem Messebesuch ins Theater, zum Konzert, in den Gourmettempel oder zum Tingeltangel geht, so auch damals. Es mag einem gefallen oder nicht: Bürgerliche Geschäftsleute, Offiziere, um Krieg und Frieden feilschende Diplomaten sowie abenteuernde Wohlstandzöglinge waren zugleich die wichtigsten Botschafter und Verbreiter der Kunst.

Obendrein, auch das mag einem gefallen oder nicht: die Kunst folgt dem Geld – nicht immer, aber doch in der Regel. Weil ohne Brot der Künstler nicht leben kann, und weil ohne angemessene Finanzausstattung gewisse Kunstformen gar nicht zu realisieren sind. Für Sinfonien braucht’s ein größeres bis großes Orchester; für Oratorien braucht’s Instrumentalisten, Solosänger und Chöre; für die Oper brauchts zusätzlich noch Bühne, Kostüme und allerhand technische Maschinerie. Das alles kostet Geld, viel Geld – womit wir nun endgültig speziell bei Händel wären. Der war nicht nur einer der bedeutendsten und auch berühmtesten Musiker des Barocks, sondern auch einer der erfolgreichsten Geschäftsleute unter den Künstlern seiner Zeit.

Wir steigen im Jahre 1706 in Händels Biographie ein. Da ist der Sohn eines in Ostdeutschland weithin hoch angesehenen Arztes gerade 21 Jahre alt, als er sich auf seine erste Reise nach Italien begibt. Die Musikhistoriker sind uneins, ob er damit der Einladung eines ebenso reichen wie kunstsinnigen Medici-Fürsten folgt, oder ob er sich auf eigene Gefahr und Rechnung auf diese rund vier Jahre dauernde Studienreise über Florenz, Rom, Neapel und Vendig begibt.

Eigentlich hatte G.F. zuerst in Lübeck die Nachfolge des alten Cheforganisten Dietrich Buxtehude antreten wollen. Die Absicht ließ er aber schnell fallen, als er erfuhr, dass eine Bedingung für diese Stellung lautete: Der Bewerber müsse, um sie zu erhalten, Buxtehudes Tochter ehelichen. Die Maid war schon etwas älter und besonders hübsch soll sie auch nicht gewesen sein. Das klingt für uns ziemlich schrullig, hat aber einen handfesten, zeittypischen Hintergrund: Staatliche Rentenversicherung gab es nicht, dem betagten Buxtehude drohte Altersarmut, sollte er keinen Schwiegersohn finden, der ihn mitversorgt.

Händel aber mochte von dieser Heirat nichts wissen und wandte sich nach Hamburg mit der Absicht, dort als Komponist Karriere zu machen. „Ich komponierte damals wie der Teufel“ beschrieb er später einmal seine intensiven Bemühungen in jener Zeit. Was dabei herauskam charakterisiert Händels Hamburger Mentor, Freund und Konkurrent Mattheson als „sehr lange, lange Arien, und schier unendliche Cantaten“ – mithin das, was schon damaliges Publikum nicht besonders mochte. Wobei ich zu bedenken gebe, dass „lang“ damals etwas völlig anderes bedeutete als heute. Die fünfstündige Aufführung eines Schiller-Schauspiels fand man in Goethes Weimar beispielweise gar nicht übertrieben lang.

Hamburg war anfangs schwierig für Händel. An der Hamburger Oper fing er in der Stellung des zweiten Geigers an. Seine daheim in Sachsen bereits anerkannte Tastenvirtuosität kam an der Elbe erst zur Geltung, als er zufällig den erkrankten Opern-Cembalist vertreten durfte. Dann aber kamen die Dinge in Bewegung: Im Januar 1705 debütierte Händel mit seiner ersten Oper „Almeria“, einen Monat später kam gleich die zweite auf die Bühne, „Nero“. Der Erfolg war gar nicht schlecht, aber Hamburg war seinerzeit kein gutes Pflaster für die Oper, zumal im italienischen Stil, dem Händel von Anfang an zuneigte und an dem zeitlebens sein Herz hing.

Wie Johann Sebastian Bach immer wieder von thüringischen Pietisten wegen „opernhafter Kirchenmusik“ angefeindet wurde, so rückten die hanseatischen Pietisten ausdauernd moralisierend dem angeblich verderbten Operngeschehen in ihrer Stadt auf den Pelz. Das Klima war verdorben, die Arbeit für Opernschaffende schwierig – das machte Händel die Entscheidung leicht, nach Italien zu reisen. Er blieb eine Weile in Florenz, wechselte dann nach Rom, wo er auf den ersten Blick vom Regen in die Traufe geriet: Denn in der Heiligen Stadt waren öffentliche Aufführungen von Opern generell verboten.

Aber wie sie halt so waren und teils noch immer sind, unsere lieben Italiener, zumindest die städtischen: Irgendwie kriegen sie ihn doch immer wieder hin, den lebenspraktischen Kompromiss zwischen Katholizismus und Dolce vita. Offiziell geächtet, wird das Musiktheater in den Palazzi und Salons der Reichen und Mächtigen privatim eifrig gepflegt. Händel schreibt weltliche Kantaten für Sologesang und kleines Ensemble, die szenisch angedeutet, in gesellschaftlichen Diskurszirkeln aufgeführt werden.

Diese Musiken basieren, wie Opern und Oratorien auch, auf dem Wechsel von Rezitativen und Arien. Zur Erinnerung: Rezitativ ist jener fast frei gestaltbare Sprechgesang, der meist die Handlung eines Werkes erzählt oder vorantreibt. Arien sind dann vollständig auskomponierte Gesangnummern dazwischen, die vor allem Gefühle und Stimmungen des jeweiligen Protagonisten ausdrücken.

So gesehen arbeitet Händel, wenn er eine Kantate oder ein Oratorium komponiert, musikalisch immer auch im Opernfach. Tatsächlich macht er nachher vielfach kein langes Federlesen, schiebt musikalische Werkelemente aus dem Kirchenfach ins Opernfach und umgekehrt. Diese Arbeitsweise und die daraus folgende Flexibilität wird ihn nacher in England vor Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit und finanziellem Ruin bewahren. In Rom jedenfalls komponiert er auch seine ersten zwei großen Oratorien: „Il trionfo“ und „La Resurrezione“. Beide erzählen, wie es sich für ein Oratorium gehört, Geschichten aus dem religiösen Raum. Die Historiker sind allerdings dahinter gekommen, dass die Uraufführung von „La Resurrezione“ am Ostersonntag 1708 im römischen Palazzo Bonelli des Marchese Ruspoli ziemlich aus dem üblichen Oratorienrahmen herausfiel.

Belegt sind opulente Handwerkerrechnungen für Bühnenbau, Bühnentechnik, Requisiten und Kostümerie. Was dort zur Aufführung kam, war die szenisch-musikalische Darstellung einer Handlung und nicht nur deren sängerische Erzählung. Die Story ist zwar religiöser Natur, da sie aber szenisch gespielt wird, handelte es sich bei jener Aufführung per definitionem um eine Oper und nicht um ein Oratorium. Wir mögen diese Unterscheidung kleinkarriert finden; damals konnte sie zwischen Gefängnis oder nicht entscheiden. Und selbst heute noch findet mancher Pfarrer gar nichts daran, hochdramatische Stoffe in seiner Kirche als Oratorium musikalisch erzählen zu lassen, währenddessen er gegenüber einer opernhaft-szenischen Darbietung derselben Geschichten im Altarraum erhebliche Bedenken hätte.

Händel jedenfalls hatte in Marchese Ruspoli offenbar einen Mäzen gefunden, der sein brennendes Verlangen, Opern zu schaffen, goutierte. Dieses Verlangen führte Händel schließlich nach Venedig. Dort wurde 1709 seine Oper „Agrippina“ uraufgeführt. Ein fulminanter Erfolg, der zugleich den Durchbruch in die Weltspitzenklasse der damaligen Opernkomponisten bedeutete. Händel war während der vier Jahre in Italien dort fast schon eine Legende geworden, wozu auch seine außerordentlichen Fertigkeiten als Cembalo- und Orgelvirtuose beitrugen, die er durchaus lukrativ zur Schau stellte. Händel wurde ein umschwärmter Star in den Salons der feinen Gesellschaft Italiens. Die Italiener nannten ihn bald „Il Sassone“, der Sachse; die Italienerinnen „Il caro Sassone“, der geliebte Sachse.

Bald nach dem Agrippina-Triumpf taucht Händel am kurfürstlichen Hof zu Hannover auf. Bis dorthin war sein Ruhm gedrungen, und Fürst Georg Ludwig warb den 25-Jährigen als Hofkapellmeister an – mit einem horrenden Jahressalär und dem Projekt, die darnieder liegende Hannoversche Hofoper zu reanimieren und zu neuem Glanz zu führen. Opernnarr Händel sah seine Chance auf ein quasi eigenes Opernhaus gekommen, aber er misstraute der Sache offenbar auch. Jedenfalls hatte er für seinen Vertrag darauf gedrungen, ohne Honorarverluste öfter für gewisse Zeit auch anderweitig tätig sein zu dürfen, also quasi nach eigenem Gusto unbezahlt länger Urlaub nehmen zu können. Der Kurfürst war einverstanden.

Es ergab sich in sehr engem Zeitraum dann dieses:
Erstens verließ den Hannoverschen Fürsten die Courage, als ihm klar wurde, was ein Opernbetrieb von europäischem Rang an seinem Hofe tatsächlich kosten würde. Georg Ludwig zögerte, die Mittel flüssig zu machen. Weshalb, zweitens, Händel seine Freiheit nutzte, andernorts andere Möglichkeiten auszuloten. Noch einmal richtet sich seine Aufmerksamkeit gen Hamburg, wo eine Art Generalmusikdirektor für die fünf Hauptkirchen und die hamburgische Oper gesucht wird. Er muss aber zu seinem Leidwesen feststellen, dass der Einfluss der protestantischen Pietisten dort weiter gewachsen ist, und Opernschaffen wie er es sich vorstellte, ein immer neues zähes Ringen und Kämpfen sein würde. Also betrachtet er, drittens, mit wachsendem Interesse Avancen, die ihn von London her erreichen, einer Metropole, die damals als Hort von Weltoffenheit und Liberalität gilt.

Am 16. Juni 1710 hatte Händel seinen Dienst in Hannover angetreten, viereinhalb Monate später bestieg er ein Schiff nach London, drei Monate darauf kam am 24. Februar 1711 dort im Haymarket Theatre seine Oper „Rinaldo“ zur Uraufführung – und London lag ihm zu Füßen.

……. Es wird Zeit für eine weiter Runde schöner Musik ………

G.F. Händel kam also im Herbst 1710 nach London. Wie war sein erster Eindruck von dieser Stadt? Wie überhaupt wirkte sie damals auf vom Kontinent herüberkommende Zeitgenossen? Händels Briefe geben dazu wenig her, denn der in Gesellschaft meist sprühend, lebhaft und unterhaltsam auftretende Mensch war einer der knochentrockensten Briefeschreiber, die sich denken lassen. Deshalb greife ich auf eine Schilderung von Mendelssohn B. über seine Erstbegegnung mit London zurück. Die fand zwar 100 Jahre später statt, aber der Diskrepanzeindruck zwischen Kontinent und „moderner“ Weltmetropole dürfte im Grundsatz ähnlich gewesen sein.
***Zitat MB 48

Was für eine Musikkultur fand Händel in London vor? Welche Möglichkeiten des Opernschaffens gab es? Das Musikleben in Großbritannien war grundsätzlich anders strukturiert und organisiert als in Deutschland, Österreich und Italien. Zwar veranstalteten auch britische Aristokraten Privatkonzerte in ihren Domizilen. Dass sie aber dauerhaft eigene Ensembles oder Orchester unterhielten, Kapellmeister oder Hauskompositeure fest anstellten, das war nicht sehr weit verbreitet. Hoftheater, vom Hof, also vom Staat unterhaltene Opernhäuser und Konzerthallen mit regelmäßigem Programm waren unbekannt.

Zwar wurde das Haymarket Theatre, in dem Händel seine großen Anfangserfolge feierte, nach der Regierungsübernahme durch König Georg I. 1714 in King’s Theatre umbenannt. Das änderte allerdings am objektiven Charakter des Hauses gar nichts: Es blieb ein Privatunternehmen, das sich selbst finanzieren und am Markt behaupten musste. Auch die später von Händel neu eingerichteten Royal Academie of Music blieb im Grunde ein Privatunternehmen. Die Betitelung Royal brachte eigentlich nur zum Ausdruck, dass das Königshaus dem Unternehmen wohlwollend gegenüberstand. In diesem speziellen Fall immerhin sponserte der Hof das Theater mit 1000 Pfund pro Jahr.

Das war viel Geld, aber schon damals nur ein Bruchteil dessen, was ein halbwegs ordentlicher Opernbetrieb verschlang. Zumal die gesanglichen Publikumsbringer alle vom Kontinent engagiert werden mussten. Denn erstens hatte England selbst bis dato kaum eigene Gesangsstars hervorgebracht, vor allem keine Starkastraten wie Senesino oder Farinelli, die Händel dann nach London holte und die dort eine Sensation wurden. Zweitens wollte die kulturbeflissene britische Oberschicht unbedingt das Beste und die Besten der europäischen Musikkunst in London versammeln. Man fühlte sich schließlich als Angelpunkt der zivilisierten Welt, gewissermaßen als Speerspitze der Moderne – und fand es deshalb unerträglich, dass zwar alle Welt in England und England mit aller Welt Geschäfte machte, aber kulturell nur von Venedig, Wien oder Dresden die Rede war. Sie sehen auch hier wieder diesen uralten Mechanismus am Werk, dass Geld und Macht sich nie selbst genügen können, dass sie sich ohne die Gesellschaft von Kunst und Kultur minderwertig fühlen.

Deshalb letztlich sind auf dem Kontinent zuerst die Fürstenresidenzen zu Kulturzentren geworden. Deshalb auch wurde in London das zu Wohlstand gekommene Bürgertum viel früher zu einer tragenden Säule des Kulturlebens als auf dem Kontinent. Deshalb auch avancierte New York ab dem späten 19. Jahrhundert Zug um Zug zu einer Kulturstadt von Weltgeltung. Deshalb entfaltete die alte Krämer- und Messestadt Frankfurt am Main im 20. Jahrhundert eine Kulturoffensive nach der andern, um nur ja nicht auf dem dröge-banausigen Titel Bankfurt sitzen zu bleiben.

Kunst und Kultur sind nicht alles, aber ohne sie fühlen sich auch Geld und Macht als Nichts. So hat es also G.F. Händel 1710 erstmals und dann mit seiner endgültigen Umsiedlung nach England 1712 dauerhaft mit einer Art Kulturleben zu tun, das weniger von den individuellen Launen feudaler Herrscher abhängig ist als von der Verkaufbarkeit der Kulturprodukte an ein allgemeines Publikum. Und in diesem Publikum wird der Anteil der Aristokraten immer kleiner in Relation zum rasch anwachsenden Teil wohlhabender bürgerlicher Kunstfreunde.

Diese Sache hat aber auch Schattenseiten, die Händel bald ziemliches Kopfzerbrechen bereiten sollten. Dazu gehört etwa der Umstand, dass Oper in der sängerischen Qualität und Opulenz wie das Publikum sie wünschte, als dauerhaft tragfähiges und rentables Privatunternehmen am Markt per se einfach nicht machbar war – es genau genommen bis heute nicht ist. Weshalb Händels Opernengagement in London eine Geschichte vielfältiger Wechselfälle zwischen Triumph und leeren Theaterkassen ist, die ich im Einzelnen gar nicht aufdröseln will; wir säßen morgen noch hier.

Eine weitere Schattenseite rührt von dem Umstand her, dass in England kaum jemand genug Italienisch konnte, um zu verstehen, was in Händels italienisch gesungenen Opern eigentlich abging. Dies Manko sollte einerseits durch sängerische Qualität und das entsprechendes Staraufgebot ausgeglichen werden, andererseits durch eine Vielzahl inszenatorischer und bühnentechnischer Wundereffekte. Mit der Folge, dass die Produktionskosten immer weiter anstiegen. Außerdem begannen Händels Konkurrenten in London, Opern in englischer Sprache herauszubringen, mit Sujets, die ,anders als die italienische Oper, nicht bloß vom Unglück und Glück in den Sphären feudaler Herrschaften handelten. Diese englischsprachigen „Bürgeropern“ wurden sehr schnell, sehr populär. Die bis heute bekannteste davon ist John Gays „Beggars Opera“ von 1728, jene Bettleroper, nach der ziemlich genau 200 Jahre später Bertolt Brechts Dreigroschenoper entstand.

Um nicht missverstanden zu werden: trotz aller Malaisen erlebte die Oper in England eine von Händel initiierte Blütezeit. Die war kurz, aber heftig, wobei auf der Insel zuerst die italienische Adelsoper wieder aus der Mode kam. Händel reagierte sehr flexibel auf den sich verändernden Publikumsgeschmack und damit Markt: Er begann englische Opern und englische Oratorien zu schreiben. „Esther“ war 1718 sein erstes englischsprachiges Oratorium. Es sollten 21 weitere folgen, die übrigens allesamt nicht in Kirchen uraufgeführt wurden, sondern in Theatern: „Saul“ und „Belsazar“ beispielsweise im King’s Theatre, „Samson“ oder „Jephta“ im Covent Garden Theatre, der allseits bekannte „Messias“ in der New Music Hall von Dublin. Händel blieb nicht nur musikalisch, sondern auch äußerlich mit den Oratorien seiner geliebten Oper doch recht nahe. Das auch, als es ab Mitte der 1730er Jahre in England mit der Oper generell ziemlich rapide bergab ging.

Als geschäftstüchtiger Komponist schwenkte Händel rasch von der immer weniger gefragten Oper auf die immer mehr gefragteren Oratorien um. Außerdem hatte er sich schon sehr früh generell um Diversifikation seiner Risiken bemüht. Seine Instrumentalmusiken waren allgemein wie auch bei Hofe ebenso beliebt wie die Druckausgaben seiner bekanntesten Opernarien. Immer wieder schrieb er auch Festmusiken und Unterhaltungsmusiken für den Königshof, darunter etwa die bekannte „Wassermusik“ zur Begleitung der Lustfahrten von König Georg I. oder die „Feuerwerksmusik“ für das große Fest, das Georg II. 1749 aus Anlass der Beendigung des österreichischen Erbfolgekrieges an der Themse gab.

Ich spiele Ihnen jetzt den kurzen dritten Satz dieser wunderbaren Feuerwerksmusik ein. Unter anderem deshalb, weil er ein so schönes Beispiel dafür ist, wie Händel oft gerade dadurch starke Wirkungen erzeugt, dass er die kompositorischen Mittel bewusst sparsam einsetzt, ohne deshalb oberflächlich zu werden. Wir finden bei ihm sehr oft das Prinzip: Mit satztechnisch minimalem Aufwand größtmöglichen musikalischen Ausdruck erzielen. Darin unterscheidet sich Händel in London dann doch beträchtlich von Bach in Leipzig. Bach lässt sich ohne musiktheoretische Kenntnisse kaum in seiner ganzen Größe begreifen. Die Größe Händels indes kann – zumindest bei sehr vielen Werken – auch der musikalische Laie problemlos erspüren.

Nun also dreieinhalb Minuten Feuerwerksmusik, dritter Satz „Der Friede“.
*** CD

Wir kommen mit Händel allmählich zuende. Der Brite aus Halle an der Sale war in seiner Wahlheimat England bis zu seinem Tod 1759 ein hochangesehener Mann. Schon zu Lebzeiten hat man ihm Denkmäler gebaut, dann ihn zwischen Königen bestattet und ihm nachher eine bis heute ungebrochene Reihe von Musik- und Opernfestivals gewidmet. Händel starb nicht nur als anerkannte Musikerpersönlichkeit, sondern auch als wohlhabender Mann: Überliefert ist, er habe – umgerechnet – 3 bis 5 Millionen Euro hinterlassen.

Rund 30 Jahre nach Händels Tod kam Joseph Haydn im schon fortgeschrittenen Alter von 59 Jahren erstmals nach England und stieß dort auf dreierlei. Erstens eine Form öffentlicher Zuneigung, Anerkennung und Wertschätzung für einen Musikkünstler, die er von daheim in Österreich überhaupt nicht gewohnt war. Zweitens erlebte er in London ein sprühendes, vielseitiges öffentliches Konzertleben, organisiert vorwiegend von bürgerlichen Konzertgesellschaften, finanziert durch Subskriptionen (Vorlagen) eines überaus kunstverständigen Publikums sowohl aristokratischer wie bürgerlicher Herkunft. Und drittens stellte er fest, dass in England für gute musikalische Leistungen verlässlich sehr gutes Geld bezahlt wurde.

Darüber staunte Joseph Haydn nicht schlecht, war er doch zuvor 30 Jahre lang als „livrierte Hausoffizier“ am Hofe der österreichisch-ungarischen Magnatendynastie Esterhazys mal mit mehr, mal mit weniger Achtung, aber doch immer als Bediensteter und Untertan behandelt und bezahlt worden.

Sir Simon Rattle, Chef der Berliner Philharmoniker, hat vor ein paar Woche in einem wunderbaren Interview über Haydn und seine Beziehung zu ihm gesagt: „Wir Engländer waren ja schon zu Haydns Lebzeiten vollkommen verrückt nach ihm. Er (Haydn) war regelrecht schockiert, wie die Menschen sich auf seinen Londonreisen persönlich für ihn interessierten. Das kannte der einsame Mann aus Esterhazy gar nicht.“

Und um ein Haar, meine Damen und Herrn, wäre es gekommen wie bei Händel: Haydn überlegte ernsthaft, sich auf Dauer in England niederzulassen und britischer Bürger zu werden.
Er besann sich dann aber doch anders und kehrte nach Wien zurück.

Wir bleiben ein bei Haydn, denn der 1732 in der niederösterreichischen Provinz geborene Musicus ist in mehrfacher Hinsicht ein interessante Figur. Joseph wird in diversen Lexika als Bruder des Komponisten Michael Haydn und des Tenors Johann Evangelist Haydn vorgestellt. Die Auskunft ist zutreffend, obwohl kaum jemand die beiden Brüder heute noch kennt. Falsch wäre aber der Schluss, Joseph sei in eine Familie passionierter Musiker hineingeboren worden. Die Haydns waren seit Generationen Handwerker. Das elterliche Gewerbe war die Stellmacherei oder Wagnerei; man baute und reparierte also Pferdefuhrwerke und Kutschen. Von irgendwelchen besonderen Bindungen an die Musik keine Spur. Überliefert ist lediglich, dass bei Haydns stets eifrig gesungen wurde.

Und diese Form volktümlich-häuslicher Musikpflege hatte das Herz der Eltern offenbar weit genug geöffnet, um dreien ihrer Söhne eine Musikerlaufbahn zu ermöglichen. Der kleine Joseph wurde als Fünfjähriger zu einem Verwandten geschickt, damit der ihn in die Kunst des Chorgesangs einführe. 1740 entdeckte ihn der Musikdirektor des Wiener Stephansdoms und nahm das Singetalent aus der Provinz als Chorsänger mit in die große Stadt. Dort erhielt er auch Klavier- und Geigenunterricht. Allerdings keinen systematischen Kompositionsunterricht. Den hat Joseph Haydn auch späterhin nie genossen – er war, wie Johann Sebastian Bach übrigens auch – im Hinblick auf das Komponieren ein Autodidakt.

Mitte der 1740er war dann Schluss mit dem Chorknabendasein. Der Bub war zum Mann geworden und die Herrschaften am Stephansdom konnten ihn als Männerstimme nicht brauchen. Man schickte den Jüngling einfach fort. Ein übliches Verfahren damals. Was tat Haydn? Er versuchte sich in Wien als freischaffender Musiker über Wasser zu halten – fast 10 Jahre lang. Eine schwierige Zeit, die ihn als Kammerdiener eines italienischen Komponisten sah, als Gelegenheitsmusikus im Kaffeehaus, als Klavier- und Geigenlehrer oder Hilfsorganist. Auch als scheinbarer Müßiggänger wurde er bisweilen gesehen – der allerdings in Wahrheit eifrig am Selbststudium arbeitete und nicht minder eifrig komponierte.

1759 wurde Haydn von einem Grafen Morzin als Musikdirektor auf Schloss Lukawetz in Böhmen engagiert. Da war er 27 Jahre alt, von denen er rund 20 in Wien verbracht hatte. Bald jedoch ging dem Grafen Morzin das Geld aus für die Musik. Weshalb Haydn 1761 beim Fürsten Paul Anton Esterhazy als Kapellmeister von dessen Hoforchester anheuerte. Der Familie Esterhazy diente er fortan 30 Jahre in Festanstellung. Ein der Musik völlig abholder Esterhazy-Erbe schickte ihn dann in Pension. Haydn ließ sich als selbstständiger Komponist in Wien nieder, blieb aber dennoch den Esterhazys bis zu seinem Tod 1809 dienstbar.

20 Jahre Wien, dann 30 Jahre bei den Esterhazys, danach 1791/92 und wieder 1794/95 insgesamt drei Jahre in England und hernach wieder 19 Jahre in Wien und weiter den Esterhazys verbunden: Sie sehen Flatterhaftigkeit lässt sich dem Joseph Haydn gewiss nicht nachsagen, eher eine für die damalige Zeit und die Musikerzunft sehr ungewöhnliche – nennen wir es mal: Standorttreue. Keine mehrjähriger Aufenthalt in Italien wie Händel. Keine Europatourneen wie beim jungen Mozart. Keine große Kavaliersreise in aller Herren Länder wie bei Mendelssohn Bartholdy. Haydn kennt nur seinen Geburtsort und dessen nähere Umgebung, er kennt Wien, er kennt das böhmische Pilsen und die drei Familiensitze der Esterhazys in Wien, in Eisenstadt nahe Wien und im ländlichen Ungarn.

Was war er für ein Mensch, dieser Haydn? Darüber wissen wir genau genommen sehr wenig. Die Quellenlage ist dürftig, private Zeugnisse über ihn, erst recht von ihm sind dünn gesät. Wir wissen noch nicht einmal, wie er aussah. Denn wenn man die doch recht zahlreichen Porträtgemälde von ihm nebeneinander hält, zeigen sie völlig verschiedene Menschen.

Die diversen Porträts weisen lediglich zwei Gemeinsamkeiten auf: 1. eine markante Nase, mal mehr, mal weniger schmeichelhaft retuschiert. Will sagen: Der Mann hatte wohl einen richtigen Zinken im Gesicht. 2. Zeigen die Gemälde allesamt einen auffällig glatten Gesichtsteint. Was per se auf das gerade Gegenteil hindeutet. Haydn hatte wie so viele seiner Zeitgenossen die Pocken erlitten und glücklicherweise überlebt. D.h., sein Gesicht war in Wirklichkeit von auffälligen Narben überzogen. Er war kein attraktiver Mann, hielt sich selbst auch nicht für einen solchen Weshalb es ihn maßlos irritierte, dass ihn die Damenwelt bei seinen beiden London-Aufenthalten heftig umschwärmte.

Wir wissen, dass Haydn von den Musikern am Esterhazy-Hof wegen seiner Freundlichkeit und seines Humors geschätzt wurde. Eigenheiten, die wir auch in seiner Musik ausgeprägt finden – zumindest seit die Musizierpraxis im späten 20. Jahrhundert wieder davon abgekommen ist, Haydn’sche Werke mit unnötiger Schwere zu belasten. Simon Rattle beschreibt das in besagtem Interview sehr hübsch: „Ich habe Haydn in Berlin schon bei meinen Gastauftritten während der Karajan-Zeit dirigiert. Das war nicht einfach. Es kam mir damals vor wie ein Ballett mit Elefanten. Alles war zwar perfekt gespielt, die Sechzehntelmaschine ratterte, aber es klang schwer und fest und ohne Flexibilität. Da hat sich inzwischen sehr viel verändert.“

Und gleich noch einmal darf ich Rattle bemühen, um die Schattenseite in Haydns Leben anzusprechen: „Ich glaube,“ sagt Rattle, „sein Schaffen war von großer Einsamkeit geprägt. Er war todunglücklich verheiratet. Seine Ehefrau wollte mit Musik nichts zu tun haben. Er muss auch über seine Ehe hinaus isoliert gewesen sein. Auf der einen Seite war es ihm nicht gestattet, sich unter die Aristokraten zu mischen. Auf der anderen Seite konnte er sich nicht mit den ihm untergebenen Musikern gemein machen. Er stand einsam irgendwo dazwischen. Oder nehmen sie den rätselhaften Umstand, dass dieser eigentlich vor Neugier brennende Komponist (bald 30 Jahre, ape) auf Schloss Esterhazy saß und kaum Abstecher ins nahe Wien unternahm, wo überaus interessante musikalische Dinge passierten. Er durfte es nicht. Der Fürst bestand auf den musikalischen Verpflichtungen.“

Dies ist die Kehrseite des in der Literatur bisweilen recht positivistisch beschriebenen Daseins von Haydn in seinem „Experimentierlabor“ Esterhazy (***ggf ausführlicher!!!). Immerhin blieb ihm soviel Luft, dass er die Freundschaft mit Mozart einigermaßen pflegen und mit diesem gelegentlich auch musizieren konnte. Haydns Arbeitspensum war gewaltig: 120 Konzerte und auch Opernaufführungen hatte er am Esterhazy-Hof pro Jahr zu leiten, meist mit eigenen Kompositionen zu bestücken.

Haydn hat mehr als 100 Sinfonien geschrieben (von 107 weiß man heute), 83 Streichquartette, 52 Klaviersonaten, 14 Messen, 6 große Oratorien und 24 Opern – um nur einige Messzahlen zu nennen. Er gilt als Katalysator für die Entwicklung der Sonatenform, mehr noch als „Vater“ des Streichquartetts und der klassischen Sinfonie. Wobei „Vater“ ein etwas irreführender Begriff ist, zu betulich und traditionalistisch. Neuerer, Innovator, Reformierer, Experimentator, vielleicht sogar musikalischer Revolutionär trifft es eher.

Der Eremit zu Esterhazy war ein zwar einsamer, dennoch ein berühmter Mann zu seiner Zeit. Seine Kompositionen und die Konzerte am Esterhazy-Hof waren Gesprächsthema in der musikalischen Welt bis nach Frankreich, Russland und eben nach England. Zu erstem internationalem Ruf gelangte er übrigens schon als junger Mann durch die Veröffentlichung seiner frühen Quartett-Divertimenti (gedruckte Noten!) fast zeitgleich in Amsterdam und London.

Er, der Autodidakt, hat die Formensprache der klassischen Musik in einem Ausmaß geprägt wie sonst nur noch der alte Bach. Und wie jener, blieb er zu Lebzeiten oft auch missverstanden. Vor allem in Haydns späten Esterhazy-Jahren fanden selbst seine Musiker bisweilen „sehr seltsam“, was der Meister da zusammenexperimentierte. Denn wie Formenstrenge EIN Wesensmerkmal seiner Musik ist, so ist die unkonventionelle bis radikale Ausschöpfung formaler und tonaler Möglichkeiten eine andere.

Ich glaube, es wäre jetzt wieder die rechte Zeit für etwas Lifemusik.

Wir haben bei Herrn Haydn 1790 also folgende Situation: Er selbst ist 58 Jahre alt, hat für die damaligen Verhältnisse seine besten Jahre längst hinter sich. Sein Musikliebender Dienstherr, der Esterhazy-Fürst Nikolaus hatte gerade das Zeitliche gesegnet. Dessen Erbe ist ein musikalischer Banause, entlässt die ganze esterhazysche Hofmusik und schickt den Hofkapellmeister Haydn – immerhin bei vollen Bezügen – aufs Altenteil. Haydn lässt sich in Wien nieder, da flattert ihm plötzlich ein Angebot des Musikimpressarios Johann Peter Salomon ins Haus, er möge doch für eine Weile in England tätig werden.

Unschwer vorstellbar, dass für einen derart sesshaften Menschen wie Haydn ein solches Angebot reizvoll und beängstigend zugleich war. Aber die angebotene Honorierung war beträchtlich. Außerdem hing da Salomons spezielle Lockung im Raum: In London könne der verehrte Herr Kompositeur seine neuen Sinfonien endlich mal mit einem wirklich großen Orchester musizieren. Sie erinnern sich an Händel: der war mit der Aussicht auf ein eigenes Opernhaus nach Hannover gelockt worden. Für Haydn mag der Hinweis auf Verfügbarkeit über einen großen Klangkörper aus professionellen Musikern der letzte Schups gewesen sein, sich für die Reise nach England zu entscheiden.

Wenden wir einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf diese Orchestersache, denn daran wird ein weiterer Faktor deutlich, warum es so viele Kontinentalmusiker immer wieder nach England zog. Für die Engländer gingen Orchestermusiker einem ordentlichen und angesehenen Beruf nach, der seinen Mann auch nähren können muss. Konzerte waren für die Briten ein Handel auf gegenseitigen Nutzen zwischen Geschäftspartnern auf im Prinzip gleicher Augenhöhe. Musiker erbrachten stark nachgefragte und wertvolle Dienstleistungen, denen angemessene Bezahlung und Anerkennung gebührt (*** junger Kapitalismus: Kunst = Ware). Deshalb gab es in den britischen Großstädten eine erklekliche Anzahl hauptberuflicher Orchestermusiker von hohem spielerischem Niveau und dementsprechend auch einige große Orchester von hohem Niveau.

Wie anders dagegen die Situation in den Feudalresidenzen auf dem Festland. Wo es an den Höfen festangestellte Musiker gab, entsprach deren offizielle Stellung in der Regel derjenigen von Hauslakaien. Meist hatten sie neben ihrem Musizierdienst nach allerhand andere Pflichten zu erledigen. Die Bezahlung war mies, die Unterbringung noch mieser und die Behandlung in der höfischen Hierarchie eben so, wie es für Lakaien üblich war. Nun gut, die britischen Musiker waren vom Auf und Ab des Marktes abhängig. Und da gab es auch Tiefschläge in Serie. Die kontinentalen Hofmusiker allerdings waren auf Gedeih und Verderb den persönlichen Launen irgendeines Grafen, Fürsten, Königs und seiner Schranzen ausgesetzt.

Selbst frei herumreisende und berühmte Musiker wussten erst nach einem Gastspiel bei Hofe, ob die Mühe sich gelohnt hat: Honorarabsprachen vorab, gar Verträge waren nicht üblich – wenn dem Hausherrn und seiner notablen Bagage die Musikdarbietung gefallen hat und ihm auch sonst keine Laus über die Leber gelaufen war, fiel womöglich ein ordentlicher Batzen für den Musicus ab. Andernfalls konnte er ebenso völlig leer ausgehen. Nicht nur Leopold Mozart klagte oft und laut über die Knausrigkeit adliger Gastgeber, vor denen sein Wolferl musiziert hatte.

Die Fürsten nahmen das Musizieren hin wie eine Pflichterfüllung, die die Untertanen sowieso zu erbringen haben. Für die breite Masse der Berufsmusiker auf dem Kontinent war ihr Job oft ein materiell prekärer von obendrein geringem sozialen Ansehen. Weshalb es so furchtbar viele hauptberufliche Instrumentalisten auch gar nicht gab. In der klassischen Musikhochburg Wien beispielsweise saßen bei großen Orchesterkonzerten einem Teil Berufsmusiker zumeist ein ähnlich großer Teil Hobbymusiker zu Seite. So manche Beethoven-Sinfonie wurde dort in solch gemischter Besetzung und mit den entsprechenden qualitativen Einschränkungen aufgeführt.

Vor diesem Hintergrund wird deutlicher, warum Jospeh Haydn nach Salomons Wink mit einem großen Profiorchester nicht mehr allzu lange gezögert hat, die Einladung nach England anzunehmen. Freunde warnten ihn freilich vor diesem beschwerlichen und ungewissen Unternehmen. Unter diesen Freunden auch ein ganz besonderer: Wolfgang Amadeus Mozart, der den 24 Jahre älteren Haydn liebevoll scherzend „Papa“ zu nennen pflegte. Sagt also Mozart zu Haydn, als das Gespräch auf das England-Angebot kommt: „Papa! Sie haben keine Erziehung für die große Welt gehabt und reden zu wenige Sprachen.“ In der Tat konnte Haydn überhaupt kein Englisch, ließ sich aber dadurch nicht verdrießen und antwortete Mozart selbstbewusst: „Oh! Meine Sprache versteht man durch die ganze Welt.“ Er meinte natürlich die Musik. Bei einem letzten gemeinsamen Essen vor der Abfahrt nach England unkte Mozart: „Du wirst es nicht lange aushalten und wohl bald wiederkommen, denn du bist nicht mehr jung.“ Haydns ebenso lebenskluge wie entschlossene Replik: „Ich bin aber noch munter und bei guten Kräften“.

Beide Englandreisen Haydns wurden zum Triumpf. Jeweils eineinhalb Jahre blieb er da, genoss die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, und die Annehmlichkeiten, die man ihm bot – respektvolle Wertschätzung von Seiten des Königshofes eingeschlossen. Beide Aufenthalte waren auch kompositorisch ungemein produktiv, das der Musik positiv gesonnene Umfeld wirkte sich inspirierend auf ihn aus. Eine Erfahrung die später auch Felix Mendelssohn Bartholdy bei seinen zahlreichen Englandreisen immer wieder machte.

Das Paket der Kompositionen die während Haydns englischer Phase entstanden sind, ist riesig: Streichquartette, Klaviersonaten, Klaviertrios, Schottische Lieder, Märsche, Menuette, Englische Kanzonetten oder englische Psalmen. Darunter einige seiner besten Werke. Darunter natürlich auch und an erster Stelle die zwölf Londoner Sinfonien, entstanden entweder im Verlauf der beiden Reisen oder in der kurzen Zeit dazwischen, während der er sich wieder Wien aufhielt. Unter den zwölf Londoner Sinfonie populäre Repertoirhits bis heute: die 94., genannt surprise oder Sinfonie mit dem Paukenschlag; die 96. The Miracle, und natürlich die 100., die Militärsinfonie.

Den zweiten Satz, also das Andante der 94., derjenigen mit dem Paukenschlag will ich Ihnen vorspielen. Nicht nur, damit Sie sich – wie Millionen Hörer vor Ihnen vom Paukenschlag erschrecken lassen. Sondern vor allem, um diesen Abschnitt über Josphe Haydn und damit dann auch bald meinen ganzen Vortrag abzuschließen mit einem Musikbeispiel, das auf geniale Weise Volksnähe und menschlichen Humor mit dem Raffinement hoher Tonsetzkunst verbindet. Andreas Pecht

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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