Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Das Hottentotten-Gen

Sage einer, in dieser Zeitschrift seien keine Vordenker am Werk. Noch während der Fußball-WM hatte Freund Walter prognostiziert, Vuvuzelas würden alsbald Einzug halten in die Demonstrationskultur. Genau so ist es gekommen. Es blasen nun die einst so braven Schwaben damit Stuttgart21 den Marsch; aus den aktuellen Anti-AKW-Protesten sind die Tröten ebenfalls nicht mehr wegzudenken. Und welche Ehre: Selbst das seit 1789 in würdiger Tradition renitente Franzosenvolk griff bei seinem jüngsten Generalstreik massig zur neuzeitlichen Jericho-Posaune aus Bad Kreuznach.

Aber ach, bei aller klammheimlichen Freude über die lautstarke Widerspenstigkeit: Was wäre das Leben schön und gemütlich, könnte man endlich seinen Frieden machen mit der Welt. Beruhigt sich zurücklehnen und freundlich Präsidenten, Kanzlerinnen, Ministern, Parteien, Mediengrößen, Wirtschaftsmächtigen, überhaupt allem Volk zurufen: Was ihr tut, ist wohlgetan! Indes, es geht nicht, kann nicht gehen – denn Walter, ich und andere Beckmesser, wir haben das Hottentotten-Gen.

Wie bei den Zeitgenossen mit dem jüngst entdeckten Dummheits-Gen ist unsere Stellung in der Gesellschaft somit als unausweichliches biologisches Schicksal festgeschrieben. Heißt für unsere spezielle genetische Disposition: Wir sind in alle Ewigkeit verdammt, wider den Stachel zu löcken. Weshalb es vergebens wäre, zu verlangen, wir sollten mal die ökologischen Aspekte im neuen Energiekonzept der Bundesregierung positiv würdigen. Das gibt unsere natürliche Anlage nicht her, weil besagtes Gen uns fixiert auf die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke über meine wahrscheinliche Lebenserwartung hinaus, gar bis ins Rentenalter meines Sohnes hinein.

Der Begriff Hottentotten-Gen geht indirekt übrigens auf meine Oma zurück. „Wie bei den Hottentotten!“, pflegte sie in Anlehnung an das koloniale Buren-Schimpfwort zu lamentieren, wenn der Enkelbub herrschende Benimm-Normen über den Haufen rannte, strenge Mahnung ignorierte, Widerworte gab oder sich ungebührend mit vorehelichen Befingerungsabsichten nach den Mädels umsah. Nun wusste die 1899 in einem Odenwald-Dorf geborene Oma nichts über Genetik. Das kann man auch von einer Frau kaum erwarten, die als Kind bei der Erstbegegnung mit einem Auto schreiend davonlief, die Jahrzehnte später die Schlafzimmertür abschloss aus Angst, ihrem ersten  Fernsehapparat könnte nachts illustres Volk entsteigen und sie im Bette belästigen.

Hätte Großmutter über Entwicklungsgeschichte mehr gewusst, ihr wäre vielleicht klar geworden: Unser aller Vorfahren stammen aus Afrika, wo auch die so geschimpften Hottentotten daheim sind. Von dort zogen sie hinaus und wanderten – wie ihre Kindeskinder bis zum heutigen Tag – in der Welt herum. Derart verbreitete sich neben dem Hottentotten- auch das Juden- und das Dummheits-Gen über den Erdkreis. Oma aber glaubte irrtümlich, unsereins habe von Hause mit den Hottentotten ebenso wenig zu tun wie Reiche mit Dummheit. Sie bemühte das Wort nur als erzieherisches Schreckgespenst, sobald der Enkel aus der braven Art schlug. Wenn das nicht half, griff die alte Frau zur ultimativen sprachlichen Steigerungsform: „Kerl, du hoscht de Daiwel im Leeb.“

Nein, liebe Oma selig: Vom Teufel sind Walter und ich so wenig besessen wie von Gott erleuchtet. Es kann nur das Hottentotten-Gen sein, das uns daran hindert, in Harmonie mit dem Gang der Dinge zu leben. Bleibt die Frage: Warum wird dieses Gen, obwohl es alle haben, nicht bei allen aktiv?
 

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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