In Koblenz ist ein seltsames Phänomen zu beobachten: Ein sonst sehr verlässlicher Reflex funktioniert nicht mehr. Gemeinhin reagieren Deutsche ja mit Antipathie, wenn moderne Architektur in schöne Landschaft oder in historische Baustrukturen gesetzt wird. „Verschandelung“ heißt es dann reflexartig – oft ungeachtet, ob es sich bei den neuzeitlichen Bauten um hochwertige Architektur oder profane Nichtswürdigkeit handelt. Ein Rätsel ist mir deshalb: Warum fühlt sich das ästhetische Volksempfinden in Koblenz von der Seilbahn zwischen Deutschem Eck und Festung Ehrenbreitstein nicht gestört?
Ich will das keineswegs groß kritisieren, sondern bloß die Frage zu bedenken geben. Immerhin ist hier einer der ehrwürdigsten Kulturlandschaften Deutschlands so ein Ding aus Stahl und Plastik übergestülpt worden. Doch nur wenige nehmen Anstoß daran. Selbst ein Vertreter des UNESCO-Welterbekomitees rollte jüngst wie Oma Elfriede aus Pusemuckel bloß verzückt die Augen. Beim Anblick der Schwebegondeln vergaß der Herr, dass er kein x-beliebiger Tourist ist, sondern als Wahrer des Kulturerbes der Menschheit noch ein paar andere Faktoren bedenken müsste. Mag sein, er fühlte sich wegen des vorläufigen Verzichts auf die Loreley-Brücke so beschwingt wie jener Bauer, der seine Kuh erfolgreich handelte.
Zugegeben, für Besucher von auswärts ist die Seilbahnfahrt ein nettes Erlebnis, für Einheimische eine praktisch-flotte Verbindung und anfangs auch interessante Art, heimische Umgebung zu erfahren. Weshalb ich mich freue, dass es die Bahn während der Bundesgartenschau (BUGA) und nachher noch eine kleine Weile gibt. Doch der Reiz des Neuen verfliegt. Und ob „praktisch-flott“ ein hinreichender Grund ist, dieses Vehikel auf ewig über das Rhein-Mosel-Eck herrschen zu lassen, wird man wohl fragen dürfen.
Dass es sich bei Gondeln, Pfeilern und Stationen um Architektur von künstlerisch hohem Wert handelt, kann ernsthaft niemand behaupten. Dass die Talstation zum historischen Panorama aus St. Kastor, Deutschherrenhaus und Deutschem Eck passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, kann jeder sehen, der die Augen aufmacht, statt sie nur verzückt zu rollen. Vielleicht klärt sich die Sicht etwas, wenn im Herbst die Blätter fallen und das Ensemble sich wieder ein halbes Jahr splitterfasernackisch präsentiert.
„Ach was“, knurrt Freund Walter: „Je länger der Seil-Kram da steht und schwebt, umso mehr gewöhnt man sich daran. Es haben jetzt schon viele Leute kaum noch eine Vorstellung, wie es hier ohne Seilbahn aussah und aussehen könnte. Nach einer Betriebsverlängerung vielleicht bis 2015 erinnert sich außer ein paar Denkmalpflegern, Heimatkundlern und Kunsthistorikern kein Mensch mehr, was den eigentlichen Charakter des Rhein-Mosel-Ecks mal ausgemacht hat.“
Walter ist frustriert. Er sieht zu viele Kräfte am Werk, die offen oder klammheimlich mit strategischer Raffinesse auf die Seilbahn als Dauereinrichtung hinarbeiten. „Praktisch-flott und obendrein eine Touristenattraktion: Damit wird das Ding zum vermeintlich alternativlosen Strukturelement wie Autobahn oder Gewerbegebiet. Vielleicht ist das der Grund, warum in diesem Fall der volkstümliche Reflex gegen moderne Architektur in altehrwürdiger Umgebung nicht funktioniert. Denn wer gewinnt, wenn Mobilitätsfreuden und Wachstumsversprechen gegen Kulturerbe antreten? Autobahn und Gewerbegebiet – mögen sie die Welt auch noch so sehr verschandeln.“