Der Titel des Musikstückes will mir gerade nicht einfallen. Aber jeder kennt das Motiv: Einsame, schwermütige Töne einer Slideguitar beugen sich melancholisch durch Moll-Intervalle. Vom Fernsehen wird diese Musik stets bemüht, wenn Bilder trostloser, gottverlassener, sterbender oder gestorbener Gefilde zu untermalen sind: vergessene Straßen irgendwo am Arsch der Welt; Geisterstädte des Wilden Westens; verblühte Industrielandschaften; bröckelnde Wohngebiete; barmende Wälder/Felder/Flüsse; schrundige Gesichter aus der Welt gefallener Menschen. Wann immer das Motiv erklingt, singt es schweigend: „Hier bewegt sich nichts mehr, hier ist weder Anfang noch Hoffen, nur Warten aufs Ende.“ Manchmal haucht es auch: „endlich Ruhe.“
Das ist der Blues. Gespielt wurde er im August durch alle Nachrichtensendungen inklusive „ARD-Brennpunkt“ zu Bildern vom stille dümpelnden Mainzer Hauptbahnhof. Es mag einem seltsam erscheinen, aber so simple Einrichtungen wie Bahnhöfe haben offenbar das Zeug zu gehöriger Prominenz. Zuletzt hatte ein schwäbischer Bahnhof Schlagzeilen gemacht wegen Tieferlegung für vier, sechs oder mehr Milliarden Euro. Jetzt steht der Mainzer Bahnhof im Fokus, weil dort über die Jahre am Stellwerkspersonal ein paar zehntausend Euro eingespart wurden. Was Freund Walter auf den Gedanken bringt: „Mag sein, dass in Stuttgart am Ende das gleiche Ergebnis erzielt wird wie jetzt in Mainz: störanfälliger Bahnbetrieb mit hochmoderner Neigung zum Stillstand. Fragt sich, warum die Bahn dazu bei den Schwaben nicht gleich nach Mainzer Methode verfährt. S’tät schließlich nix koschte, sogar ebbes eibringe und ganget viel schneller.“
Bisweilen kommt einem der Verdacht, die dereinst vom Rotgrün-Kanzler Gerhard Schröder bei Hartmut Mehdorn in Auftrag gegebene Fitmachung der Bahn für den Börsengang verfolge klammheimlich ein ganz anderes Ziel: Umwandlung des deutschen Eisenahnwesens ins weltgrößte Kabarett. Denn die dramaturgische Beziehung zwischen bahnlicher Realität und bahnlicher Werbung folgt unverkennbar der Satire-Logik. „Alle reden vom Wetter, wir nicht“ oder „Die Bahn macht mobil“: Die DB-Werbeabteilung weiß doch um die extrem hohe Wahrscheinlichkeit, dass Anzeigen mit solchen Slogans in den Zeitungen mit Berichten über vielerlei Erscheinungen des geraden Gegenteils zusammentreffen.
Vereiste Weichen und Oberleitungen im Winter, streikende Klimanalagen im Sommer, Achsenbrüche, wegfliegende Türen, verspätete oder ganz ausfallende Züge, überfüllte Wagen, Abstrusitäten bei der Fahrpreisgestaltung, Null-Service auf desolaten Provinzbahnhöfen (wo es sie noch gibt), Spar-Service auf Hauptbahnhöfen, Berliner S-Bahn-Krise, jetzt Mainzer Zusammenbruch… Der ganze Zirkus begann 1994 mit der Umwandlung der Deutschen Bundesbahn zur Deutschen Bahn AG. Die olle Bürger-Bahn sollte schicke Börsen-Bahn werden – und geriet dabei vom Regen in die Traufe. Sprich: Aus der zuvor recht drögen, teuren Behörde ist ein aus Nutzersicht konfuses, chaotisches, ineffektives Profitcenter geworden.
DB heute = die Lachnummer Europas. Hungert sich daheim den eigenen Leib krank, weil ein großmannssüchtiger Wasserkopf partout im globalen Kasino mitzocken will. Ach, der Gerhard und der Hartmut, das sind schon zwei Kerle! Der eine macht nun in Gas, der andere in Flughafenrettung. Und was bleibt uns? Der Blues, der Mehdorn-Blues. Nicht nur in Mainz und nicht bloß bei der Bahn.
(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 34./35. Woche im August 2013)