Über die kulturellen Schlussseminare des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz
(Unkorrigiertes Manuskript eines Vortrages, gehalten am 19.11.2013 vor Lehrern und Schulrektoren beim Einsatzstellentreffen FSJ-Ganztagsschule Rheinland-Pfalz in Koblenz)
ape. Sehr geehrte Damen und Herrn, liebe Freunde vom Kulturbüro, weil ich von Berufs wegen zur schreibenden und nicht zur plaudernden Journalistenzunft gehöre, habe ich mir aufgeschrieben, was ich die nächsten 10 Minuten erzählen will.
Thema: die Abschlussseminare des FSJ-Ganztagsschule jeden Sommer im Familienferiendorf Hübingen/Westerwald. Um es gleich zu sagen: Diese vier Tage sind für mich als Kulturjournalist jedes Jahr wieder eine faszinierende Unternehmung. Meine Frau pflegt zu sagen: „Gehst du mal wieder in deinen Jungbrunnen?!“ Und das klingt dann keineswegs bedauernd.
Um Ihnen diese Faszination zu vermitteln, lassen Sie mich einen Augenblick zurückerinnern an die erstmalige Ankunft in Hübingen. Das war, glaube ich, im Sommer 2009. Da gurkst du also in irgendeine weltabgeschiedene Ecke des Westerwaldes. Dort stößt du auf die idyllisch im Grünen gelegene Wohnanlage aus Reihenbungalows nebst zentralem Haupthaus. Du stellst dein Auto ab, begibst dich auf die Suche nach einem FSJ-Verantwortlichen, der dir dein Bett zeigt.
Und was findest du beim ersten Gang übers weitläufige Gelände vor? Einen freundlich belebten Campus. Genauer – und das mag nun etwas hochtrabend klingen, trifft die Sache aber recht gut: Was ich damals sah und seither immer wieder sehe, entspricht ungefähr meiner idealischen Vorstellung von der Akademeia des Platon im antiken Athen. Auf Terrassen, Wiesen, unter Bäumen sitzen locker, aber aufmerksam buntgemischte Gruppen junger Menschen (in summa mehr als 230) beisammen und besprechen Eindrücke, Erfahrungen, Lehren aus ihrem zurückliegenden FSJ. Am Abend machen sie dann, was junge Menschen seit jeher machen, wenn sie in größerer Zahl und weitgehend eigener Verantwortung zusammen sind: ausgelassen feiern; eben die Potenziale ihres jungen Lebens ausprobieren und genießen.
Am nächsten Morgen nach dem Anreisetag finden sich die Jugendlichen in neuen Konstellationen in ihrem jeweiligen Workshop ein (je bis zu 15 Teilnehmer). Den hat sich jeder aus dem Angebot von rund eineinhalb Dutzend ganz verschiedenen Arbeitsfeldern ausgesucht. Dort treffen sie auf einen ihnen meist völlig fremden, Anfangs bisweilen auch ziemlich suspekten Workshopleiter. Mit dem zusammen tun sie nun drei Tage lang Dinge, die manche noch nie getan haben. Dinge, für die sich jeder aus diesem oder jenem, gelegentlich auch unerfindlichem Grund interessiert.
Mit dem Beginn der dreitägigen Workshops treten die jungen Leute zum Abschluss ihres FSJ in eine Tätigkeitssphäre ein, die fast gar nichts mehr mit dem zurückliegenden Jahr zu tun hat. Zumindest ist das auf den ersten Blick so. Auf den zweiten wird allerdings deutlich: Auch diese Workshops sind ein Element im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung. Sie bieten einen nicht alltäglichen Raum für individuelle Neigungsfindung und Talenterprobung – auch für neuartige gruppendynamische Erfahrungen.
Theaterspiel, Tanzperformances, Bandmusik, Chorgesang, Filmemachen, Fotografie, Keramikgestaltung, künstlerische Landschaftsgestaltung, Skulpturenschaffung mit Schrott und Schweißapparat, Architektur, Modedesign, lyrisches Schreiben oder in meiner Gruppe journalistisches Arbeiten. So etwa ist das Spektrum der Workshops, die das Ferienlager Hübingen jedes Jahr rasch in einen quirligen Kreativcampus verwandeln.
Bei den 18 Workshopleitern der Abschlusswoche handelt es sich überwiegend um freischaffende Künstler und Kunsthandwerker, nicht um hauptberufliche Pädagogen. Daraus ergibt sich jedes Jahr aufs Neue in jeder Gruppe die spannende Frage: Gelingt es, weitgehend ohne methodisch-didaktische Raffinesse, einfach nur über die Arbeit an einer bestimmten Sache bei den Jugendlichen Aufmerksamkeit, Engagement, Kreativität, produktives Zusammenwirken zu wecken und zu entfalten?
Für viele der jugendlichen Teilnehmer ist die Arbeitsweise der meisten Workshopleiter anfangs recht befremdlich. Denn wie Künstler nun mal sind, sein müssen, besteht ihr Arbeitsprozess gerade in der Startphase über weite Strecken aus freier Assoziation, aus freiem Spiel mit Ideen und Materialien. Die Workshopleiterin Tanz bringt eben keine vorgefertigte Choreographie mit, die es dann nur noch nach bestem Vermögen einzustudieren gilt.
Der Workshopleiter Architektur lässt sich im einen Jahr zehn Bündel Dachlatten nebst etlichen hundert Quadratmetern Plastikplane anliefern, im nächsten Jahr sind es bespielsweise 250 leere Bierkästen. Für das, was aus dem jeweiligen Material im Hübinger Gelände entstehen kann, hat er keine Blaupause im Gepäck, die von den Teilnehmern bloß nachgebaut wird. Es liegt vielmehr an den Jugendlichen selbst, Ideen zu entwickeln, Entwürfe zu machen und deren Machbarkeit praktisch zu erproben.
Meine Damen und Herrn, das ist nicht selten ein ziemlich schwieriger Prozess. Denn diese jungen Erwachsenen sind vielfach vor allem auf Effizienz, auf gradlinige und schnelle Zielerreichung bei der Umsetzung vorgegebener Aufgaben programmiert. Mancher FSJler würde am liebsten das fertige Modell eines angestrebten Ergebnisses sehen und einen konkreten Handlungsplan für die Erreichung desselben in die Hand gedrückt bekommen.
Genau darum aber geht es in den Workshops NICHT. Es geht vielmehr um Erkundung von Neuland, um das Öffnen von Türen und Horizonten; es geht um das Entdecken und Erwecken der eigenen Kreativität. Und ja, es geht auch um das Wiederausgraben des meist schon verschütt gegangenen oder entstellten Spieltriebs.
Die Workshopleiter geben dabei Impulse, bündeln Ideen und Ansätze, helfen mit praktischen und technischen Tips, ermutigen Schüchterne und Mutlose, warnen vor Sackgassen oder stehen bei Krisen mit Rat und Tat zur Seite. Wenn ein Workshop richtig gut läuft, sind die Teilnehmer spätestens am Nachmittag des zweiten Tages Feuer und Flamme für IHRE Arbeit dort – zumindest aber ordentlich interessiert daran und aus weitgehend eigenem Antrieb aktiv bei der Sache.
Als Leiter des Workshops Journalismus genieße ich das Privileg, einen Großteil all dieser Prozesse auf dem Hübinger Gelände als mittelbarer Beobachter verfolgen zu können. Denn die Teilnehmer meiner Gruppe sind ab Spätvormittag des ersten Tages als zweiköpfige Reporterteams unterwegs, um Nachrichten, Berichte, Interviews, Minireportagen vom gesamten Campus und über jeden Workshop auf die Beine zu stellen. Daraus wird dann bis zum Abend jedes Tages eine Art Lagerzeitung gestrickt.
Es kommt dann beispielsweise ein Team aus der Schrottwerkstatt zurück und meldet staunend: „Da sind ja fast mehr Mädchen als Jungs dabei – und die wollen aus alten Rohren, Kochtöpfen, Bettfedern eine Pferdeskulptur zusammenschweißen.“ Vom Theater-Workshop bringt ein anderer Reportertrupp kopfschüttelnd den Momenteindruck mit: „Die sind völlig durchgeknallt, machen nur Schweinskram, reden über Sex-Stellungen und wie man lustvoll stöhnt.“ Später stellt sich heraus, die Theaterleute arbeiteten zu diesem Zeitpunkt für ihre Persiflage auf Goethes „Faust“ an einer Schattenszene über das Tete-a-Tete zwischen Mephisto und Frau Marthe.
Oder es kommt die Nachricht herein: „Dicke Luft bei den Musikern“. Will sagen: Da steckt ein Workshop in der Krise, weil vielleicht sehr unterschiedliche Vorstellungen und Neigungen noch keinen gemeinsamen Nenner gefunden haben. Von den Landschaftskünstlern oder Architekten oder auch Dichtern bringen meine Leute die Meldung mit: „Großer Frust dort. Die haben nach einem ganzen Tag harter Arbeit alles eingerissen oder weggeschmissen, weil sie das Ergebnis doof fanden. Jetzt fangen sie bei Null wieder an.“
Meist am letzten Tag liegt dann auch ein Artikelchen auf dem Tisch, das von Panik im Film-Workshop berichtet – weil man dort nicht weiß, ob man bis zur Präsentation am Abend die riesige Menge selbst gespielten und gedrehten Materials noch vernünftig geschnitten kriegt. Irgendwie klappt’s dann doch noch.
Meine Damen und Herrn, ich hoffe, diese wenigen Beispiele lassen Sie eine ungefähre Ahnung von der Atmosphäre in Hübingen gewinnen. Kreatives Machen und Tun in allen Ecken. Bei Keramikern, Malern und Dichtern spielt sich das meist in ruhiger, individueller Versunkenheit ab; andere Sparten machen Wald, Wiesen, Wege, Gemeinschaftsräume und Unterkünfte zu bisweilen turbulent bespielten Sets und Bühnen.
Mancher Jugendliche entdeckt dabei an sich eine nie gekannte kreative Ader oder findet plötzlich eine Ausdrucksform für lange im Innern verschlossene Gefühle. Ja, wir haben während der Workshop-Arbeit und wiederholt bei deren Schlusspräsentation vor dem großen Publikum des Gesamtplenums erstaunliche Talent-Öffnungen erlebt – und manchmal auch regelrechte Outcomings oder karthatische Momente. Und jedes Jahr wieder gelangen die Workshopleiter gegen Ende der Woche zu der Formel: Man gebe diesen Jugendlichen Material, Freiraum, kleine Anregungen, ein bisschen Hilfestellung – und sie verwandeln sich in Kreativbomben.
Interessanterweise verschwindet während der Workshop-Tage bei den meisten FSJlern Zug um Zug auch die Scheu, anderen die Ergebnisse ihrer seltsamen, scheinbar zweckfreien Arbeit zu zeigen. Am Ende geniert sich kaum noch jemand, sondern überwiegt der Stolz auf das Selbstgeschaffene. Dann WOLLEN die Jugendlichen ihre Werke beim mehrstündigen Abschlussevent in Form von Bühnenperformances, Filmvorführungen und Ausstellungen auch allen zeigen.
Das berühmte Edikt von Joseph Beuys‘, wonach jeder Mensch ein Künstler sei, wird hier für ein paar Tage gelebte Realität. Dass die FSJler in Hübingen diese Erfahrung am Übergang zum Erwachsenen-Dasein machen können, halte ich für einen hohen Wert an sich. Weshalb es mich mit Freude erfüllt, auch im kommenden Sommer das Faszinosum jugendlicher Kreativexplosion wieder miterleben und mitgestalten zu dürfen.
Andreas Pecht