Über die Bedeutung von Kunst für den Menschen, und die Bedeutung des Marktes für die Kunst
ape. Das nachfolgend publizierte Manuskript eines Vortrages, den ich am 11. März 2015 bei den Marienberger Seminaren gehalten habe, setzt sich aus ausformlierten Teilen und nur in Stichworten skizzierten Passagen zusammen. Es ist mir zeitlich leider nicht möglich Letztere ebenfalls in Schriftform auszuformulieren. Aber der aufmerksame, mitdenkende Leser wird auch aus den Stichworten zumindest den Kern des Gemeinten erschließen können.
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Guten Tag meine Damen Herrn,
mein heutiges Thema:
Die Bedeutung von Kunst und Kultur für den Menschen, und die Bedeutung des Marktes für Kunst und Kultur.
Drei weit verbreitete Missverständnisse oder Fehleinschätzungen hinsichtlich der Bedeutung und Funktion von Kunst für Mensch und Gesellschaft möchte ich vorweg ansprechen.
Missverständnis I:
Kunst und Kultur seien ein Luxus, auf den die Menschen erst verfallen, wenn das nackte Überleben gesichert ist.
> Falsch. Gegenthese: Kunst ist ein überlebensnotwendiges Lebensmittel, ein unverzichtbares Antriebsmittel der Zivilisationsentwicklung, und das Bedürfnis danach ist in unserer Natur angelegt.
> Beweisverfahren: Historischer Sprung zurück zu den ersten Anzeichen für künstlerische Betätigung in der Zivilisationsgeschichte. > Ab in die Archäologie >Ab in die Steinzeit.
Das älteste Musikinstrument: 2009 auf der Schwäbischen Alb entdeckt, 35 000 bis 40 000 Jahre alt, Flöte aus Gänseknochen. Aus derselben Epoche: Erste Menschendarstellung, 6 cm kleine Skulptur aus Mammutelfenbein geschnitzt = ein wohlgenährtes Frauenzimmer mit überdimensierten Brüsten und einer riesigen Vulva.
Keine reale Frau war zu jener Zeit derart ausgestattet. Also: Wunschbild, Sexsymbol, Fruchtbarkeitssymbol, Ritualgegenstand. = Künstliches Fantasiegebilde, nicht Abbild der Realität.
– Höhlenmalereien in Fankreich und Spanien von 40 000 bis 10 000 v.u.Z
– Die Frauen von Andernach/Gönnersdorf 14 000 v.u.Z.; ästhetisch ganz anders als die Matronen zuvor und europaweit verbreitet.
– Dazu Schmuck, Hausrat und Keramikverzierungen.
> Funktionen: Ritual, Sozialzeichen, Freude/Spaß/Schönheit – aber überlebenstechnisch eigentlich nutzlos. = Selbstzweck der Menschlichkeit.
Diese Funktionen bleiben der Kunst durchgängig bis in die Gegenwart.
Und wir nehmen heute an: Für die Entwicklung der frühen Gesellschaften waren sie mindestens ebenso bedeutend wie technische Innovationen.
>Resümee zu Missverständnis I:
Wir haben die unterschiedlichsten Früh- und Naturvölkerkulturen entdeckt: Ohne Privateigentum, ohne Familienstrukturen, unzählige Matriarchate oder gänzlich hierarchiefreie Gemeinschaften, Güterverkehr ohne Geld und ohne Tauschhandel allein auf Geschenkbasis… Aber wir haben bislang nicht ein einziges Volk, keine einzige Entwicklungsepoche gefunden, in der Kunst nicht essentieller Bestandteil des Lebens gewesen wäre.
> Mehr noch: Wir können heute davon ausgehen, dass Musizieren, Tanzen, Malen, Bildhauern etc. sich einige zehntausend Jahre vor dem Handel-Treiben und Kriegführen entwickelten. a) Es gab bis zur Sesshaftigkeit kaum Händler. b) Es gab bis etwa 8000 v. Chr. keine Krieger, weil die wenigen Menschen jener unglaublich dünn besiedelten Epoche begierig waren, einander zu begegnen, nicht einander zu bekämpfen.
Missverständnis II:
Die Künste sollen mit Schönheit das Leben im irdischen Jammertal erleichtern. Heute: Kultur soll gefallen und unterhalten.
> Gegenthese: Das Hässliche, Bedrohliche, Traurige, Tragische war spätestens seit sumerischer, ägyptischer und schließlich griechisch-römischer Antike stets ebenfalls ein zentrales Thema der Künste.
s. antikes Drama, s. Shakespeare, Tschechow, Ibsen, Brecht; s. klassische Musik; s. Höllen- und Leidensmalerei + Kirchenarchitektur seit dem Mittelalter, s. Goethe, Schiller und die ganze Weltliteratur…..
> These: Kunst war nie nur verschönernder Schmuck oder vergnügliche Kurzweil, sondern stets auch Reflexion über Mensch und Leben im Guten wie im Schlechten.
Missverständnis III:
Es geben keinen Unterschied zwischen E und U, zwischen ernster/hoher Kunst und Unterhaltungskultur.
Diskurs der 60er/70er über „Kultur für alle” wurde oft falsch verstanden. Hilmar Hoffmann meinte mit dieser Forderung: Öffnung der Hochkultur für alle Volksschichten, nicht Banalisierung der Hochkultur zu Populärkultur.
>These: E und U haben gleiche Existenzberechtigung, aber sie sind nunmal nicht gleich = denn Störung des Alltäglichen/Selbstverständlichen und Reflexion (Kunst) sind das Gegenteil von sich unterhalten lassen. E spannt Kopf und Sinne aufs höchste an, U schaltet Kopf aus und umschmeichelt die Sinne (Entspannung).
>Unterschied wie gleiche Existenzberechtigung E/U kennen wir ebenfalls aus der Geschichte:
antike Tragödie vs. antike Lustspiele (dionysisch/bacchantisch); im Mittelalter kirchliche Mysterienspiele vs. Straßentheater; hohe Kirchenmusik vs. Kneipenmusik; hehres Theater der Klassik (Goethe) vs. Comedia del arte; Romankultur der Romantik = Kunst vs. Trivial…
Shakespeare und Moliere brachten E und U noch unter einen Hut, aber selbst in ihren deftigsten und komischsten Momenten arbeiteten sie auf hintersinnige Reflexion über Mensch, Gesellschaft, Sein hin. zB Sommernachtstraum oder Der Geizige.
>Die Arroganz von E gegenüber U ist so elend wie die Anmaßung von U, Kunst zu sein.
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Wir haben also gesehen: Kunst zu schaffen und rezipieren ist ein urmenschliches Bedürfnis seit Anbeginn der Zivilisation. Betrachten wir nun, was in der Neuzeit daraus geworden ist und noch mehr zu werden droht.
Zitat Nida-Rümelin:
„In der gegenwärtigen Umbruchphase der globalen Ökonomie ist eine kulturelle Perspektive gefordert und – damit zusammenhängend – eine neues Verhältnis von Ethik und Politik, Recht und Ökonomie, Staat und Zivilgesellschaft. (Achtung jetzt!:) Die jeweiligen Systeme haben ihre eigene innere Logik und es treten besondere Probleme auf, wenn die Logik des einen Systems auf die des anderen übertragen wird oder ein System alle übrigen dominiert.“ So weit Nida-Rümelin.
Und damit, Herrschaften, stecken wir mittendrin im aktuellsten Übertrend – man kann auch sagen Schlamassel – der uns alle betrifft. Es ist nämlich in unserer Gegenwart die Logik eines Systems dabei, alle anderen Systeme zu dominieren: Die Logik der Ökonomie. Das ökonomisch orientierte Denken durchwuchert zusehends sämtliche Gesellschaftsporen, hat auch Kunst und Kultur ziemlich fest in den Griff genommen.
Dieser Trend beeinflusst unser Hirn nachhaltig, er verändert schleichend unser Verhältnis und Verständnis von Kunst und Kultur. Und dieser Trend spiegelt sich in einem vor ein paar Jahren neu entstandenen Begriff, der mir schon vom Wort her heftiges Bauchgrimmen, um nicht zu sagen Übelkeit verursacht:
Kreativwirtschaft oder Kulturwirtschaft.
Bedeutet: Subsumierung aller irgendwie mit Kultur/Kreativität zu tun habenden Zweige in einer Wirtschaftsbranche: traditionelle Kultur- und Bildungsbereiche ebenso wie PR- und Werbeagenturen, Web- und Produktdesigner (inkl. Autos, Kühlschränke, Vibratoren), TV- und Rundfunkbereich, Zeitungen/Illustrierten, Filmindustrie, Landschaftsgestalter, Freizeitparkbetreiber, Köche und Touristiker….
Der kreativwirtschaftliche Diskurs geistert seit etwa 2008 mit Macht in der Republik herum, auch in Rheinland-Pfalz.
Ich will nicht weiter auf die Absurdität eingehen, dass da beispielsweise die Schöpfung von Kunst und die Vermittlung von Kunst in einen Topf gerührt wird mit der Werbung für Waschmaschinen, der Vermarktung touristischer Destinationen oder der Zusammenstellung von Klangkulissen für Kaufhäuser, Fahrstühle und Wirtshaus-Toiletten.
Ich will mich auch nicht langatmig darüber aufregen, dass in der Begriffswelt von Kreativ- und Kulturwirtschaft Theater, Museen, Orchester, Kulturzentren und Kulturuclubs, ja selbst Künstlerateliers oder die einsamen Schreibklausen von Schriftstellern primär als Wirtschaftsbetriebe betrachtet werden.
Ich möchte vielmehr auf ein fast noch bemerkenswerteres Phänomen eingehen: Die Kulturszene selbst hat geradezu gierig nach dem Brocken Kreativwirtschaft geschnappt – vor allem nach dem Zahlenmaterial, das damit einherkam.
Denn wohlfeil die Kulturinstitutionen zusammengerechnet mit Radiosendern, Fernsehanstalten, Werbewirtschaft und Co., lässt sich aus den Zahlen ableiten: Der Kulturbereich ist eine wirtschaftliche Supermacht in Deutschland! Nach Umsatz und Beschäftigtenzahl rangiert die so definierte Kreativ-/Kulturwirtschaft nicht weit hinter der Automobilbranche, gleichauf mit Chemiewirtschaft und weit vor dem Transport-Gewerbe.
Ja, das schafft Selbstbewusstein! Plötzlich steht die Kultur als gesellschaftlich relevante, weil ökonomisch bedeutende Kraft da. Plötzlich können die Kulturschaffenden den Automobilbossen und Bankern auf gleicher Augenhöhe begegnen. Können nach Lobbyisten-Manier der Politik mit drohendem Verlust oder erhofftem Zugewinn von Arbeitsplätzen winken.
Plötzlich ist die Kulturszene ein mitentscheidender Faktor für die Steigerung des Bruttosozialproduktes – und nicht länger bloß ein mehr oder minder freundlich belächelter, mehr oder minder großmütig geduldeter, paternalistisch gehegter Spielplatz oder Vergnügungspark am Rande des wirklichen, des ernsten, des ökonomisch bestimmten Lebens.
Der gesellschaftliche Wert von Kunst und Kultur nimmt plötzlich sprunghaft zu, weil er nunmehr nach allgemeinen ökonomischen Maßstäben bemessen wird. Und wir Idioten machen uns diese Maßstäbe auch noch stolz zu eigen – statt weiter entschieden auf den primären Selbstwert von Kunst und Kultur für das menschliche Dasein zu pochen.
Mit Verlaub, mit diesem Paradigmenwechsel – den viele kultursinnige Zeitgenossen auch noch begeistert mitmachen – hat der Marktliberalismus Kunst und Kultur am Arsch. Wenn wir nicht dagegenhalten, ergeht es den Künsten wie den Wissenschaften und der Bildung: Sie werden fortan immer wieder aufs Neue ihre Nützlichkeit für den wirtschaftlichen Gang der Dinge nachweisen müssen.
Werfen wir mal einen Blick auf die Entwicklungen im Bildungsbereich.
Was hat es auf sich mit dem Turbo-Abitur, was mit dem berühmt-berüchtigten Bologna-Prozess an den europäischen Hochschulen? In beiden Fällen geht es nicht zuletzt um Ökonomisierung der Bildung. Begründet werden die „Reformen“ in beiden Fällen mit besserer Abstimmung zwischen Bildungswegen und veränderten Ansprüchen auf dem Arbeitsmarkt. Die vorgebliche Maxime lautet: Die beruflichen Chancen der Schüler und Studenten optimieren. Heißt zugleich: Die Interessen der Wirtschaft bedienen.
Wie auch immer man dazu steht: Es bleibt der Effekt, dass im Zuge dieser Entwicklung das Verständnis vom Selbstwert der Bildung als humanistische, emanzipatorische Menschenbildung weitgehend verloren gegangen ist. Zugespitzt gesagt: Bildung verkommt zum Wirtschaftsfaktor.
Ein anderes, ganz kleines, aber vielsagendes Beispiel aus dem Bildungsbereich. Die moderne Hirnforschung hatte ausgetüftelt, dass Musikhören, Musizieren und Singen überaus positive Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern hat. Das ist an sich keine weltbewegende neue Erkenntnis, sondern empirischer Wissensstand der Pädagogik seit Generationen. Neu war nun allerdings der wissenschaftliche Beweis, dass musikalisches Tun sich mittelbar auch positiv auf die Lernfähigkeit in naturwissenschaftlichen und sprachlichen Fächern auswirkt.
Frage: Wer griff diese Erkenntnisse vor einigen Jahren am begierigsten auf, rieb sie mit Verve und wachsendem Selbstbewusstsein Lehrerkollegien wie Schulpolitikern unter die Nase? Die Musiklehrer! Sie sahen mit einemmal die Chance gekommen, ihr allweil als Spielerei geringgeschätztes Nebenfach gehörig aufzuwerten. Und zwar nicht wegen seines kulturellen Wertes an sich, sondern wegen seiner Nützlichkeit für die harten, wichtigen, ökonomisch relevanten Fächer wie Mathematik, Physik, Englisch etc.
So richtig absurd wurde die Sache dann, als ein paar amerikanische Forscher meinten herausgefunden zu haben, dass die spielerische Auseinandersetzung speziell mit der Musik Mozarts kindliche Gehirne zu Höchstleistungen befähige. In den USA entstand sofort eine ganz neue Industrie mit Mozart-Spielen und Mozart-Lernmitteln. Hierzulande ging man es zwar etwas ruhiger und skeptischer an, war aber auch nicht abgeneigt, zwecks Steigerung der allgemeinen Lerneffizienz auf den Mozart-Wunderzug aufzuspringen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass fast zur selben Zeit bekannt wurde: Kühe, denen man über Lautsprecher im Stall jeden Tag ein paar Stunden Mozart vorspielt, sollten mehr Milch geben.
Um den vermeintlichen Mozart-Effekt (es gibt ihn in der behaupteten Direktheit nicht) ist es inzwischen still geworden, auch ist Musik in den Schulen noch immer kein Hauptfach. Aber der Bedeutungszuwachs für die sogenannten Softskills hält an. Softskills meint soziale Kompetenz , Teamfähigkeit, individuelle Verantwortlichkeit für die Arbeit in der Gruppe, Führungseigenschaften etc. Es hat sich nämlich herumgesprochen, dass das im Wirtschaftsleben sehr nützliche Fähigkeiten und Fertigkeiten sind, und dass sie gerade bei kulturell-künstlerischem Tun erworben und trainiert werden können.
Noch vor ein paar Jahren hätte ein junger Arbeitssuchender es tunlichst vermieden, in seinen Lebenslauf für die Job-Bewerbung hineinzuschreiben: Ich spiele in einer Rockband, ich mache Rap-Musik, ich bin ein Poetry-Slamer, ich mache im Jugendtheater mit, ich gestalte in der Jugendkunstwerkstatt aus Müll zivilisationskritische Skulpturen. Heute wären Jugendliche blöd, wenn sie das nicht in ihren Lebenslauf hineinschreiben würden.
Die ökonomische Bedeutung der Softskills wird in der Wirtschaft zusehends begriffen; damit auch die letztlich geldwerte Bedeutung des aktiven Engagements von Jugendlichen in der Kultur. Das ist eine gute Entwicklung, keine Frage. Aber sie birgt eine Gefahr, derer wir uns immer bewusst sein sollten: Die mächtigen Mechanismen der Ökonomie tendieren dazu, Kunst und Kultur von ihrem eigentlichen Daseinszweck zu entfremden. Kunst und Kultur sind nämlich ihrem Wesen nach nicht dazu da, die ökonomische Verwertbarkeit der Menschen zu steigern.
Eher im Gegenteil: Kunst und Kultur sollen, wollen in erster Linie zur Emanzipation des Menschlichen von den Zwängen des alltäglichen Räderwerks beitragen. Die Beschäftigung mit Kunst und Kultur soll primär die Selbstbewusstwerdung des Individuums fördern, soll seinen seelischen und geistigen Selbstwert steigern – nicht seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Ich habe es in den letzten Jahren wiederholt erlebt und finde es völlig absurd: Da gibt es Institutionen in der Kulturszene, die werben für sich selbst unter dem Motto: Kommt zu uns, macht bei uns mit, das erhöht eure Chancen auf Erfolg in Beruf und Arbeitswelt.
Wenn die Kultur sich dazu verführen oder treiben lässt, ihre Daseinsberechtigung ökonomisch zu begründen, ist das ein großer Schritt in Richtung – Selbstaufgabe.
Kultur als „Standortfaktor“
Ganz neu ist diese Entwicklung übrigens nicht. Schon in den frühen 1990er-Jahren machte sich in der kulturpolitischen Diskussion ein Begriff und eine Betrachtungsweise breit, die als Vorläufer der Kreativwirtschaft-Ideologie gelten darf: Kultur als Standortfaktor. Damals schossen Sommerfestivals wie Pilze aus dem Boden, weil man entdeckt hatte, dass die Attraktivität von Städten und Landstrichen dadurch zunimmt. Damals kam die Argumentation auf, dass das Kulturangebot einer Stadt mitentscheidend sei für ihre Position im Wettbewerb um Industrieansiedlung und Zuzug von Neubürgern – gleichgewichtig neben Verkehrsinfrastruktur und Bildungsangebot. Die Kulturszene hat seinerzeit das Argument Standortfaktor dankbar gegen Kultursparpläne und für die eigene Aufwertung ins Feld geführt.
Damit wir uns nicht missverstehen: Das ist alles durchaus richtig, trifft alles durchaus zu. Aber der Blickwinkel der ökonomischen Nützlichkeit von Kultur zäumt das Pferd verkehrt herum auf. Denn diese Nützlichkeit resultiert gewissermaßen bloß als automatischer Nebeneffekt aus dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Kunst und Kultur.
Dieses Bedürfnis ist quantativ wie qualitativ von Individuum zu Individuum unterschiedlich ausgeprägt. Aber es gibt doch ein ziemlich weit verbreitetes Verständnis davon, dass zu einem zivilisierten Gemeinwesen ein gerüttelt Maß an Kunst einfach dazugehört. Als vor einigen Jahren der damalige Kulturminister Jürgen Zöllner den Bestand der rheinland-pfälzischen Staatsorchester zur Disposition stellte, empörten sich in Mainz und Koblenz dagegen auch Menschen, die noch nie in ihrem Leben ein Konzert dieser Orchester besucht hatten. Warum? Nicht, weil sie um die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit ihrer Stadt gefürchtet hätten. Sondern weil ihnen eine Großstadt ohne ordentliches klassisches Orchester schlichtweg undenkbar erschien.
Diese Denkweise lässt sich auf andere Kulturinstitutionen übertragen. Wollte die Politik in Mainz, Koblenz, Trier, Kaiserslautern morgen das örtliche Theater zusperren, sie hätte ein richtiges Problem – mit den Bürgern; zumindest mit sehr vielen; jedenfalls erheblich mehr als gewöhnlich ins Theater gehen. Selbiges bei den angestammten Museen oder Stadtbibliotheken, inzwischen wohl auch bei etlichen soziokulturellen Einrichtungen. Und allemal würde beim bürgerlichen Widerstand die ökonomische Konkurrenzfähigkeit der Stadt nicht die erste Geige spielen.
Die meisten Menschen haben im Normalfall kein ökonomisches Verhältnis zu den Künsten. Freilich, das Publikum muss notgedrungen bezahlen, um überhaupt an die Kunstobjekte seines Interesses ranzukommen. Für Theater, Museen, Konzerte, Kino etc. ist Eintritt zu entrichten, Bücher und CDs haben einen Preis. Insofern ist auch Kunst erstmal eine Ware. Aber von einigen Sammlern und Kapitalanlegern mal abgesehen, interessiert sich der Kunstrezipient eher wenig für den Geld- und Handelswert des Kunstproduktes, an dem es gerade mehr oder minder Gefallen findet.
Unsere Bücherregale und CD-Sammlungen daheim sind eben nicht als Kapitalanlage oder Sparbuch gedacht. Und anders als beim Kauf von Waschmaschinen, Autos oder Klamotten spielen beim Kino oder Theaterbesuch Preisvergleiche eine allenfalls nachgeordnete Rolle. Natürlich gibt es den Effekt, dass jemand nach einem Konzertbesuch oder den ersten 50 Seiten einer Buchlektüre sagt: „Das war sein Geld nicht wert.“ Doch dieser Spruch meint nicht wirklich das merkantile Verhältnis zwischen der Ware (Kunst) und ihrem Preis. Der Spruch bringt vielmehr in erster Linie ein negatives ästhetisches oder ein kunstkritisches Urteil zum Ausdruck.
Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen und lassen sich quer durch das gesamte Kulturspektrum festmachen. Der Jazz und nachher die Beatles: Es dauerte lange, bis die Widerstandsaffekte dagegen so weit abgemildert waren, dass das Kunstvolle in diesen Musikströmungen überhaupt erstmal wahrgenommen werden konnte. Moderne Dichtung, modernes Theater, moderne Bildhauer- und Malerei, sowieso das neuartige und auch renitente Kulturverständnis in den Soziokulturzentren, die seit den 1980er-Jahren überall aufkamen: Das alles dauerte bis es auch in einer gewissen Breite Akzeptanz fand, bis ihm ein ordentliches Quantum gesellschaftliche Anerkennung zuteil wurde.
Denn: Jede Zeit braucht ihre Zeit, um Geschmack an und Verständnis für die Neuerungen der Künste zu entwickeln.
Womit wir bei einer zentralen Fragestellung wären:
Was wird aus der Kunst, wenn sie sich mit Blick auf den Publikumszuspruch dem jeweiligen Zeitgeschmack anpasst?
Was geschieht, wenn die Kunstvermittler, also die Museen, Theater, Kulturveranstalter nur noch ökonomisch denken – also Angebote machen, von denen sie glauben, dass es dafür aktuell eine möglichst große Nachfrage gibt? Wenn also die zu erwartende Einschaltquote den Ausschlag für die Programmgestaltung gibt? Und was geschieht, wenn schließlich sogar die Künstler selbst vordringlich mit dem Gedanken an ihre Arbeit gehen: Was muss ich wie machen, damit sich meine Arbeitsergebnisse gut verkaufen?
Die Antwort liegt auf der Hand, auch wenn wir sie im atemlosen Getriebe, das längst auch die Kulturlandschaft erfasst hat, vielfach aus den Augen verloren haben.
Die Antwort lautet: Hätten Künstler sich seit jeher nur am jeweils vorherrschenden Geschmack des Publikums (oder ihrer Auftraggeber) orientiert, dann wären wohl die meisten der bedeutendsten Kunstwerke der Menschheit nie entstanden. Selbst Kompositionen von Mozart und Beethoven, ja von fast allen großen Komponisten sind in der Entstehungszeit beim Publikum sehr oft auf Unverständnis gestoßen oder regelrecht durchgefallen. Fast jeder Fortschritt in der Bildenden Kunst war eine schwere, schmerzhafte Geburt. Kurzum: Wahre Kunst kann nicht gedeihen, wenn sie sich nur als wohlfeile Ware versteht.
Natürlich gibt es das, dass ein Schriftsteller sich hinsetzt mit der Absicht: Ich schreibe jetzt einen Publikumsrenner, einen Bestseller. Dieser Autor wird dann, eventuell unter Mitwirkung eines ganzen Helferstabes, all jene Bestandteile zusammensuchen und zusammenbauen, die bei möglichst vielen Lesern gerade beliebt sind. Im Augenblick wären das Hausfrauen-, Sekretärinnen- und Studentinnenfantasien a la „50 Shades of Grey” von freiwilliger Unterwerfung unters sexuelle Diktat eines potenten Don Juan oder aber „Die Schöne und das Monster“, wobei die Monster heute ebenfalls Schönlinge sind und mit Vampirzähnen ausgestattet.
Natürlich gibt es Komponisten, oder besser gesagt: Musikstilisten, die es ganz gezielt darauf anlegen, just einen populären Chartstürmer zu schreiben oder künstlich eine trendy Supergroup zu konstruieren und am Markt zu platzieren. Wie es auch Theaterregisseure gibt, die ihr ganzes Können bewusst darauf verwenden, eine Inszenierung hinzukriegen, die möglichst viele Besucher anzieht und sie möglichst gut unterhält.
In all diesen Fällen diktieren Geschmack und Erwartungshaltung des Publikums, diktiert der Markt dem Kulturprodukt seine Bedingungen. Die Nachfrage bestimmt Form und Inhalt des Angebots wenn nicht völlig, so doch maßgeblich. Die Ergebnisse dieser Art des Kulturschaffens lassen sich als gewaltige Sintflut von Banalitäten bis hin zu regelrechtem Schwachsinn an Bestellerlisten, Hitparaden, Fernsehprogrammen, Veranstaltungskalendern ablesen.
Es könnte jetzt eingewandt werden: „Pecht, du bist ein elitärer Sack und rümpfst arrogant die Nase über das Volk. Wenn‘s den Leuten gefällt, lass sie doch.“ Von mir aus, nichts dagegen: Ein jeder möge nach eigener Fasson glücklich werden.
ABER, jetzt etwas zugespitzt formuliert: Ich bitt mir aus, dass vor allem Leute, die es besser wissen, nicht daherkommen und erklären, Scheiße sei Kunst – nur weil sie mit Scheiße mehr Geld verdienen als mit Kunst. Und ich bitt mir aus, dass man den Kindern wenigstens die Chance gibt, den Unterschied zwischen Scheiße und Kunst kennenzulernen. Und ich bitt mir aus, dass man den sozial Schwachen wenigstens die Möglichkeit gibt, ohne Gefährdung des schmalen Geldbeutels tatsächliche Kunstangebote wahrnehmen zu können.
Schließlich bitt ich mir noch aus, dass die Öffentliche Hand nebst den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihren Kulturauftrag ernst nimmt und dafür sorgt: Dass der für Förderung der Künste und Kunstvermittlung vorgesehene Anteil am Gemeinschaftsgeld aus Steuern und Gebühren auch tatsächlich für die Förderung der Künste und für die Kunstvermittlung eingesetzt wird.
Schon klar: Für sehr viele Kulturinstitutionen sind Einnahmen aus Populärveranstaltungen überlebensnotwendig. Solche Ambivalenzen zwischen Kunstanspruch und seiner Finanzierung hat es immer gegeben. Bach, Händel, Hayden, Mozart, um bei den Musikern zu bleiben, mussten stets an ihre Einkünfte denken. Auch die Kunst muss essen und will anständig leben. Wieviel künstlerischen Anspruch, wieviel kreative Freiheit muss der einzelne Künstler für Lohn und Brot aufgeben? Wieviel ist er bereit, aufzugeben? Das ist ein sehr schwieriger Balanceakt, der die Kulturgeschichte seit ewigen Zeiten durchzieht.
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Historischer Exkurs:
>So alt wie Kunst selbst ist die Frage, wer sorgt für ihre Existenzgrundlage. Und so alt wie diese Frage sind die Spannungen zwischen Künstler/Kunst einerseits und Geldgebern andererseits.
Frühere Definition:
Mäzenatentum = uneigennützige Kunstförderung oder zwecks Beglückung des Mäzens allein;
Sponsoring = Arrangement auf Gegenseitigkeit: Geld für Kunst/Künstler gegen Werbeeffekt/Renommee für Sponsor.
>Diese Definition ist ein Irrtum.
Praxis im Feudalismus: Kunst war an Höfe und Kirchen gebunden, sie zahlten. Und sie versprachen sich was davon: Vergnügen, Kurzweil, Glanz des eigenen Hofes, Ansehen. Oder Glanz in den Kirchen zur Ehre Gottes und zur Beeindruckung der Gläubigen.
>Vorurteil: Die Herren bestellten, Künstler lieferten nach deren Geschmack. Die Sache ist komplizierter.
= Adel musikalisch gebildet, an Neuem und Hochqualität interessiert. Ein Hof, an dem wie in Koblenz „nur feste geschmauset und getrunken wird” (Mozart senior), aber schlecht musiziert, sinkt im öffentlichen Ansehen (der Feudalklasse).
Der Herr musste dem Künstler deshalb kreative Freiräume lassen und manches Kunstexperiment wagen. (Der Papst verzweifelte schier an Michelangelo und ließ ihn die Sixtinische Kapelle dennoch ausmalen; der Kaiser in Wien beschied Beethoven „zu viele Noten, zu viele” und ließ ihn doch spielen.)
>Ab 18. Jh. freie Künstler, die sich am Markt behaupten müssen.
Oper in Venedig (Vivaldi), Oper- und Konzertleben in London (G.F. Händel)= bürgerliche Wirtschaftsunternehmen, die sich selbst tragen müssen. Und doch ging es schon da nicht ohne Geldgeber/Mäzene. Und meist klagten die Künstler über „den elenden Geschmack des Publikums” und die Forderungen mancher Geldgeber nach Gefälligkeit. >Entsprechend mies oft die Qualität der Darbietungen.
>These: In der Kunst kann nicht einfach gelten „wer bezahlt, bestimmt, was hinten rauszukommen hat”. Wenn doch, kommt hinten selten etwas künstlerisch wertvolles raus.
>Die soziale Demokratie schafft erstmals Freiheit/Autonomie der Kunst bei gleichzeitiger staatlicher Alimentation von Kunst/Künstlern. Anders ist Kunstfreiheit (als Grundrecht) auch kaum denkbar.
>Geldknappheit des Staates führt zu Aushöhlung dieses Prinzips. Rotstift allüberall ausgerechnet seit 1989 auf dem Vormarsch. Primat der Ökonomie.
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Die Streitereien zwischen Künstlern und ihren Mäzenen, Dienstherren, Auftraggebern, Agenten füllen Bände. Ebenso der Zorn vieler Künstler auf die Ignoranz des Publikums ihrer Zeit. Künstler streben stets nach möglichst weit reichender Autonomie in ihrem Schaffen, ahnend oder wissend, dass sie andernfalls nicht ihr Bestes zu Wege bringen.
Dieser Widerspruch ist letztlich kaum auflösbar. Aufseiten des Publikums, der Öffentlichkeit, zumal in der demokratischen Gesellschaft, gibt es zwei Wege mit Autonomie-Streben der Künstler umzugehen.
Erstens: Man anerkennt, dass Kunstschaffen von Rang künstlerischer Freiheit und Autonomie bedarf. Daraus folgert: Wir lassen uns auf das Abenteuer ein, Kunst zu begegnen, die anspruchsvoll ist, auch mal anstrengend, ja verunsichernd oder verstörend – und bezahlen trotzdem dafür. Dies Abenteuer schließt für die Veranstalter oder Kulturvermittler das Risiko ein, dass sie gelegentlich oder öfter mal nur niedrige Einschaltquoten oder kleinere Besucherzahlen erreichen.
Der zweite Weg wäre: Öffentlichkeit und Zahlmeister bestehen darauf, dass Kunst sich am Markt behauptet. Etwa nach der Devise: Das Gute setzt sich letztlich durch; wenn nicht, kann es nicht gut gewesen sein. Dem aber liegt die irrige Annahme zugrunde, das Beste bekäme stets den meisten Applaus und würde am meisten gekauft. Wir alle aber wissen sehr gut, dass dem leider so nicht ist. Und wir wissen auch, dass keinen guten Geschmack entwickeln oder behalten kann, wer allweil nur mit schlechtem Essen genudelt wird.
Wer aber bestimmt am Ende, was gut und von hohem künstlerischem Wert ist, wenn es der Markt nicht kann?
Erstens gibt es da die Kriterien der Fachwelt. Die können bei der Kunstbeurteilung mehr oder minder hilfreich sein.
Zweitens gibt es da die Kulturgeschichte, die gewisse Künstler und ihr Werke einfach nicht vergessen kann. Wieder und wieder, manchmal mit langen Abständen dazwischen, werden solche Werke von den Nachgeborenen aufgegriffen. Warum? Weil wahre Kunst den Menschen verschiedensten Zeitalter etwas zu sagen hat, etwas zu geben vermag. Derart entstehen Klassiker.
Und da gibt es nicht zuletzt unser eigenes Empfinden. Unsere Neugierde, unser Suchen, unser Fragen, auch unser individuell mal mehr, mal weniger entwickeltes Gespür für tiefergehende Substanz und Vielschichtigkeit. Dieses Gespür ist viel weiter verbreitet, als man gemeinhin denkt. Beobachten Sie mal 7- bis 12-Jährige, wenn sie livehaftig klassischer Musik begegnen. Lasst Euch von Kindern – die Gelegenheit haben, mal in relativer Ruhe Originalwerke der Bildenden Kunst zu betrachten – erzählen, was sie da herauslesen.
Meine Erfahrung ist: Jedesmal, wenn man es hinbekommt, dass sich auch ganz einfache Menschen auf Kunst einlassen, erfassen sehr viele intuitiv sehr bald, ob sie es mit großer Kunst zu tun haben oder eher nicht. Schwierig wird es eigentlich immer nur, wenn die Kunstdarbietung die ihnen zur Verfügung stehenden Kulturtechniken überstapaziert. Fünf Stunden einer Wagner-Oper zu folgen ist fürs erste ebenso zuviel verlangt wie drei Wochen an einem anspruchsvollen Roman zu lesen oder sich einen ganzen Nachmittag lang für 20 abstrakte Gemälde zu interessieren. Das muss man erst lernen; so wie man als Erwachsener erst wieder lernen muss, was man als Kind mal konnte: der Fantasie freien Lauf zu lassen; nicht zu fragen, „was will der Künstler mir sagen“, sondern staunend zu erleben, was seine Kunst in meinem Kopf und Herzen auslöst.
Andreas Pecht