ape. Koblenz. Großes Aufgebot auf der Bühne: die Rheinische Philharmonie in Vollbesetzung, erweitert noch um einige Kollegen des Staatsorchesters Mainz. Große Kulisse im Saal: die Koblenzer Rhein-Mosel-Halle vollends ausverkauft; im Auditorium auch 116 Neulinge in der heuer auf 893 angewachsenen Abonnentenschar des Musik-Instituts. Dessen Reihe der Anrechtskonzerte startete am Wochenende im 207. Jahr nach Institutsgründung in die Saison 2015/16 – der eine Besonderheit anhaftet: Es ist die letzte von Daniel Raiskin als Chefdirigent des Koblenzer Staatstorchesters. Mitte 2016 beendet er nach dann elf Spielzeiten sein Amt auf eigenen Wunsch.
Das von ihm zusammengestellte und dirigierte Abendprogramm hat es in sich: drei großformatige russische Werke. Zum Anfang eines der wohl ruppigsten Orchesterstücke des mittleren 19. Jahrhunderts: „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge” in der 1867er Originalfassung von Mussorgski. Zum Schluss die wohl brachialste Ballettmusik des frühen 20. Jahrhunderts: Strawinskys „Le Sacre du printemps”. Und zwischen den beiden jeweils zu ihrer Zeit kulturrevolutionären Werken erklingt das populäre 1. Klavierkonzert von Tschaikowski.
Nikolai Rimski-Korsakow hatte die nach damaligen Maßstäben schiere Formlosigkeit und wüste Dramatik von Mussorgskis Fantasmagorie eines Hexensabbats derart erschreckt, dass er das Werk nach dem Tode seines Schöpfers gehörig überarbeitete. Vor allem in dieser geglätteten Fassung fand es Aufnahme ins Konzertrepertoire. Nun die ungebärdige Schroffheit des Originals mit aufeinanderprallenden Motiven, einander jagenden Rhythmen und Klangebenen bis hin zu gewagten Dissonanzen zu hören, ist ein Erlebnis, und deren Realisation eine Herausforderung fürs Orchester.
Die Souveränität, mit der die Rheinische die scharfkantigen Klippen nimmt, ist frappierend. Schon nach wenigen Takten wird klar: Der Klangkörper musiziert an diesem Abend in Glanzform. Die Reihen der Register geschlossen, die Bogenstriche der Geigen auch sichtbar in präzisem Gleichklang, Bläserbänke und Schlagwerk unter konzentrierter Hochspannung. Kaum etwas geht fehl; noch im dicksten Klangfuror, im rasendensten Rhythmus-Geknuddel herrscht spieltechnische Klarheit und also klanglicher Zauber.
Insofern kann das Anfangsstück als idealer Aufwärmer für den Schlussteil des Konzerts gelten. Denn was Mussorgski Musikern und Hörern abverlangt, kehrt bei Strawinskis „Frühlingsopfer. Bilder aus dem heidnischen Russland” in mehrfach verstärkter, modernerer, schwierigerer Form wieder. Das Orchester löst auch diese Aufgabe bravourös: groß, aber klar im Bombast; wunderbar abgestuft auch die weitesten dynamischen Entwicklungsbögen, von Raiskin mit kräftigem Schlag sicher durch die Labyrinthe sprunghaft wechselnder und gebrochener Ryhthmen geführt.
Die Ballettfreunde im Saal haben zu dieser Musik jetzt Bilder von Pina Bausch‘ legendärer Tanzchoreografie aus dem Jahr 1975 vor dem inneren Auge. Auch dies war eine Revolution der Tanzkunst. Freilich eine kleine, verglichen mit der Uraufführung von Strawinskys Musik zu Nijinskis Ballett 1913 in Paris. Die löste nicht nur einen gewaltigen Skandal aus, sondern wird im Nachhinein als das Ende der Romantik in beiden Kunstsparten gedeutet.
Wäre noch zu sprechen vom im Vergleich eigentlich fast gesetzten Klavierkonzert von Tschaikowski dazwischen. Doch welch ein Zusammenzucken, da der 31-jährige Pianist Boris Giltburg die berühmten Akkordfolgen der ersten Takte als Donnerschläge aus dem Flügel hämmert. Wie dereinst Glen Gould mit gekrümmten Schultern tief über die Tastatur gebeugt, bleibt er auch im Weiteren überwiegend bei einem zupackenden, markanten Anschlag. Das macht ein kristallklares, frisches und die Virtuosität des in Russland geborenen Israelis wunderbar durchhörbares Klangbild. Das Wechselspiel mit der Rheinischen ist hinreißender Passgenauigkeit, wobei Raiskin immer wieder der Schärfe des Klaviers eine bewusst gewählte Weichheit des Orchesterklangs zur Seite stellt. Langer, kräftiger Beifall hier wie am Ende des Abends unterstreichen: ein Spielzeitstart von hohem Rang.
Andreas Pecht