ape. Mainz. Im Rahmen der schon etliche Jahre währenden Mode, nicht fürs Theater geschriebene Literatur für die Bühne zu adaptieren, gibt es derzeit eine Franz-Kafka-Welle. Schon letzte Saison wurde vielerorts manches von ihm theatralisiert. In dieser Spielzeit bringt Wiesbaden ein Kafka-Projekt heraus, Kaiserlautern den „Bericht für eine Akademie” und Bonn „Das Schloss”. Den Anfang machte eben das Staatstheater Mainz mit einer ungewöhnlichen Umsetzung des Romans „Der Prozess”.
Besser passt eigentlich die Bezeichnung Choreografie für das, was da knapp zwei Stunden über die Bühne geht. Und man hätte den Abend statt mit Schauspielern, auf den meisten Positionen fast ebenso gut mit Mitgliedern der Tanztheater-Sparte besetzen können. Denn dominantes Element sind hier Körperspiel, Bewegungsinzenierung, Formationsanordnung, Pantomime. Das war beim Gastregisseur Jakob Ahlbom zu erwarten: Der Niederländer hängt einer Spielrichtung an, bei der dem Sprechtheater das Reden schon mal ausgetrieben und durch pure Körpersprache ersetzt wird. So weit kann er bei Kafkas „Prozess” natürlich nicht gehen. Gleichwohl ist das optische Geschehen in seiner Inszenierung von immenser Bedeutung.
Wir erinnern uns der Story: Josef K. wird verhaftet; ein undurchbarer Gerichtsapparat macht ihm den Prozess; der ohnmächtig in diesem Justizmonstrum zappelnde Angeklagte erfährt aber nie wofür, wogegen und warum; am Ende wird er schuldig gesprochen und stirbt. Die Bühne ist in Mainz nfangs verschlossen von einer in konzentrisch immer kleiner werdenden Rechtecken gegliederten Wand. Zum Klackern einer Schreibmaschine wird darauf der berühmte erste Satz des Romans projiziert: „Jemand muss Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas getan hätte, wurde er eines morgens verhaftet.” Dann öffnet sich mittig ein Fenster, gerade so breit, dass man den vermeintlichen Delinquenten zu Bette liegen sieht; gerade so hoch, dass hinter ihm die Körper jener grau gekleideten Männer erkennbar sind, die ihn festnehmen.
Rechteck um Rechteck öffnet sich – den Bühnenraum bald vertiefend, bald verkürzend – besagte Wand. Mal flimmern Paragraphen-Symbole sich bedrohlich vergrößernd über die Ränder, mal Zahlenkolonnen; markieren so hier das Gericht, dort die Bank, in der Josef K. stumpfer Beschäftigung nachgeht (Bühne: Katrin Bombe). Grau sind alle Kollegen, grau sind alle Justizbeamte, grau ist auch die Titelfigur. Der gibt Sebastian Brandes trefflich erst ein empörtes Bestehen auf Rechtsstaatlichkeit mit, das Zug um Zug in Verzweiflung, schließlich in völlige Kraftlosigkeit übergeht.
Unter den Bankern und Beamten sieht mancher aus wie Josef K., als wären’s Klone von ihm. Damit öffnet die Regie das Spektrum der Interpretationmöglichkeiten weit, verweist auch auf die Deutung, das Gerichtsmonster sei Metapher für das psychotische Seelenlabyrinth Josefs, also Kafkas. Grau in grau die Gruppen, die sich vom vormaligen Bank-Kollegen abwenden, die im Gerichtsaal auf ihn eindringen, die als urbane Menschenmasse ihn überrollen. Farbtupfer bringen nur jene drei jungen, dem Sex nie abgeneigte Frauen ins Spiel, mit denen Josef K. aber kein Glück hat – weil auch sie ins Gerichtssystem verwoben sind.
Was Ahlbom da inszeniert hat, macht Kafkas Roman in passender Surrealität, aber auf schlüssige und erstaunlich sinnliche Weise begreifbar. Es gibt manch Überraschendes zu sehen, das womöglich Aspekte erhellt, die einem bei der Lektüre verschlossen blieben. Eines aber kriegt das Theater nicht hin: jene Beklemmung, die den einsamen Leser des Romans überkommt.
Andreas Pecht