ape. Mainz. Wenn angesehene Institutionen runde Jubiläen begehen, richtet sich der Blick meist in Feierlaune überwiegend rückwärts. Redner und Gratulanten erinnern an die Anfänge, würdigen die Leistungen vergangener Jahre oder Jahrzehnte. Icomos Deutschland ging Ende November 2015 seinen 50. Geburtstag etwas anders an. Die 1965 auf Initiative des damaligen rheinland-pfälzischen Landeskonservators gegründete deutsche Sektion des Internationalen Rats für Denkmalpflege – der auch der Unesco in Fragen des Welterbes zur Seite steht – lud stattdessen zu einem mehrtägigen internationalen Symposium an ihren Gründungsort Mainz.
Die von Icomos, der rheinland-pfälzischen Architektenkammer und der Generaldirektion kulturelles Erbe (GDKE) Rheinland-Pfalz gemeinsam veranstaltete Tagung führte Konservatoren, Denkmalschützer und Architekten aus dem In- und Ausland zusammen. Und worüber sollten, wollten die Vertreter unterschiedlicher Berufs- und Interessengruppen reden – die im Alltag so oft miteinander zu tun haben, aber in der Vergangenheit nicht immer im allerbesten Einverständnis miteinander standen? Über Architekturen, Bauwerke und Kulturdenkmale der jüngeren und jüngsten Generation, entstanden seit den 1950-/60ern.
38 Prozent des Gebäudebestandes
sind Nachkriegsbauten
Dass dieses Thema keineswegs nur von akademischem Interesse ist, verdeutlichte in Mainz der mehrfach wiederholte dringliche Hinweis darauf, das nicht weniger als 38 Prozent des deutschen Gebäudebestandes aus den ersten Nachkriegsjahrzehnten stammen. Mehr noch: Sie werden jetzt geballt fällig zur Substanzsanierung sowie zur Anpassung an technische und energetische Standards des 21. Jahrhunderts. Dieser Umstand betrifft gewöhnliche Wohn-, Gewerbe- und andere Nutzbauten ebenso wie besondere Wertbauten, architektonische Kleinode und Baudenkmäler aus den letzten 50 bis 60 Jahren.
Für diesen Zeitraum benutzten die in Mainz versammelten Fachleuten als informellen Epochenbegriff die Bezeichnung „Spätmoderne”. Denn wie in anderen Kultursparten, so hat sich der Begriff „Postmoderne” auch in der Baukultur als irritierende bis willkürlich finale Grenzziehung mitten durch noch laufende inhaltlich, formal, ästhetisch miteinander eng verwobene Entwicklungsprozesse erwiesen. Zugleich steht das Icomos-Jubiläum in engen Zusammenhang mit der Verabschiedung der „Charta von Venedig” 1964, die den Grundstein legte für eine moderne, systematische Denkmalpflege unter Einbeziehung von Bauten auch jüngerer Zeit bis in die Gegenwart. Danach können kleine wie große Nutzbauten unter bestimmten Bedingungen ebenso denkmalwürdig sein wie architektonische Kunstwerke, können einzelne Gebäude ebenso unter Schutz gestellt werden wie deren Umgebung und ganze Ensembles oder Stadtquartiere.
Beispielhafter Tagungsort:
das Mainzer Rathaus
Die Tagung zum Icomos-Jubiläum fand im Mainzer Rathaus statt. Die Örtlichkeit war mit Bedacht gewählt, stellt doch dieser 70er-Jahre-Bau der Architekten Arne Jacobsen und Otto Weitling ein in mehrfacher Hinsicht prominentes Beispiel für die vielerorts herrschende Problemlage im Umgang mit dem Bestand der Spätmoderne dar. Schon bei der ersten Projektierung Ende der 60er und nach Fertigstellung 1974 war das Bauwerk in der Bevölkerung der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt umstritten. Die einen waren begeistert von der hochrangigen Ästhetik und gleichzeitig hohen Funktionalität des Gebäudes, die anderen mochten diese moderne Art Architektur einfach nicht. Marianne Grosse, Mainzer Bau- und Kulturdezernentin, erinnerte in ihrer Ansprache zur Eröffnung der Tagung an abfällige Bezeichnungen wie „Fuchsbau” (in Anlehnung an den damaligen Oberbürgermeister Jockel Fuchs) oder „Beamtengefängnis” (wegen der Gitterstrukturen an der Fassade). Jetzt, gut 40 Jahre später, ist das Rathaus erneut Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen den politischen Parteien der Stadt und innerhalb der Bürgerschaft.
Das die Stadtfront zum Rhein hin öffnende Winkelgebäude mit seiner markanten Fassade zählt zur recht kleinen Guppe herausragender Modernedenkmäler in Rheinland-Pfalz. Doch das Rathaus ist innen wie außen dringend sanierungsbedürftig. Zu lange war daran zu wenig gemacht worden. Die Bausubstanz schwächelt an vielen Stellen beträchtlich, technische Ausstattung und energetische Rüstung sind völlig veraltet. Dies ist ein Umstand, den die Tagungsteilnehmer für Gebäude derselben Bauzeit überall in Europa attestieren mussten. So dreht sich nicht nur der aktuelle Mainzer Rathaus-Streit um die Frage, ob die hohen finanziellen Aufwendungen für die Grundsanierung dieses oder jenes Spätmoderne-Baus noch zu rechtfertigen sind, oder ob man ihn nicht lieber gleich ganz abreißt. Die Ratsmehrheit zu Mainz hat sich unlängst für die Sanierung entschieden – der Streit darum dauert an.
Nachlässigkeit hinsichtlich der Bestandspflege von Modernebauwerken über die Jahrzehnte geht häufig einher mit dem Problem magelnder Akzeptanz vieler Modernebauten in der Bevölkerung. Zwar ergeben Umfragen stets Dreiviertel-Mehrheiten für Erhalt des „historischen Bauerbes”, doch werden darunter im populären Sinn überwiegend Bauwerke von der Antike bis ins frühe 20. Jahrhundert verstanden. Jugendstil und Wilhelminik sind allgemein noch als „historisch” akzeptiert, doch schon ab Bauhaus beginnen sich die Geister des Massengeschmacks zu scheiden. Der Frankfurter Architekturkritiker Dankwart Guratzsch führte den nachher von etlichen Diskutanten aufgegriffenen Gedanken aus, wonach der zeitliche Abstand zur Erbauungsepoche ein entscheidender Faktor für die Zustimmung des Publikums zur Schutzwürdigkeit von Gebäuden sei. Je größer der Abstand zur Bauzeit, umso eher greift allgemeine Wertschätzung um sich.
Spätmoderne erodiert rascher,
als Wertschätzung für sie reift
Das Dilemma der Spätmoderne aber ist: Sie kann nicht warten bis man sie als historisch wertvoll akzeptiert. Denn gerade bei den Nachkriegsbauten wurde oft am Material gespart, weshalb viele schneller erodieren als die allgemeine Wertschätzung für sie reift. Oder wie Gerold Reker, Präsident der Architektenkammer Rheinland-Pfalz es ausdrückte: „In ihnen wurde Baustoffknappheit oft durch die Ästhetik des Leichten überhöht.” In der immer kurzlebiger werdenden Gegenwart sind viele dieser Bauten auch einfach schneller „aus der Mode” und technisch veraltet als ihre Werthaltigkeit und ihr Zeitzeugencharakter erkannt. Nach den Worten Thomas Wills von Icomos erleben wir heute ein Phänomen, das es in der vorherigen Baugeschichte so kaum je gegeben hatte: „Neubauten werden teils schon zu Lebzeiten der Bauherrn bereits wieder ausgemustert.”
Angesichts des enormen Kapitalwertes vor allem großstädtischen Baugrundes wurde/wird deshalb die Frage „Ist das wertvolle Architektur oder kann das weg?” allzu häufig kurzerhand mit der Abrissbirne beantwortet. Joachim Glatz, rheinland-pfälzischer Landeskonservator a.D., führte das denkmalgeschützte BASF-Hochhaus in Ludwigshafen als Beispiel an: Das 1957 als höchstes Hochhaus Deutschlands errichtete zentrale Verwaltungsgebäude und bauliche Wahrzeichen des Chemie-Konzerns wurde 2014 abgerissen. Der Präsident von Icomos Deutschland, Jörg Haspel, empört sich in Mainz über die Hansestadt Hamburg: Die hat erst im Juli 2015 die Anerkennung von Speicherstadt und Kontorhausviertel als Unesco-Welterbe gefeiert, bietet aber seit Herbst 2015 sogleich den in der Pufferzone des Welterbes liegenden „City-Hof” (nicht zu verwechseln mit City-Nord) zum Verkauf an. Wobei es den potenziellen Käufern freigestellt bleibt, diese denkmalgeschützte Hochhausgruppe der Nachkriegsmoderne zu schleifen.
Die Mainzer Tagung stellte dieser Tendenz eine Fülle anderer Ansätze entgegen, die sich großenteils der Zusammenführung des Strebens nach Kulturerbe-Erhalt mit dem modernen Gedanken der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlen. Was kann, soll, muss geschehen, damit der gewaltige Baubestand der Spätmoderne nicht einfach „weggeschmissen” wird, sondern im Sinne von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung weiter auf die eine oder andere Weise in Gebrauch bleiben kann. GDKE-Chef Thomas Metz unterstrich das Prinzip seiner Institution, wonach die praktische Nutzung von Baudenkmälern und altem Baubestand eine der besten Voraussetzungen für ihren Erhalt wie ihre perspektivische Entwicklung sei. Wobei nach nahezu einhelliger Ansicht der Tagungsteilnehmer das bloße Konservieren der überkommenen Bestände im Regelfall nicht hinreichen würde.
Rettung durch weiterbauen,
verbessern, verschönern, umnutzen
Reker sprach von der „Moderne, die noch nicht fertig ist”. Vielmehr müsse sie weitergebaut werden und der Umgang der Architekten mit den Beständen der Spätmoderne auf stete funktionale wie ästhetische Verbesserung ausgerichtet sein. Wesentliche Schlagworte neben dem Weiterbauen waren Umnutzung, Transformation, Recycling – bei Rainer Nagel von der Bundesstiftung Baukultur zusammenfließend im Begriff „Verheutigung”, der ein Ausloten der Möglichkeiten und Grenzen im Verbinden von Alt und Neu einschließt. Das Symposium in Mainz gab der Vorstellung von in diesem Sinne positiv herausragenden Beispielen weltweit breiten Raum.
Darunter die Sanierung und räumliche Anpassung des legendären Habitat 67 in Montreal an die Wohnbedürfnisse gut 50 Jahre nach der dortigen Expo 1967. Darunter auch der spektakuläre „Umlauftank 2” des Architekten Ludwig Leo von 1975 in Berlin. Die vom Verfall bedrohte Forschungsanlage für Strömungs- und Schiffstechnik soll jetzt via Förderung durch die Wüstenrot-Stiftung und bürgerschaftlichem Engagement saniert sowie ihre Zukunft mittels Weiternutzung durch drei Fachbereiche der Technischen Universtät gesichtert werden. Drittes von zahlreichen Beispielen auch aus Frankreich, den Niederlanden, Österreich: die „City Nord” in Hamburg, ein in den 1960ern nach Lehrsätzen von Le Corbusier entstandenes autogerechtes, reines Bürohausgebiet. Nach heftigem Ringen wurden im Laufe der Zeit Teile davon unter Denkmalschutz gestellt. Inzwischen sind einige ansässige Unternehmen stolz auf ihre geschützten Domizile und investieren kräftig in den Erhalt von deren baulichem Charakter sowie zugleich in die innentechnische Ertüchtigung.
Eine der wesentlichen (Selbst-)Erkenntnisse aus der Mainzer Tagung für die fernere Praxis im Umgang mit Bestandsbauten (nicht nur) der Spätmoderne lautet: Bei jedem Projekt müssen die beiden Berufsgruppen der Architekten und Denkmalpfleger möglichst früh den Schulterschluss miteinander sowie mit anderen Entscheidern und vor allem den Bauherrn suchen. Die Rede ist von einer vorgeschalteten „Bauphase 0”, während der in interdisziplinärer Gemeinsamkeit Möglichkeiten und Grenzen von Sanierung, Weiterbau, Nutzung und/oder Umnutzung geklärt werden. Und zwar bevor viel Geld in Planungen geflossen ist, die sich dann nach Beantragung womöglich als mit dem Denkmalschutz nicht vereinbar herausstellen.
Verständnis der Bevölkerung
für die Moderne stärken
Die frühe Gemeinsamkeit der Beteiligten ist ebenso zu suchen, wie vor allem bei Stadtbild prägenden Bauten der öffentliche Diskurs. Die Bevölkerung soll einbezogen werden, architektonische, denkmalpflegerische, städtebauliche Aspekte sollen vermittelt und nachvollziehbar werden. Grundsätzlicher noch: Die in Mainz anlässlich des 50 Geburtstages von Icomos versammelten Denkmalpfleger und Architekten ließen erkennen, dass sie es mehr und mehr auch für ihre Pflicht halten, in der breiten Bürgerschaft ein besseres Verständnis für die Wertigkeit von Bauwerken jüngerer Zeit zu wecken. Auf dass es möglichst vielen Zeitgenossen ergehe wie dem Autor dieses Artikels:
Drei Tage lang lauschte er Fachleuten beim Gespräch über Architektur der „Spätmoderne” und betrachtete auf Großleinwand projizierte Beispiele derselben. Was er vordem vielfach schulterzuckend bloß als quadratisch-praktisch aus Beton und Glas abgetan hatte, wurde peu à peu hochinteressant. Der sensibilisierte Betrachter entdeckte das Sinnfällige, Wertige, ja die eigenwillige Schönheit manches Modernegebäudes. Eingedenk der Distanziertheit bis hin zu brüsk ablehnender Haltung von Teilen der Öffentlichkeit gegenüber Architekturen der zurückliegenden 50 bis 60 Jahre, formulieren die Teilnehmer der Fachtagung in Mainz denn auch: „Um zu Wertschätzung der Bevölkerung für die Baudenkmäler unserer jüngsten Geschichte zu kommen, müssen wir die Menschen motivieren, genauer hinzuschauen.”
Andreas Pecht