Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Völkerwanderungen – Migration als historischer Normalfall

Unkorrigiertes Manuskript meines Vortrages am 6. Oktober 2016 in Altenkirchen; teils ausformuliert, teils nur in Stichworte; mündliche Ausführung streckenweise davon abweichend.


ape. Im Jahr 2016 hielt ich – motiviert durch die teils unsägliche Flüchtlingsdiskussion in Deutschland – mehrere öffentliche Vorträge zum Thema „Völkerwanderungen“. Es ging mir dabei vor allem um sachliche Erhellung des Umstandes, dass Migration nebst Völker- und Kulturvermischung ein Wesensmerkmal der menschlichen Zivilisationsentwicklung von deren Anbeginn an war.

 

Die Vorträge unterschieden sich teils erheblich voneinander. Einmal lag der Schwerpunkt auf den jüngsten Migrationsbewegungen und ihren Ursachen in der Gegenwart bzw. jüngeren Vergangenheit. Die letzten beiden Abende in Bad Marienberg und Altenkirchen konzentrierten sich dann auf einen Überblick über die Migrationsgeschichte von den menschlichen Anfängen vor 1,8 Millionen Jahren bis ins späte 20. Jahrhundert.

 

Nachfolgend können Sie das Manuskript des letzten Vortrages am 6.10.2016 in Altenkirchen einsehen, studieren, lesen. Allerdings sind große Teile nicht ausformuliert, sondern nur als Stichworte notiert – doch können interessierte Leser wohl problemlos die wesentlichen Fakten und Gedanken herauslesen/ableiten.

 

Prolog

Dieser Vortrag heute ist quasi die chronologisch umgekehrte Fortsetzung meiner Ausführungen vom Februar an dieser Stelle. Damals ging es vor allem um Ursachen, Bedingungen, Perspektiven der aktuellen und jüngeren Migrationsbewegungen. Heute möchte ich mit ihnen ganz zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte zurückspringen – und von dort her die menschlichen Wanderbewegungen von der Frühgeschichte über Antike und Mittelalter bis ins 18., 19. und frühe 20. Jahrhundert in den Blick nehmen.

Bevor wir nun einen Zeitsprung von 1,5 Millionen Jahren in die Vergangenheit machen, will ich ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf zwei Umstände aus der jüngeren Migrationsgeschichte lenken. Einfacher Grund: Ich möchte, dass Sie Ihren Kopf zumindest für eine Weile befreien von der eurozentrischen Perspektive und den Aufgeregtheiten der aktuellen Migrations- und Flüchtlingsdiskussion.

Erster Umstand

Im 18. und 19. Jahrhundert gingen die mit Abstand größten Migrationsströme von hier, von Mitteleuropa aus hinaus in die Welt – nach Nordamerika, Mittel- und Südamerika, Afrika, Asien, ja selbst nach Russland wie wir sehen werden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kehrte sich die Bewegungsrichtung um, und wurde Mitteleuropa zum Zielpunkt großer Migrationsströme.

Wir werden sehen, dass jene historischen Migrationsströme der zurückliegenden zwei Jahrhunderte aus Europa hinaus mit dem Begriff „Auswanderer” qualitativ nur unzulänglich bezeichnet sind. Denn zu einem erheblichen Anteil handelte es sich bei unseren auswandernden Vorfahren tatsächlich um „Flüchtlinge”: Um Menschen, die vor Krieg, vor Hunger, Elend und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, vor religiöser oder vor politischer oder vor ethnischer Verfolgung aus ihrer europäischen Heimat flohen.   

Zweiter Umstand

60 bis 70 Millionen Menschen befinden sich laut UN aktuell weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger Perspektivlosigkeit. (Zwei Drittel davon sind übrigens Binnenflüchtlinge, also Leute, die in Nachbarregionen oder nahegelegene Länder ihres Kontinents flüchten.) 70 Millionen ist eine erschreckend hohe und der globalen Moderne gewiss zur Schande gereichende Zahl.

Allerdings: Ins Verhältnis zur gegenwärtigen Gesamtbevölkerung der Erde von bald 8000 Millionen gesetzt, haben wir es im längerfristigen historischen Vergleich mit einer eher unterdurchschnittlichen Größenordnung von knapp 1 % zu tun. Selbst wenn wir die „normale Migration” (also nicht Flucht im engeren Sinn) mit weiteren 2 bis 4 % veranschlagen würden, kämen wir bei weitem nicht auf die europäische AuswanderungsRATE im 19. JH.

Es gab zu jener Zeit in deutschen Landen Regionen (zB die Pfalz), die von Auswanderung so sehr gebeutelt wurden, dass hiesige Fürsten zwangsweise Auswanderungs-Obergrenzen oder zeitweise kategorische Auswander-Verbote erließen. Denn 20, 30 oder mehr Prozent Bevölkerungsverlust binnen nur einer oder zweier Generationen durch Auswanderung waren keine Seltenheit. Genutzt haben solche Obergrenzen oder Verbote längerfristig allerdings nie.

Anderes Beispiel Irland: Bei mehreren großen Hungersnöten zwischen 1845 und 1852 starben 1 Million Iren = 12 % der Inselbevölkerung. Weitere 24 %, also 2 Millionen, entflohen im gleichen Zeitraum dem Hungerhorror durch Auswanderung. Mithin verlor Irland binnen eines knappen Jahrzehnts 36 Prozent seiner Bevölkerung. Irische wie  englische Landlords und Industriebarone spuckten damals Gift und Galle, wollten mit Feuer und Eisen  die Abwanderung ihrer Arbeitskräfte verhindern. Genutzt hat es nichts. Denn ohne Hoffnung daheim, hat der Mensch sich seit jeher aufgemacht nach anderwärts – dorthin, wo es vielleicht oder angeblich besser ist.

A) Frühgeschichtliche Wanderungen

1. Erste Schritte

„Am Anfang stand das Wort“, heißt es in der Bibel. Doch zumindest auf wissenschaftlich erforschbare Menschheitsgeschichte trifft das nicht zu. Denn da stand Anfang der Loslösung vom rein animalischen Dasein der aufrechte Gang – und kam mit ihm sehr bald eine erste globale Migrationsbewegung:

Die Besiedlung der Welt durch den Homo erectus.
= erste Homo-Art, aufrechter Gang , Jäger und Sammler, Feuernutzer, Werkzeughersteller

  • Heimat/Entstehungsregion: Afrika vor 1,8 Millionen Jahren
  • Wanderbeginn vor ca 1,5 Millionen Jahren
  • Ausbreitung: Afrika > Naher Osten > Mittelost-Europa > Indien/China
  • Gesamtbevölkerung global: ca 55 000

– Aus ihm ist in Europa hervorgegangen: der Neandertaler > und hat sich später gekreuzt mit dem Homo sapiens

Frage ans Publikum: Warum ist homo erectus nicht einfach daheim geblieben in dem für seine Entstehung optimalen afrikanischen Umfeld, sondern hat sich bis in die für ihn unwirtlichsten Weltgegenden ausgebreitet?

(Neugierde, Wandertrieb, Suche nach Besserem, Suche nach Geschlechtspartnern, die ewig gleichen Gesichter der eigenen 15-köpfigen Gruppe nicht mehr sehen können, Staffettenwanderung aus überjagten Gebieten hinaus …. Die Gründe liegen im Dunkel der Frühgeschichte verborgen.)

2. Die zweite Migrationswelle

Homo sapiens

  • – Heimat: Afrika
  • – Wanderbeginn vor ca 200 000 Jahren
  • – Ausbreitung: Afrika > vor 100 000 Jahren Ankunft in Südosteuropa
  • Teilung der Wanderströme a) Mittel- und Südwesteuropa b) Sibirien und amerikanischer Doppelkomtinent c) Asien, Australien, Neuseeland

Ausbreitung der Homo-Spezies: gelb + ocker = Homo erectus; nur ocker = Neandertaler; rot = Homo sapiens

3. Europäisches Wandernetzwerk der Jungsteinzeit

ALLE menschlichen Gemeinschaften waren bis vor etwa 10 000 Jahren nomadische Wandergruppen von Jägern und Sammlern. (vgl. Europa-Nomaden frühes Neolithicum Neuwied)

  • Wir begeben uns ins Neuwieder Becken während der letzten Phase der jüngsten Eiszeit >zwischen 18 000 und 10 996 v. Chr. Warum 10 996? Letzter Ausbruch des Laacher-See-Vulkans. > Verschüttung = Archäologisches Eldorado
  • Einige Jahrhunderte um 13 000 v. Chr. Diese Epoche tragen für Europa den schönen Namen Magdalénien, benannt nach dem uralten Siedlungsplatz La Madelein in Frankreich.
  • Das Gesamtbild, das die Archäologen heute zeichnen können, widerspricht der Vorstellung von den frühen Menschen als isolierte Kleingruppen fast noch animalischer Wilder.
  • Landschaft, Klima: So etwa war es vor 15000 Jahren: Die  Mittelrhein-Region ist eine trocken-kalte Tundra-Landschaft, der Untergrund noch ganzjährig in Permafrost erstarrt, bewachsen mit Steppengräsern und Buschwerk, größe Bäume, gar Wälder gibt es nicht.

Der Rhein ist flacher, mäandert durch eine Gerölllandschaft mit vielen Inseln > relativ leicht zu überqueren.

  • Erst schlagen 15 bis 25 Individuen starke magdalénische Gemeinschaften mit Kind und Kegel in der geschützten Sattellage des Andernacher Martinsberges alljährlich für mehrere Monate ihr Lager auf.  Bei späteren Wanderungen bevorzugen sie dann Gönnersdorf, bauen dort ihre steilwandigen Rundhütten aus Tierhäuten über einer Holzkonstruktion auf.

Rekonstruktion einer Magdalenien-Siedlung aus mit Tierhäuten bespannten Rund- und Spitzbehausungen.

– Die archäologischen Funde bezeugen: Es kommt nicht nur eine Gruppe hierher, sondern es treffen sich regelmäßig mehrere, die aus drei verschiedenen Richtungen und teils mehr bis zu 300 Kilometern Entfernung zu den Hängen des Neuwieder Beckens ziehen.

– Sie kommen aus dem Maasgebiet, vom Niederrhein und aus der Mainzer Gegend, um hier einige Zeit Seite an Seite zu leben. Das Bedürfnis nach  Begegnung muss sehr stark ausgeprägt gewesen sein in einer beinahe menschenleeren Welt = 4000 Individuen auf dem Gebiet des heutigen Deutschland.

  •  Anfang der 1970er tauchte in der Literatur zur Archäologie der späten Eiszeit der Begriff „Frauenfiguren vom Typ Gönnersdorf“ auf. Er wurde in der Folge ein international gebräuchlicher Terminus.
  • Bezeichnet werden damit vom jungsteinzeitlichen Homo sapiens aus Elfenbein, Knochen, Horn geschnitzte oder in Stein- und Schieferplatten geritzte Frauendarstellungen eines ganz bestimmten Stils.
  • Der Stil (siehe Foto rechts): Der weibliche Körper wird überwiegend im Profil ohne Kopf und Füße gezeigt; aus dem langen und oft stabförmigen Corpus ragt ein überproportional mächtiges Gesäß in Halbrund- respektive Dreiecksform heraus; die Brüste sind, wenn überhaupt, meist nur als kleine Ausbuchtung angedeutet.
  • In ihrer starken Schematisierung und formalen Reduktion wirken die Ritzzeichnungen, mehr noch die nur wenige Zentimeter großen Statuetten wie stilisierte Symbole des Weiblichen – und erinnern beinahe an moderne Kunst.

Verbreitung des Gönnersdorf-Typus:

  • – Neben ihrer erstaunlichen Ästhetik ist das räumliche und zeitliche Auftauchen der Figuren vom Typ Gönnersdorf von besonderem Interesse. Die archäologische Forschung förderte nach gleicher Art schematisierte Frauendarstellungen bislang an mehr als zwei Dutzend Fundplätzen von Südfrankreich über das Rheinland und Ostdeutschland bis in die Ukraine zutage.
  • – Allesamt lassen sie sich dem Magdalénien zuordnen, tauchten im 14./13. Jahrtausend v. Chr. beinahe zeitgleich an vielen Stellen quer durch Europa auf.
  • – Mit ihrem hohen Niveau der Abstraktion unterscheiden sich diese Frauenfiguren grundlegend von den demonstrativ wohlgenährten, quasi-naturalistischen Fruchtbarkeitsmatronen (z.B. Venus von Willendorf) der vorausgegangenen 10 000 Jahre.

Folgerung: Intensive Staffetten-Wanderungen überziehen Europa mit einem Netzwerk an Kulturkontakten/Austausch

Rückschlüsse auf die Herkunft der sich im Neuwieder Becken versammelnden Magdaleniengruppen zB auf Basis dort gefundener Steinwerkzeuge und anderer Artefakte. Darunter Schmuckschnecken vom Mittelmeer, die belegen, dass es nach dem Prinzip der Staffetten-Wanderung Verbindungen über große Teile Europas hinweg gab.

4. Die neolithische Revolution

Dann setzte 8000 bis 10000 vor Christus die sog. neolithische oder jungsteinzeitliche Revolution ein: Aus Jägern und Sammlern wurden sesshafte Ackerbauern, Viehzüchter, Handwerker. Doch selbst die Sesshaftwerdung sowie die Herausbildung von Stämmen, Stammesgruppen und Völkern bedeutete keineswegs das Ende der menschlichen Wanderschaft. Vielmehr machten sich nun ganze Stammesverbände und Völkerschaften auf in immer neue Siedlungsgebiete.

  • War noch im Magdalenien Krieg unter Menschen ein wahrscheinlich völlig unbekanntes Phänomen, so änderte sich das bald darauf durchgreifend:
    • a) bis dahin leere, offene Räume, nun wg. Klimaänderung und daraus folgender Vegetationsänderung = räumlich begrenzte Siedlungsgebiete.
    • b) Bevölkerungsexplosion durch Ackerbau

Folge: Migration bedeutet ab dato vielfach Eindringen in bereits besiedelte Gebiete.   > Migrationen werden auch zu Kriegszügen mitsamt gewaltsamen Unterwerfungen/Vertreibungen/Genoziden.

5. Expansion der Kelten-Kultur im 1. Jahrtausend vor Christus:

Wir meinen immer, Germanen seien unsere ersten nachsteinzeitlichen Vorfahren gewesen. Ein Irrtum.  Wir schreiben das Jahr 800 vor Christus – und finden etwa am Mittelrhein noch immer keine Germanen. Wie zahllose andere Populationen in Eurasien, durchlebten deren Sippen gerade die Schlussphase der Wandlung vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter.

Was einen gewaltigen Bevölkerungszuwachs und entsprechenden Expansionsdrang/Wanderdrang zur Folge hat.
Allerdings waren die Germanen da noch in Skandinavien, an Elbe, Oder, Weichsel, auf den Gebieten des heutigen Polens, Ungarns, Rumäniens, Westrusslands daheim.

Derweil entwickelte sich an Rhein und Mosel, von Ostfrankreich bis Österreich und von den britischen Inseln bis zu den Alpen aus örtlichen Bronzezeitkulturen die keltische Großraumkultur = Hallstatt-Kultur 800 bis 450 v. Chr. + Latene-Kultur 480 bis 0.

Im 5. Jahrhundert vor Chr. begann eine große keltische Migrationswelle. Keltenstämme wanderten nach Spanien und Portugal ein (friedliche Assimilation), zogen nach Oberitalien und ins Etruskerland (Kampf um Rom), breiteten sich bis nach  Kleinasien aus. Sprachforscher haben entdeckt, dass zu ihrer Blütezeit am Übergang zur Hochkultur in Anatolien und im Trierer Raum ein sehr ähnlicher Keltendialekt gesprochen wurde.

Verbreitungsgebiet der Kelten-Kultur und keltische Siedlungsräume.

Die keltische Prägung Süd- und Mitteleuropas dauerte gut 600 Jahre. Dann wurde sie in die Zange genommen: Vom Nordosten wanderten Germanen ein, vom Süden drückten bald darauf die Legionen des Imperium Romanum. Wieder gab es eine Durchmischung der Völker, Kulturen, Sprachen. Kelten und Germanen lebten einige Zeit gegen- und nebeneinander, verschmolzen bald miteinander.

Noch anno 70 nach Christus erhoben sich Stämme beider Gruppen am Niederrhein, Mittelrhein und an der Mosel Seite an Seite gegen Rom. Die „Bataver-Aufstand” genannte Revolte wurde niedergeschlagen. Die Niederlage der keltischen Treverer in der Schlacht bei Riol nahe Trier gegen die 21. Legion aus Mainz markiert das Ende der Keltenkultur an Rhein und Mosel. Die Treverer wurden romanisiert, Trier eine römische Metropole.

6. Die spätantike/frühmittelalterliche Völkerwanderung  

Was mag die ostgermanischen Burgunden veranlasst haben, ihre angestammte Heimat an Oder und Weichsel zu verlassen und über den Donauraum bis an den Genfer See zu ziehen, dort ein Burgundenreich zu gründen, das im 6. JH im Frankenreich aufging?
 
Was mag die ostgermanischen Vandalen bewogen haben, ihr Siedlungsgebiet in Ungarn/Rumänien zu verlassen, sich mit den Römern anzulegen und dann durch ganz Mittel- und Südwesteuropa zu wandern, um schließlich über die Meerenge von Gibraltar in Nordafrika zu landen?

Germanische Siedlungsgebiete um 50 nach Chr. Z.B. Langobarden, Burgunden, Vandalen, Goten leben zu dieser Zeit noch weit im Nordosten Europas. Am Ende der spätantiken Völkerwanderung finden sie sich tief im Süden und Südwesten Europas, ja sogar in Nordafrika wieder.

Definition „Völkerwanderung”: Von der beginnenden Westexpansion der Hunnen um 376 nach Chr bis zum Einfall der elbgermanischen Langobarden in Italien anno 586.
> Einwanderungsdruck von Nordosten durch Germanen und von Osten durch Hunnen > innerhalb von knapp 300 Jahren verändert sich die Besiedlungsstruktur West- und Mitteleuropas vollständig.

>> Beispiel: Die Goten-Expansion von 3. bis 8. Jahrhundert > 42-jähriger Zug der Westgoten vom denkbaren Ursprungsgebiet am Schwarzen Meer über Kleinasien, Griechenland, Italien, Frankreich bis auf die Iberische Halbinsel, wo sie sich niederließen.

Beispiele großräumiger Wanderbewegungen germanischer Stämme zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert n.Chr. . Die landläufig weit verbreitete Auffassung, es habe sich dabei vornehmlich um Kriegszüge gehandelt, ist einseitig verengt. Die Züge waren in der Regel zugleich verknüpft mit Umsiedlungsbewegungen ganzer Stämme.

7. Wikinger-Expansion 8. bis 11. JH

„Weh, die Nordmänner kommen!!!”

  • Ursprungslande der Wikinger: Dänemark, Schweden, Süd- und Mittelnorwegen
  • Ausdehnung
    • a) nach Britannien
    • b) nach Nordfrankreich
    • c) nach Russland

– Wikinger-Wanderung gen Osten. Sie stießen als Händler und  Siedler über Nowgorod bis zur nördlichen Seidenstraße, nach Südosten übers Schwarze Meer bis nach Byzanz und in die arabischen Kalifate vor. „Rus“ (Ruderer) bei den Slawen genannt, besiedelten über Kiew weite Landstrich in Nordwestrussland. Rus = Russen: An der Ethnogenese (= Entstehung eines Volkes) der Russen waren die Wikinger wesentlich beteiligt. Die Dynastie der Romanow-Zaren geht auf wikingische Wurzeln zurück.

– Wikinger im Westen Europas: Der Beginn der Wikinger-Zeit wird datiert auf den ersten schriftlich überlieferten Überfall skandinavischer Piraten fernab ihrer Heimat. Dem fiel 793 das Kloster Lindisfarne an der Nordostküste Englands zum Opfer. Das Ende der Nordmänner-Epoche markiert die Schlacht bei Hastings 1066, wo der englische König Harald Godwinsson dem normannischen Herzog Wilhelm (der Eroberer) unterlag. Ironie der Geschichte: Beide waren Wikinger-Abkömmlinge, beider Herrschaftsbereiche Resultat früherer Raub- und Besiedlungszüge. Normannen ist nur ein anderes Wort für Wikinger. Nach ihnen wurde die Normandie benannt, jener anno 911 vom Frankenkönig Karl (der Einfältige) dem Wikingerhäuptling Rollo in der Hoffnung überlassene Landstrich, die Raubzüge mögen dann aufhören.

Die Wikinger-Expansion. Herkunftslande violett, Besiedlungsräume blau. Plus blaue Linien = wikingische Handelswege. Rote Markierungen = große Überfälle von Wikinger-Kriegern/-piraten.

B) neuzeitliche Wanderungen

8. Dreißigjähriger Krieg (1618 bis 1648):

Der größte und verlustreichste Religionskrieg der bisherigen Menschheitsgeschichte (zwischen Katholiken und Protestanten). Er machte einen beträchtlichen Teil der europäischen Bevölkerung wieder zu Migranten = Kriegsflüchtlinge, Hungerflüchtlinge, religös Verfolgte etc.

9. Die großen europäischen Auswanderungen

Vom irischen Exodus Mitte des 19. Jh. hatte ich bereits gesprochen. Lassen sie mich nun die Situation im Mitteleuropa des 18./19. JH exemplarisch am Geschehen in Südwestdeutschland darstellen, weil das ziemlich gut erforscht und dokumentiert ist.

  • Die Auswanderung aus dem Gebiet des heutigen RLP, Westhessen, Kurpfalz, Baden/Schwaben und nördliches Bayern begann in kleinem Umfang bereits im späten 17. Jh.  Zur ersten Welle einer Massenauswanderung im Umfang von 15 000 registrieten/dokumentierten Menschen setzte nach dem extrem strengen Winter von 1708/09 ein. Die Leute entflohen dem Hunger ihrer vom Spanischen Erbfolgekrieg (1701 – 1717) ohnehin gebeutelte Heimat.
  • Eine europaweite Hungerkrise um 1771 hat sich in einer allgemeinen Eimgrationswelle 1769/71 Richtung Osteuropa niedergeschlagen.
  • Eigenart der Auswanderung im 18. Jh: In Wellen, Ziel vor allem Osteuropa = Galizien (Westurkaine/Südpolen), Südrussland, Banat (Rumänien, Serbien, Ungarn).
  • Ab 1765 unter Zarin Katarina II. wirbt Russland um deutsche Bauern zur Besiedlung leerer Räume wie etwa das Wolgagebiet.  30 000 Südwestdeutsche folgten dem Werben.
  • Auch die Habsburger warben systematisch um Siedler für ihre eroberten Gebiete im Osten zB in Serbien/Ungarn.

Nach Südamerika:

Die rheinland-pfälzische Auswanderung nach Brasilien begann mit der Unabhängigkeit des südamerikanischen Landes 1822. Vor allem im Hunsrück und der Pfalz befanden sich viele Bewohner seinerzeit in einer hoffnungslosen sozialen und wirtschaftlichen Lage. In der Auswanderung sahen viele von ihnen die Chance, der Not zu entkommen. Die erste Welle deutscher Einwanderer in Brasilien verebbte 1830. Weitere Wellen folgten Ende der 1840er Jahre sowie 1855 bis 1865. Idar-Oberstein zB verlor dabei viele seiner Edelsteinhandwerker.

Nach Nordamerika:

  • 1709 fand eine erste Massenauswanderung aus der Kurpfalz dorthin statt. Populärstes Ziel der nun kontinuierlich eintreffenden Auswanderer war Pennsylvania. (Gleich und gleich gesellt sich gern). Diese erste Phase der Auswanderung endete mit der Unabhängigkeit der USA. Die rheinland-pfälzische Massenauswanderung nach Nordamerika setzte schließlich 1817 erneut ein und dauerte bis etwa zur Mitte des Jahrhunderts an. Bevorzugter Siedlungsraum war der Nordosten der USA, wo sich zahlreiche deutsche Siedlungen etablierten
  • Ein starkes Kontingent Auswanderer aus Baden und der Kurpfalz waren nach 1849 die verfolgten Kämpfer der 48/49er Revolution.

Gesamtzahl südwestdeutscher Auswanderer:

Ist unklar. Schätzungen für den Zeitraum 1709 bis 1865 belaufen sich auf mehrere Hunderttausend bis zu 3 Millionen. Bei der damaligen Bevölkerungszahl ein gewaltiger Aderlass.

  • Auch damals schon: Vielfach wurden junge Männer vorausgeschickt, um die Lage zu sondieren und den Weg für die nachkommende Familie zu spuren.
  • Zu allen Zeiten: Vor allem die jeweils erste Auswanderergeneration sucht in der Fremde stets die enge Nachbarschaft zu vormaligen Landsleuten und Halt in den Gebräuchen der alten Heimat.

10. Die größte innereuropäische Binnenmigration im 19. JH

Massenabwanderungen der Landbevölkerung in die neuen industriellen Zentren.
z.B. landlose Bauernbuben aus Tirol im Ruhrgebiet.
Frankreich, England. zB viele Polen in den Bergwerken Belgiens.

11. Massenflucht und Vertreibung vor, während und nach den Weltkriegen

  • – ca 1 Mio Deutsche verließen Deutschland + Österreich zwischen 1933 und 1939 aus politischen Gründen.
  • – Massenflucht von Franzosen hinter die Vichie-Grenze
  • – Selten betrachtet: Abermillionen Russen flohen vor der heranrückenden Wehrmacht gen Osten (bis Stalin sie nicht mehr weiter ließ)
  • – 12 bis 14 Millionen Deutsche aus den östlichen Reichsgebieten flohen vor der heranrückenden Roten Armee gen Westen.
  • – Nachkriegszeit: Hunderttausende flohen aus der sowjetisch besetzten Zone nach Westen

12. Die Migrationsbewegungen der jüngsten Vergangenheit

  • – BRD ruft Gastarbeiter, und hunderttausende Menschen kommen. Viele bleiben. 1. Welle: Italiener. 2. Welle: Griechen, Jugoslawen, Slowaken. 3. Welle: Türken. 4. Welle: russische Spätaussiedler.
  • – Millionen deutsche Ost-West-Migraten nach dem Mauerfall

13. Aktuelle Landflucht

Derzeit unter unseren Augen eine der global womöglich wirkmächtigsten und folgenreichsten Binnenmigrationsbewegungen: allgemeine Landflucht auf allen Kontinenten.

Hierzulande: Nicht nur die Jungen kehren den Dörfern den Rücken; zunehmend verkaufen Ältere ihre Häuser auf dem Land, um sich auf die alten Tage in der Stadt anzusiedeln wg Infrastruktur.
 

C) >> Resümee:

Migration ist seit den frühesten Menschheitstagen eine zentrale Konstante der Zivilisationsentwicklung. Damit ging und geht auch unabwendbar einher stete Kultur- und Völkervermischung.

 

Epilog:

a)
Wenn Waren und Kapital, Nachrichten und Entertainment, ebenso der reichere Teil der Menschheit sich frei und quasi nach Belieben um den ganzen Erdball bewegen und ihren Vorteil suchen können – dann kann niemand erwarten, dass der ärmere Teil der Menschheit dauerhaft duldsam und dumpf in seinem örtlichen Elendsquartier hocken bleibt. Das wäre ein Widerspruch in sich, der in der Enge des globalen Dorfes nicht von Bestand sein kann.

b)
Und noch ein humoriger, gleichwohl sehr ernst gemeinter Abschluss meiner Ausführungen aus dem Mund von Karl Zuckmayer, hineingeschrieben ins Theaterstück „Des Teufels General”:

„Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas!

Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet.

Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen, gesungen und Kinder gezeugt – und – und der  Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven und der Gutenberg, und – ach was, schau im
Lexikon nach.“

Andreas Pecht

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Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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