ape. Die Konzertsaison 2016/17 beim Staatsorchester Rheinische Philharmonie ist schon eine rechte Eigentümlichkeit. In Koblenz können sich selbst betagte Klassikfreunde an keine vergleichbare Situation erinnern: Eine ganze Spielzeit ohne eigenen Chefdirigenten im Görreshaus, das hat es zumindest im letzten halben Jahrhundert der hiesigen Orchestergeschichte nicht gegeben. Die Hälfte dieser außergewöhnlichen Saison ist nun vorüber; mithin der richtige Moment für eine kleine Halbzeitbilanz.
Als Stichtag sei der 27. Januar 2017 genommen, jener Freitag, an welchem unter dem Gastdirigat von Shao-Chia Lü das 5. Anrechtskonzert des Musik-Instituts Koblenz (MI) bei den rund 1100 Besuchern in der Rhein-Mosel-Halle einen tiefen Eindruck hinterließ. MI-Intendant Olaf Theisen fasst dies in dem eindeutigen Urteil: „Das Konzert unter Shao-Chia Lü war für mich der bisherige Höhepunkt der Saison.” Die Freude auf dieses Konzert war schon im Vorfeld allgemein. Publikum und viele Orchestermitglieder sahen erwartungsvoll der Wiederbegegnung mit einem guten alten Bekannten entgegen.
Schließlich hatte Lü von 1998 bis 2004 bei der Rheinischen Philharmonie die Position des Chefdirigenten inne und war als solcher allseits geschätzt und beliebt gewesen. Zugleich ist Lü der einzige Gastdirigent in der laufenden Spielzeit, mit dem das Orchester überhaupt schon einmal gearbeitet hat; alle anderen Gäste am Führungspult der Anrechtskonzerte, der Görreshauskonzerte und vieler Gastspiele waren und sind auch für den verbleibenden Teil der Saison Erstbegegnungen. Noch einmal zur Erinnerung, wie es zu der besonderen Situation gekommen ist, dass die Rheinische Philharmonie ihre Orchesterkonzerte 2016/17 ohne eigenen Chefdirigenten und mit lauter Gastdirigenten bestreiten muss: Der bisherige Amtsinhaber Daniel Raiskin ist schon weg, sein Nachfolger Garry Walker noch nicht da. Wahl und Verpflichtung des Schotten waren zu kurzfristig erfolgt, als dass der international viel beschäftigte Dirigent noch für diese Saison aus seinen zahlreichen anderweitigen Bindungen hätte aussteigen können.
Aus der Not eine Tugend machen
Es galt, aus der Not eine Tugend zu machen. Erstens sollte dem Publikum ein interessantes und mit hochkarätigen Solisten besetztes Konzertprogramm geboten werden. Zweitens sollte mit einer Riege möglichst guter Gastdirigenten das unter Daniel Raiskin erreichte Niveau des Orchesters gehalten werden. Beides scheint bis zur Halbzeit geglückt zu sein. Publikum und Kritik zeigten sich etwa bei den fünf großen Anrechtskonzerten weitgehend übereinstimmend angetan von den Leistungen des Orchesters sowie fasziniert von der virtuosen Kunstfertigkeit der Marimbaphonsolistin Marta Klimasara, der Trompeterin Tine Thing Helseth oder des Pianisten Alexander Schimpf. Hohes Lob gab es auch für das Konzert mit dem Chor des Musik-Instituts und der Rheinischen Philharmonie unter Mathias Breitschaft. Letzterer sprach dem Orchester ausdrücklich seine Anerkennung dafür aus, dass es in dieser „cheflosen” Phase seine Disziplin, Geschlossenheit und Motivation beibehalte; er habe da schon ganz andere, traurige Fälle erlebt.
Durchweg positiv fällt auch die Halbzeitbilanz von MI-Intendant Olaf Theisen aus: „Das Orchester hat das unter Daniel Raiskin erreichte Leistungsniveau erfreulicherweise gehalten.” Ebenfalls erfreulich ist, dass es keine Rückgänge beim Kartenverkauf gibt: „910 Anrechte und im Schnitt weit über 200 Einzelkarten pro Konzert hat das Musik-Institut verkauft.” Auch der Intendant der Rheinischen Philharmonie selbst, Günter Müller-Rogalla, wirkt alles andere als unzufrieden mit der Halbzeitbilanz: „Die Saison läuft durchaus spannend. Ich möchte jetzt nicht sagen ‚wie vorhergesehen‘. Aber was für mich als Intendant wichtig ist: Viele Begegnungen mit vielen Dirigenten und Solisten klappen – mal sehr gut, mal normal; und selbst wenn es in Einzelfällen ein bisschen hakt, ist auch das Normalität.” Was für ihn ganz wichtig sei, und wovon er glaube, dass es hörbar ist: „Die Qualität des Orchesters leidet nicht! Überhaupt nicht. Das heißt, was ich gehofft hatte und was wir uns auch hier vorgenommen hatten, ist bisher eingetreten.”
Musiker müssen sich jedesmal neu orientieren
Zufriedenheit also auf vielen Seiten. Wie aber sehen und erleben die Orchestermusiker selbst ihre Situation in dieser Ausnahmespielzeit? Ich bin mit Solotrompeter Andreas Stickel und Geiger Peter Harig vom Orchestervorstand verabredet, um die Sache mal aus Musikersicht beleuchtet zu bekommen. Nicht nur der interessierte Laie fragt sich, wie die Orchesterarbeit jetzt funktioniert so ohne festen Chefdirigenten. Harig: „Na ja, wir sind es gewohnt, mit Gastdirigenten zu arbeiten. In solcher Fülle ist es natürlich etwas ungewöhnlich. Und fast allen Gastdirigenten dieser Saison sind wir noch nie begegnet. Da musst du dich für jedes Konzert auf einen neuen Dirigenten einrichten. Das ist einerseits sehr spannend, andererseits aber auch sehr anstrengend.”
Spannend sei beispielsweise, erläutert Stickel, ob der Dirigent viel zulässt an eigener Musikalität der Orchestermusiker oder ob er gestalterisch viel organisiert und vorgibt, sozusagen strikten Fahrplan mache. „Die Arbeitsweisen unterschiedlicher Dirigentenpersönlichkeiten können sehr weit auseinanderliegen. Etwa so eine technische Sache: Es gibt welche, die dirigieren genau auf den Schlag, andere immer etwas voraus. Darauf muss man sich erstmal einstellen. Und solche Eigenarten stellst du bei Gastdirigenten erst bei den Proben fest. Woraus sich gewisse Unwägbarkeiten ergeben können: Nicht jedes Orchester kann binnen weniger Stunden seinen ganzen Habitus umstellen.”
Die Mäuse tanzen nicht auf dem Tisch
Beim eigenen Chefdirigenten wisse man eben, was zugelassen wird, was erwartet wird, wie die Dinge aufs Konzert zulaufen. Man ist aufeinander eingestellt, gewissermaßen miteinander verwachsen. „In dieser Spielzeit fehlt nun sozusagen die übergeordnete, prägende Künstlerperson, die wir als Chefdirigenten kannten und der wir bei den meisten MI-Konzerten wieder begegneten. Da vermisst nun mancher im Orchester künstlerisch den roten Faden: Man weiß nicht, worauf man sich einstellen kann oder soll.” Kritik und Publikum waren mit der bisherigen Saison sehr zufrieden. Wie ist das aus Musikersicht? Trompeter und Geiger meinen übereinstimmend: „Es war eine gute Runde. Und wir haben kein Problem, eine Saison in diesem Wechselmodus zu stemmen. Es ist bei uns nicht so, dass die Mäuse auf dem Tisch tanzen würden, weil kein Chef da ist. Gar nicht unwichtig dabei ist die Bedeutung und Wirkung unseres neuen Konzertmeisters, der mit seinem Spiel und seiner Persönlichkeit ins Orchester hineinstrahlt, als wichtiger Orientierungsanker und auch als Brücke zu den wechselnden Dirigenten fungiert.”
Die Spielzeit läuft gut, das Orchester nimmt die ständigen Dirigentenwechsel mit professioneller Flexibilität, das Publikum ist angetan. Was will man mehr? Die Antwort von Andreas Stickel und Peter Harig ist kristallklar: „Wir freuen uns, wenn dann endlich Garry Walker kommt! Einige Kollegen artikulieren das auch so: Das ist jetzt eine interessante Phase, wir sind aber nicht unfroh, nachher wieder zu wissen, wer da kommt, wie er tickt, wie er arbeitet.” Man wolle nicht missverstanden werden: „Wir haben nichts gegen Gastdirigenten. Es war ja bei der Rheinischen Philharmonie immer Usus und wird es sicher auch bei Garry Walker bleiben, regelmäßig gute Gäste einzuladen. Das bringt stets neue Impulse und Energien für Orchester wie Publikum. Es ist aber doch ein Unterschied, ob die Gastdirigate ein ergänzendes Element sind oder wie in diesem Jahr die Basis der Orchesterarbeit.”
Alle freuen sich auf Garry Walker
Die Vorfreude auf den neuen Chefdirigenten ist spürbar groß und im Orchester allgemein verbreitet. Das mag für den Außenstehenden nur schwer begreiflich sein angesichts des Umstandes, dass die Rheinische Philharmonie und Garry Walker bislang nur einen einzigen musikalischen Kontakt miteinander hatten: Walkers Bewerbungsdirigat, auf dessen Basis das Orchester dann seine einhellige Wahl traf. Wie soll man das nennen? Liebe auf den ersten Blick, entzündet während einer dreistündigen Probe? „In diesen zwei, drei Stunden war das Orchester wie verwandelt, die Kollegen allesamt gut gelaunt. Vorzeitig kamen sie aus der Pause zurück, gespannt, wie es weitergehen würde”, erinnern sich Stickel und Harig. „In dieser kurzen Zeit hatte Walker das Orchester völlig für sich eingenommen – nicht durch Reden, sondern durch Musizieren.” Die Chemie eines Klangkörpers, das Charisma eines Dirigenten: Für den Laien gehört beides zu den großen Geheimnissen der Kunst.
So gut und zufriedenstellend die „cheflose” Saison läuft, ist auch Müller-Rogalla anzumerken, dass deren besondere Bedingungen „zehren”. „Seit Sommer 2015 arbeite ich mit Garry Walker zusammen. Ich merke schon jetzt, im laufenden Jahr, welchen Vorteil es hat, dann ab September wieder in geordneten Bahnen zu arbeiten. Wir sind jetzt schon in der Planung für 2018/19.” Die einzige Konstante im Augenblick seien die Dirigate im Theater durch Enrico Delamboye, Leslie Suganandarajah und Karsten Huschke. „Im Konzertbetrieb aber haben wir es mit jedes Mal wechselnden neuen Leuten zu tun. Das ist eine richtige Herausforderung und weder fürs Orchester, noch für das Management und die Verwaltung immer einfach. Weshalb von vornherein feststand, dass dieser Modus keineswegs länger dauern darf als ein Jahr.” So geht es nun mit Neugierde und Verve in spannende Konzerte der zweiten Hälfte der Ausnahmesaison 2016/17 – am nahen Horizont den Beginn einer neuen Ära unter Chefdirigent Garry Walker vor Augen.
Andreas Pecht
Infos: www.rheinische-philharmonie.de
(Erstabdruck/-veröffentlichung in einem Pressemedium außerhalb dieser website 2. Woche im März 2017)