Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Von Freud und Leid des Pilzesuchens

ape. Dies ist ein Text über das Pilzesuchen. Nicht über das Kochen von Pilzen. Rezepte für die kulinarisch raffinierte Zubereitung der Fungi füllen Bücher und Zeitschriften zuhauf. Da kann jeder  heraussuchen, was ihm behagt. Thema ist auch nicht die Pilzbestimmung. Dem Erkennen, Benennen, Unterscheiden von Dutzenden Arten mit wohl einigen hundert Unterarten allein der heimischen Pilzpopulationen widmen sich Regalmeter von teils wunderhübschen Fotobänden. Dem Anfänger helfen sie viel – in etlichen Praxisfällen aber letztlich doch nicht wirklich über die Unsicherheit „essbar, nicht essbar, giftig?” hinweg. Weil: In der echten Natur sieht halt mancher echte Pilz unter manchen Wachstumsumständen doch recht anders aus als auf den Hochglanzfotos. Da hilft am Ende nur, mit dem Körbchen zum Fachmann dackeln und sortieren lassen oder bei erfahrenen Pilzfreunden am „lebenden Sammelobjekt” lernen, welches Schwammerl genießbar ist und welches nicht.

Wer will, kann daraus eine Wissenschaft machen und/oder an feinsinniger Bestimmung auch noch seltensten Arten seine Freude haben. Mich hat das nie interessiert. Ich suche sowieso nur nach jenen fünf Pilzarten, mit denen ich seit Kindertagen durch das Sammeln und Essen mit Großeltern,  Eltern, Freunden vertraut bin. Von zweien weiß ich sogar die Namen: Steinpilz und Pfifferling. Von den übrigen dreien nichtmal das; Oma nannte sie summarisch immer nur „gute Braune”, wegen ihrer hell- bis dunkelbraunen Kappe und dem Schwamm auf der Unterseite. Alle fünf Arten aber kann ich eindeutig identifizieren, ebenso die Bastarde, die auf den ersten Blick so ähnlich aussehen, einem indes die Mahlzeit verderben können. Kurzum: Meine Pilzbestimmung folgt streng der Devise „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht” und lässt also auch im Walde die Finger davon.

Dies ist ein Text über das Pilzesuchen und -sammeln. Er basiert einzig auf meinen Kindheits-/Jugenderfahrungen im Odenwald sowie hernach gut drei Jahrzehnten praktischer Sammelerfahrung vorwiegend in ein und demselben Waldstück im Unterwesterwald. Letzteres liegt meiner Wohnstatt nahe und umfasst etwa 25 Quadratkilometer Mischwald. Dort treibe ich mich ganzjährig mehrmals die Woche sportiv marschierend, meditativ spazierend, Brennholz machend oder Wildfrüchte sammelnd herum. Ein Pilzparadies ist dieses Refugium nicht gerade. Es gibt gewiss andere ergiebigere Gegenden in Westerwald, Taunus, Hunsrück, Eifel oder sonstwo. Hier jedenfalls ist man mehr am Suchen als am Sammeln.

Sei geduldig und eile nicht

Womit wir bei der Frage wären: Was muss ein Mensch zum Pilzesuchen mitbringen? Dies vor allem: Geduld; Lust an Langsamkeit und langem, ereignislosem Aufenthalt im Wald; Freude an der Aufmerksamkeit für das ganz kleine Umfeld – und eine ziemlich hohe Frustrationsschwelle. Denn gerade in witterungsmäßig durchschnittlichen oder gar trockenen Jahren sind dem Wald oft selbst mickrige Ausbeuten nur mit zeitaufwendigen Mühen abzuringen. Wer einen fast oder ganz leeren Korb am Ende stundenlangen Pilzesuchens nicht ertragen könnte und solch einen erfolglosen Tag im Wald als „pure Zeitverschwendung” betrachten würde, der sollte sich auf die Pilzesucherei erst gar nicht einlassen. Es ist mit den Pilzen ähnlich wie mit der Jagd: Bisweilen sitzt der Jäger mehrere Tage vergeblich an, bevor er einmal zum Schuss kommt. Und nicht selten streift eben auch der Pilzesucher mit seinem Korb durch den Wald bis er müde und hungrig ist – trägt dann aber doch nur ein kleines Händchen Schwammerln oder gar keine nach Hause.

Es gibt im Reich der Pilze nur größere oder kleinere Wahrscheinlichkeiten; Garantien gibt es keine, für gar nichts. Pilze sind – nach den Maßstäben des menschlichen Verständnisses von regelgerechtem Verhalten – pure Anarchisten. Nur einem einzigen Gesetz folgen sie nach meiner Erfahrung alle und in jeder ihrer Vegetationsphasen: Sie brauchen zum Gedeihen sehr viel Feuchtigkeit nebst hinreichend Wärme. Und ein bisschen Licht brauchen zumindest meine fünf Arten auch noch. Weshalb auf eine sehr heiße und trockene Sommerperiode meist eine generell schwache Pilzsaison folgt. Sollte jedoch ab spätestens Anfang/Mitte Juli eine regenreiche, schwülwarme Witterung vorherrschen, kann mit dem August eine tendenziell starke Pilzsaison beginnen. Das ist nur ein grober Bedingungsrahmen, mit dem die Gemeinsamkeiten zwischen den Arten aber auch schon enden. Ansonsten gilt für Pilze und eben auch die Aufmerksamkeit des Pilzesuchers: Auf die Bedingungen des engen und engsten Lebensraumes kommt es an. Pfifferlinge etwa mögen es in der Regel noch feuchter als Steinpilze und brauchen auch weniger Licht. Weshalb sie normalerweise selten auf demselben Flecken wachsen. Manchmal ist es aber doch ganz anders.

Wie die altvorderen Jäger und Sammler

Der Pilzfreund wird zum Geländebetrachter und Spurensucher, was einen ganz eigenen Reiz ausmacht, weil es wohl ein Erbteil unserer Vorfahren aus Jäger-und-Sammlerzeiten darstellt. Wo könnte sich unterm Blätterbelag des Waldbodens am ehesten Wasser ansammeln? Wo gibt es Lücken im Blätterdach und damit mehr, aber nicht zu viel Sonnenlicht am Boden? Welche Bäume stehen wo und vertragen sich erfahrungsgemäß mit dieser oder jener Pilzart am besten? Und wo sind schon länger keine Bäume mehr gefällt worden, also die unterirdischen Netzwerke mit den Pilze lange unbeschädigt geblieben? Wie dicht und hoch steht das Unterholz? … Schließlich: An welcher Stelle hast du in den vergangenen 30 Jahren schon einmal oder mehrmals Pilze gefunden? Letzteres spricht dafür, dass im unsichtbaren Bodenuntergrund zumindest wahrscheinlich pilzverträgliche Bedingungen bei Gesteinen, Erden, Wasseradern herrschen. Auch das ist freilich keine Garantie, dass an diesem Platz wieder welche austreiben, wenn zwischenzeitlich die Oberflächenbedingungen durch pflanzenwachstum, Forstbewirtschaftung, Wegebau oder Überpflückung verändert wurden.

Ein Wald wandelt sich ständig, mit ihm die Bedingungen für Pilze – und das in jedem Revier auf jedem Standort, zu jedem Zeitpunkt der Saison und je nach mittelfristiger Witterung auf vielfache, oft kaum durchschaubare Weise. Weshalb sich die Erfahrungen von Pilzesuchern andernorts teils beträchtlich von den meinen in „meinem Revier” unterscheiden können. Plötzlich wachsen an Stellen Pilze, wo es nie welche gegeben hatte. Oder es bleiben über viele Jahre verlässliche Sammelareale unversehens völlig leer. An wieder anderen Plätzen sprießen nach einer Unterbrechung von 10 oder 20 Jahren auf einmal wieder Schwammerln in Fülle aus der Erde oder es tauschen etwa Pfifferlinge und Steinpilze die Plätze. Beim einen Waldgang findest du nur über weite Flächen verteilte einzelne Fruchtkörper. Die Woche darauf kann es sein, dass dir Pilzsuchers Glücksfall widerfährt und du in derselben Spur auf dichtgesdrängte Pilzgruppen stößt.

Pilze sind Anarchisten

Die Wirkungsbedingungen fürs Pilzgedeihen sind auf der kleinräumlichen Binnenebene so vielfältig und mannigfach wechselwirkend, dass selbst mittels kundigem, geduldigem und aufmerksamem Betrachten allenfalls die Wahrscheinlichkeit etwas zunimmt, an dieser oder jener Stelle durch langsames Absuchen Pilze in passabler Menge zu finden. Sicher wird gar nichts, weil diese Gewächse wie gesagt nach den Maßstäben Normalsterblicher eher machen zu scheinen, was sie wollen.

Mit den Jahren oder Jahrzehnten im immer gleichen Revier kennst du allerdings eine Reihe von Plätzen mit erhöhter Pilz-Wahrscheinlichkeit. Obendrein entwickelst du ein Auge und eine Art intuitives Gespür dafür, wo gerade in diesem Jahr die Wahrscheinlichkeit besonders hoch sein könnte. Nicht selten indes erweist sich das als Irrtum. Oder dein Gespür vertut sich um 50 Meter – und du findest zwei Wochen später gleich neben dem zuvor vergeblich abgesuchten Platz die riesigen verwurmten und halb verfaulten Überreste einer Kolonie neulich noch strammer Steinpilze. Wie schon eingangs bemerkt: Die Frustrationsschwelle sollte hoch sein, wenn man „in die Pilze geht”, und jeder Waldgang sollte als Genuss per se empfunden werden können, selbst wenn der Korb mal leer bleibt.

Natürlich kann, wer will, einfach drauflos marschieren, bei Wanderungen und Spazierausflügen hier und dort und überall von Anfang August bis Ende Oktober nebenher am Wegesrand nach Pilzen Ausschau halten. Wer am Suchen und Sammeln Freud‘ gefunden hat und/oder diese selbstgesuchten Wildfrüchte alljährlich in den Selbstversorgungsanteil seiner Nahrungsmittel einbauen will, dem sei mit Hinweis auf die Entwicklung oben besagten Gespürs dies empfohlen: Suche dir ein Waldstück, dem du dich auf Dauer eng verbinden willst, dessen Veränderungen du über viele Jahre beobachtest, das zu deinem persönlichen Refugium wird. Suche dir ein Stück, dass möglichst fern von belebten Ausflugszielen, Wandersteigen, Rundwanderwegen liegt. Dann hast du, sofern dir der Sinn danach steht, mehr Ruhe und weniger Sammlerkonkurrenz. Mit der Zeit wirst du lernen, wann und wo du noch andere Waldfrüchte finden kannst, auch wann und wo du nicht herumstapfen solltest, weil dorten die Rückzugsräume und Kinderstuben der Tiere sind.

Der Gier Einhalt gebieten

Dann dies: Jeden Pilzesucher packt irgendwann mal die blanke Gier. Nehmen, nehmen, nehmen, auf dass „die Ernte” reich ausfalle. Dann braucht’s ein bisschen Selbstbescheidung, denn das gehört sich nicht und es ist kontraproduktiv. Man kann nämlich Pilzstellen, ja ganze Pilzbestände durch Überpflückung regelrecht ausrotten. Ergo: Es gilt auch in diesem Fall das Prinzip der Nachhaltigkeit. Heißt praktisch: Die schon ins fortgeschrittene Altersstadium übergehenden Pilze bleiben stehen und die ganz jungen, winzigen ebenfalls. Kein Gruppenvorkommen wird zu 100 Prozent abgesammelt, m.E. sollten 70 Prozent das Maximum sein. Man sammelt nicht mehr Pilze als für den persönlichen Verzehr gebraucht werden. Überhaupt lässt man grundsätzlich soviel wie möglich Pilzsubstanz im Wald. Weshalb ich z.B. die Findlinge bereits an oder nahe der Fundstelle grob putze. Denn manch örtlicher Pilz-„Abfall” verbessert die Grundlage fürs Pilzwachstum in den Folgejahren sein.
 
Schlussendlich gerade für Beginner noch das: Sicherheitshinweise. Der passionierte Pilzsucher geht mit Holzkorb und Taschenmesser auf die Pirsch. Das Messer klappt er bei jedem Stellungswechsel zu oder legt es aufgeklappt in den Korb. Es beim suchenden Herumstapfen offen in der Hand zu halten, wäre gefährliche Menschendummheit (wg. stolpern, fallen, sich aufspießen). Das mit Abstand gefährlichste Tier im deutschen Wald ist – die Zecke. Und weil man bei richtigem Pilzesuchen immer wieder mal mit Gebüsch und Unterholz zu tun bekommt, wo diese Viecher gerne lauern, wären kurze Hosen, Minirock und bauchfreies Top die falsche Bekleidung. Ich bin über die Jahre mit folgender Methode ziemlich gut gefahren: Beine, Schritt, Bauch, Unterrücken, Arme, Hals und Ohren mit Antizecken-Autan oder -Brummbrumm einreiben; lange Hose und langärmliges Top aus festem Stoff anziehen; bei der Heimkehr am Waldrand Klamotten kräftig abklopfen, am Abend duschen und nachher den Leib nach unliebsamen Besuchern absuchen (oder von einem liebevollen Mitmenschen absuchen lassen). Manch einer mag das für übertrieben halten, aber mit Zecken ist m.E. nicht zu spaßen.

Still und einsam

Dann also viel Freude dem, der meint, an geschildertem Tun Freude haben zu können. Pilzesuchen ist nicht jedermanns Sache. Hektikern täte es gut, aber gerade sie werden sich mit geduldiger Langsamkeit bei nie garantiertem Erfolg schwer tun. Kann, soll man Kinder, Partner, Freunde zum Pilzesuchen mitnehmen? Schwierig, muss jeder selbst entscheiden. Kindern könnte die Sache auf Dauer langweilig werden. Was erwachsene Gesellschaft angeht, so ist das Geschmackssache – ich mag es „in den Pilzen” lieber still und einsam.

Andreas Pecht

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