ape. Koblenz. Wenn der verehrten Leserschaft der nachfolgende Text vor Augen kommt, wird Garry Walker sein Einstandskonzert am Mittelrhein bereits dirigiert haben. Der Terminplan wies es für den 22. September als erstes Anrechtskonzert 2017/18 beim Musik-Instituts Koblenz aus. Für diesen Artikel jedoch trafen wir uns zum Gespräch schon am 3. September, dem diesjährigen Tag der offenen Tür im Görreshaus, der Koblenzer Heimstatt der Rheinische Philharmonie. Es galt, einer Persönlichkeit näher zu kommen, die in den nächsten Jahren diesen Klangkörper als Chefdirigent künstlerisch prägen wird.
Während an jenem Sonntag in Koblenz Marathonläufer schwitzend ihre Stärken ausspielen oder mit Schwächen ringen, genießt Garry Walker im Görreshaus sichtlich mit Spaß und angetan als Zuhörer im Publikum eines der Kurzkonzerte des Orchesters am Tag der offenen Tür. Gegeben wird unter Leitung von Russel Harris anlassgemäß ein beschwingtes Programm unter anderem mit Brahms‘ 5. Ungarischen Tanz und der Ouvertüre zum „Zigeunerbaron“. Ein Fuß Walkers wippt im Rhythmus; die Hände zucken bisweilen, als wollten sie mitdirigieren; der Oberkörper nimmt dezent musikalische Impulse vorweg. Mit Beifall spart der 43-Jährige nicht – und äußert sich auch nachher bei unserem Gespräch, etwas abseits der sonnenbeschienenen Geselligkeit ums Görreshaus, erfreut und anerkennend über die eben erlebte Spielkultur seines neuen Orchesters.
Dies ist meine zweite Begegnung mit dem gertenschlanken Schotten. Erstmals hatten wir im Januar 2016 miteinander gesprochen, als Vera Reiß, damalige Kulturministerin von Rheinland-Pfalz, ihn in Koblenz als Nachfolger für Daniel Raiskin vorstellte. Seinerzeit unterhielt man sich noch weitgehend in englischer Sprache. Seither hat Garry Walker eine Menge Deutsch hinzugelernt; hat, wie er schmunzelnd sagt, „das ganze letzte Jahr kräftig gebüffelt“. Obendrein sei er von seiner deutschen Ehefrau regelrecht „gedrillt“ worden auf die Sprache der künftigen Wirkungsstätte am Rhein-Mosel-Eck. Weshalb die Unterredung nun überwiegend auf Deutsch geführt wird; nur bei komplexeren und tiefer gehenden Gedanken muss er bisweilen noch um Worte ringen oder schaltet für ein paar Sätze ins Englische um.
Musizieren als ständiges Abenteuer
So interessant, erlebnisreich, hochkarätig und vielgestaltig die zurückliegende Konzertsaison mit der Rheinischen Philharmonie unter wechselnden Gastdirigenten auch war: Für Orchester und Publikum war es eben doch auch eine Wartezeit auf den eigenen Chefdirigenten. Dass der Neue nun loslegt, erfüllt alle mit Freude und gespannten Erwartungen. Und wie ist es bei Walker selbst? „Das geht mir mir genauso. Ich bin jetzt ungeduldig und möchte anfangen. In zwei Wochen beginnen die Proben fürs erste Konzert – und ich bin bereit, soweit man in der Kunst je bereit sein kann. Natürlich kenne ich die Stücke, aber es wird ein Abenteuer, so wie es jedesmal ein Abenteuer ist.“
Musizieren als Abenteuer. Wie Garry Walker da sitzt, mit blitzenden Augen, lebhaften Gesten und in bester Laune über sein Verhältnis zur Musik spricht, nimmt man ihm das und die Freude daran sofort ab. Er singt, summt, pfeift nachher immer wieder mal Motive aus zur Rede stehenden Werken kurz an, um zu verdeutlichen, was er meint. Etwa die ersten Takte aus Gustav Mahlers 1. Sinfonie: „Das sind ganz einfache Töne, die richtig zu spielen, ist kein Problem. Aber es sind eben nicht nur Töne; in ihnen steckt viel mehr, eine Idee, ein Beginnen, ein Gefühl, das zu allem Folgenden führt. Das gilt es, mit dem Orchester zu entdecken und auszuformen.“ Und dann sagt er: „Für mich ist die Einstudierung jedes Stückes, egal wie gut man es kennt, immer wieder eine Entdeckungsreise. Jedes Werk will und muss jedes Mal neu entdeckt werden.“
Außer für Philharmonie-Intendant Günter Müller-Rogalla ist Walker für alle Hiesigen noch ein Unbekannter. Die beidem duzen sich, haben schon viele Stunden, meist am Telefon, miteinander diskutiert, Pläne geschmiedet, Programme gestaltet. Sie haben diese und die nächste Spielzeit festgeklopft, arbeiten bereits an der übernächsten. Es ist ein Vergnügen per se zu beobachten, wie die beiden sich musikalische Ideen, dramaturgische Ansätze, Absichten, Möglichkeiten, Intentionen zuwerfen. Da hat sich offenbar ein kreatives Duo gefunden; die Chemie zwischen Chefdirigent und Intendant scheint zu stimmen. Für die Beziehung zwischen dem Orchester und seinem neuen künstlerischen Leiter muss sich das erst noch erweisen. Denn bis zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hatte es erst ein einziges Mal mit Walker zu tun: Beim Vorstellungsdirigat der Chefkandidaten anno 2015. Damals war die Wahl des Orchesters einhellig, ja mit spürbarer Begeisterung auf den Schotten gefallen. Gleichwohl ist der Mann auch für die Koblenzer Musiker noch ein Unbekannter. Deshalb die Frage an ihn: Wie würde er selbst seinen Führungs- und Arbeitsstil definieren, ist er eher Commander in Chief oder Primus inter Pares?
„Ich muss gute Musik ermöglichen“
Antwort: „Es gibt kein Schwarz und Weiß, sondern wie überall im modernen Leben auch hier die viel interessanteren, subtilen Grautöne. Natürlich, das ist mein Beruf: Ich muss anleiten, führen. Aber für mich ist von zentraler Bedeutung: Ich muss ermöglichen, dass gute Musik gut gespielt wird. Collin Davis hat einmal gesagt, mit dem Orchester ist es wie mit einem Vogel, den du in Händen hältst: Ist der Griff zu fest, erstickt das Wesen, ist er zu locker, fliegt es davon. Die Arbeit mit dem Orchester ist also immer ein Mix aus Anleitung der Musiker und Zuneigung zu ihnen.“ Diese Haltung resultiert aus dem Verständnis Walkers von dem, was Musik ureigentlich ausmacht: „Musik ist eine Freude, eine Geschenk Gottes oder unseres humanistischen Geistes, etwas, das größer ist als wir selbst. Und ich liebe diese Musik so sehr. Selbstverständlich ist die Arbeit nicht immer nur Spaß, sondern eben auch Mühe. Aber ich möchte, dass wir zusammen flexibel, intensiv, beseelt spielen, dass beispielsweise der Rhythmus nicht – wie sagt man? – ‚viereckig‘ daherkommt.“
Der Blick aufs Programm der Rheinischen Philharmonie für die Spielzeit 2017/18 ist an deren Beginn selbstredend auch eine Suche nach Eigenarten, Konzepten, Vorlieben des neuen Chefdirigenten. Die Frage, warum er ausgerechnet mit Mozart beginne, irritiert Walker ein bisschen. „Why not“, warum nicht?, fragt er zurück – um dann launig das Programmkonzept für sein Einstandskonzert beim Musik-Institut so zu erläutern: Mahlers 1. Sinfonie sei der „dicke Schokoladenkuchen“ zum Schluss des Abends. Der beginne mit einem in Koblenz noch nie gespielten Stück, Jacques Iberts „Hommage à Mozart“. Das sei eine kleine, humorige Musik, die das Publikum auf leichte Art aus dem Alltagsleben abhole, einstimme auf ein Konzert, das sich über Mozarts Jupiter-Sinfonie zu Mahlers „Titan“ steigert.
Das Publikum ins Konzert hineinführen
Die innere Dramaturgie dieses Konzerts macht zwei Prinzipien sichtbar, die sich im sehr stark von Walker beeinflussten Spielplan häufig wiederfinden. Erstens: Dem Publikum – und auch dem Orchester – regelmäßig am Ort nur selten oder noch nie gespielte klassische Werke vorstellen. Zweitens: Die Zuhörer nicht gleich mit dem ersten Ton in die größten und ernstesten Anforderungen stürzen, sondern sie mit sorgsam ausgewählten Entree-Stücken abholen und einfühlsam ins Konzerterlebnis hineinführen. Beim zweiten Anrechtskonzert am 20. Oktober übernimmt diese Funktion Jean Sibelius‘ wunderbarer „Schwan von Tuonela“, beim dritten Benjamin Brittens „A Time There Was“.
Garry Walker dirigiert in dieser Saison sechs der zehn Anrechtskonzerte in der Rhein-Mosel-Halle, drei der vier Orchesterkonzerte im Görreshaus, die Streicherserenade im Rahmen der „Koblenzer Begegnungen“ sowie einen schottischen Abend bei den Koblenzer Mendelssohn-Tagen. Obendrein leitet er selbst zehn Gastspiele der Rheinischen Philharmonie außerhalb von Koblenz, darunter Auftritte in Mayen, Idar-Oberstein, Simmern, Neustadt. Dieses Engagement auch in den kleinen Städten der Region – eine Pflichtaufgabe des rheinland-pfälzischen Staatsorchesters – ist ihm eine persönliche Herzenssache. Der Schotte ist fasziniert und voll des Lobes für die deutsche Praxis, wonach die Orchester hier sich auch intensiv um eine musikalische Versorgung des flachen Landes bemühen. „In Großbritannien kennt man das kaum, da muss man immer hinfahren zu den Konzerten in den Großstädten. Ich finde es sehr gut und richtig, dass die Musik auch zu den Leuten draußen hingeht.“ Und sowieso sei das eine interessante Herausforderung für das Orchester – zu erleben, wie eine Stückinterpretation bei der zweiten oder dritten Aufführung in anderen Raumverhältnissen vor einem anderen Publikum wirkt, ja sich verändern kann.
Möglichst nahe ran an die Leute
Überhaupt scheint die Devise „mit der Musik möglichst nahe heran an die Leute“ ein zentrales Anliegen des neuen Chefdirigenten zu sein. Weshalb er die Frage, wie wichtig ihm die Orchesterkonzerte vor kleinem Publikum im Görreshaus seien, klipp und klar beantwortet: „Sie sind mir genauso wichtig wie die vor großer Kulisse in der Rhein-Mosel-Halle. Ob dort, hier im Görreshaus oder bei Gastspielen in der Region: Ich gehe in jedes Konzert mit den gleichen Qualitätsansprüchen; jedes Publikum hat es verdient, dass wir unser Bestes geben.“ Die ganz großen internationalen Konzerthallen würden ihn ohnehin wenig reizen, er bevorzugt die engere Beziehung zum Publikum – und speziell im Görreshaus die Möglichkeit, mit anderen und/oder kleineren Orchesterbesetzungen selbst große und berühmte Werke mal auf ganz neue Art zu entdecken oder vielleicht historisch authentischere Art wiederzuentdecken.
Da scheint im Gespräch Walkers Lust am Experiment auf. Was zwangsläufig zu der Frage führt: Warum hat im aktuellen Spielzeitprogramm seine Liebe zu Neuer Musik und zeitgenössischer Avantgarde kaum Spuren hinterlassen? Schließlich hat er in früheren Jahren auf dem Gebiet der musikalischen Moderne etwa mit dem Red Note Ensemble intensiv gearbeitet. Jetzt kommt die Rede wieder auf das Prinzip „Abholen des Publikums“. Ernst erklärt er: „Für die Begegnung mit der zeitgenössischen Musik braucht es ein Vertrauen zwischen dem Publikum und uns, beziehungsweise mir, dem Neuen hier. Die Menschen müssen wissen, dass ich ihnen keinen Unsinn zumuten will, sondern künstlerisch wertvolle und spannende Musik nahebringen.“ Deshalb habe er in seiner ersten Spielzeit in Koblenz auf gewagte Vorstöße noch verzichtet. Was sich in den Folgejahren aber mit Maß ändern werde. „Wir müssen dann sehen, in welchen Konzertreihen wir am ehesten die Türen zur jüngeren und jüngsten Musik öffnen können. Und wir werden auf jeden Fall genau überlegen, mit welchen Vermittlungsmethoden wir den Zuhörern den Zugang zu ungewohnten Klangwelten erleichtern können.“
Oper? Jetzt erstmal sinfonisches Schaffen
Es gibt in Koblenz so Pflichtfragen, von denen die Öffentlichkeit einfach erwartet, dass man sie einem neuen Chefdirigenten der Rheinischen stellt. Vorneweg, seit Abschaffung des GMD-Amtes, diejenige nach seiner Beziehung zum Chefdirigenten des Theaters, jetzt also Enrico Delamboye. Walker lacht und sagt: „Enrico und ich kennen uns schon sehr lange, wir hatten beispielsweise in London öfter miteinander zu tun, und wir verstehen uns ziemlich gut.“ Das ist fein und führt zugleich zur nächsten Pflichtfrage: Kann sich Garry Walker vorstellen, auch mal eine Oper im Theater Koblenz zu dirigieren? Im Prinzip ja. Aber dem stehen bis auf Weiteres logistische Probleme entgegen sowie der Wille Walkers, sich erstmal primär auf das sinfonische Schaffen mit dem Orchester zu konzentrieren. Darauf seien auch die Programmabsichten für die kommenden Jahre ausgerichtet, verrät Müller-Rogalla zwischendurch, als die Sprache auf Walkers rote oder konzeptionelle Linie kommt: „Er denkt in einem mehrjährigen Entwicklungsbogen, und er denkt ihn vom Orchester her“, so der Intendant.
Und schließlich kommt man bei einem solchen Gespräch auch nicht an den Homestory-Aspekten vorbei. Wie lebt „ihr“ Dirigent, wollen die hiesigen Musikfreunde wissen. Hat er schon eine Wohnung in Koblenz? Wird die Familie hierher umsiedeln? Walker geht selbst mit solch privaten Fragen ganz locker und zugänglich um. Nein, er habe noch keine Wohnung in Koblenz, werde sich aber dennoch sehr oft hier aufhalten. Die Familie habe die letzten beiden Jahre – also die Elternzeit für das zweite Kind – in seiner Heimstadt Edinburgh gelebt. Jetzt seien sie erstmal nach Tübingen zurückgekehrt, wo seine deutsche Gattin ihre Stelle als Lehrerin wieder angetreten hat. „Wie es weitergeht, wird man sehen“, sagt Garry Walker. Und fügt vergnügt hinzu: „Jetzt freue ich mich vor allem auf die neue Arbeit mit der Rheinischen Philharmonie.“ Dazu sei frohes und erfolgreiches Schaffen gewünscht.
Andreas Pecht
Erstabdruck/-veröffentlichung in einem Medium außerhalb dieser website am 04. Oktober 2017