ape. Für die literarische Welt und das entsprechend interessierte Publikum ist es alljährlich wohl der spannendste Moment. Verkündungstag, 13 Uhr MEZ. Man lauscht in den Äther, starrt ins Netz, hält die Luft an. In Frankfurt erlahmt selbst das Getriebe der Buchmesse für jenen Augenblick, da in Stockholm das Nobelpreiskomitee den neuen Preisträger für Literatur bekannt gibt. Dann folgt meist sogleich das internationale „Ach“ und „Oh“, das fragende „Wer ist das denn?“ oder ein kopfschüttelndes „Wie kann man nur?!“. Heuer also Kazuo Ishiguro. Die üblichen Irritationen und die Einsprüche gegen den Entscheid halten sich diesmal in Grenzen, denn der japanische Brite ist kein Unbekannter. Er steht seit drei Jahrzehnten hierzulande und in vielen anderen Ländern immer wieder auf den Bestenlisten, gelegentlich sogar Bestsellerlisten. Selbst wem der Name nicht geläufig ist, hat womöglich die ziemlich bekannten Romanverfilmungen „Was vom Tage übrig bleibt“ und „Alles, was wir geben mussten“ gesehen.
Zwar hatte keiner der Auguren und Buchmacher Ishiguro auf dem Radar. Das Komitee hat gleichwohl eine sehr gute Wahl getroffen. Der Literaturfreund denkt gerne an das sachte Anstupsen, mit dem dieser Autor des Lesers Aufmerksamkeit zu gewinnen sucht und gewinnt. Er denkt gerne an die unaufdringliche, gepflegte Schlichtheit und Klarheit von Ishiguros Sätzen, die ihn in tastenden Kreisen immer näher heranführen an scheinbar eigentümliche Lebenswege scheinbar seltsamer Charaktere. Der britische Butler Stevens etwa in „Was vom Tage übrig bleibt“, der Jahrzehnt um Jahrzehnt nur getreulich dezent seinen Dienst tut. Dem ungerührt ein Leben am Rande weltpolitischer Verstrickungen vergeht sowie die Chance aufs Liebesglück.
Sich daran erinnernd, muss der Mann im Alter klarkommen mit einer Bilanz aus Nichtigkeit, Pflichterfüllung, Versäumnis, vielleicht Schuld. Wie zu sich finden, bei sich bleiben, in Würde leben inmitten eines Gangs der Dinge, den man kaum beeinflussen kann? Der Roman ist ein großer. Und in dessen Verfilmung kann Anthony Hopkins als Butler die womöglich größte Darstellerleistung seines Lebens abliefern – versinkend in der tiefen Melancholie eines Menschen, der mit seinem Leben im reinen scheint und sich doch eingestehen muss, dass da eigentlich gar kein Leben war.
Erinnerungen sind letzter Halt der 31-jährigen Kathy in Ishiguros Science-Fiction-Roman „Alles, was wir geben mussten“. Sie erinnert sich an die Zeit, die sie als Mädchen völlig normal in Internat verbracht hatte – in Vorbereitung darauf, als eigens geklontes Organ-Ersatzteillager ausgeschlachtet zu werden. Das könnte ein Horrorthriller sein. Doch ist es bei Ishiguro vorsichtige Annäherung an einen Zustand, da das letzte Tabu gebrochen ist – und ans Innenleben von jungen Menschen, die unbedingt herausfinden wollen, was ihnen die Zukunft bringt, die sich zugleich am meisten fürchten vor dem Liebesentzug ihrer Schlächter. Ishiguro bietet allemal eine leise, aber heftig berührende wie in tiefes Sinnen stürzende Lektüre von hohem Rang.
Aus einer Ecke indes gibt es auch diesmal wieder Gemecker, sinngemäß zusammengefasst in folgendem Satz: „Solange das Stockholmer Komitee die millionenfach gelesenen Schmöker und Thriller der Unterhaltungsgiganten nicht einbezieht, kann man den Literaturnobelpreis auch nicht ernst nehmen.“ Das ist ein arges Missverständnis vom Zweck dieses Preises. Der würdigt nicht den Erfolg eines Autors und seines Oeuvres beim Publikum, sondern herausragende literarische Qualitäten. Und die haben nunmal mit Verkaufszahlen oft eher wenig zu tun. Es wird ja auch der Chemie-Nobelpreis nicht vergeben für das Zusammenmixen eines Geschirrspülmittels, so praktisch und bei den Nutzern beliebt es sein mag.
Andreas Pecht