ape. Welche ist die heiligste aller heiligen Kühe unserer Epoche? Nein, nicht das Automobil; obwohl man gerade wieder mal den Eindruck haben könnte. Nach dem Sinn ihres Lebens befragt, würde die Mehrheit jedenfalls kaum antworten: „Anschaffung und Pflege immer größerer Autos.“ Sie würde aufs ideelle Parkett schwenken und gerührt erklären: die Familie. Mich irritiert das. Denn die meisten Gewaltverbrechen finden nicht in dunklen Straßenecken statt, die meisten Prügeleien nicht im Umfeld von Wirtshäusern oder Stadien, die meisten Streitereien nicht in Schulen, Betrieben, Straßenbahnen. Sondern: innerhalb der familiären vier Wände. Dass diese nicht unbedingt Halt geben, zeigt auch die seit Jahrzehnten steigende Scheidungsrate. Könnte es sein, dass das landläufige Familienideal umso höher gehängt wird, je weniger real es ist?
Jetzt drängelt Freund Walter: „Ja, schenk den Leuten reinen Wein ein über ihr geliebtes Kleinfamilienidyll. Sag ihnen, dass das nicht die Keimzelle jedweder Gesellschaft war, sondern eine Erfindung der Industriellen Revolution ist.“ Da liegt er wohl richtig. In den agrarisch geprägten Gesellschaften über Jahrtausende zuvor war die dominante Lebensform der großfamiliäre Haushalt nebst oft lebenslang unverheirateten Knechten, Mägden, Gesellen. Weithin durfte gar nicht heiraten, wer arm war, kein Land oder eigenes Gewerbe hatte. Noch früher, bei den steinzeitlichen Jägern und Sammlern, waren die 10- bis 20-köpfigen Lebensgruppen „die Familie“; monogame Paare unwahrscheinlich, Vaterschaften ungewiss, Kindesaufzucht kollektiv – auch wenn Hollywood seit eh und je das Vater-Mutter-Kinder-Ideal in bedenkenloser Falschheit sämtlichen Zeitaltern überstülpt.
Aber die Mutter-Kind-Beziehung, die sei doch auf jeden Fall von Natur aus existenziell, glaubt man allgemein. Ähm, sagen wir so: Mutterliebe kann ein sehr starkes Gefühl sein. Aber ist das auch umgekehrt so? Säuglinge etwa scheinen da eher pragmatisch eingestellt: Sie wenden sich vorzugsweise jenen zu, die ihnen dauerhaft Nahrung, Wärme, Zuwendung, Schutz zuteil werden lassen., sagt die Wissenschaft. Diesen Umstand nutzten unsere Vorfahren weidlich: reiche Herrschaften, um sich nicht mit „Kinderkram“ mühen zu müssen; Bauern, Handwerker, Proletarier, um nicht die Arbeitskraft allzu vieler junger Frauen zu verlieren. Wie das teils ging, lässt sich bei Shakespeare sehen: Wer ist die häusliche Bezugsperson der Titelheldin in „Romeo und Julia“ von Geburt an? Nicht Mutter, nicht Vater, sondern die Amme.
Könnte durchaus sein, dass ein Erfolgsrezept der Entwicklung des Homo sapiens die natürliche Nichtexklusivität der Mutter-Kind-Beziehung ist. Bei vielen Tierarten kommen Junge um, die ihre Mütter verlieren, weil andere Mütter fremde Jungtiere oder Jungtiere fremde Mütter nicht annehmen. Menschen sind da viel flexibler: Sofern nicht durch egozentrische Wiegen-Hubschrauberei verdorben, kommen ihre Babies prima klar mit ein bis drei Ersatzmüttern (auch Ersatzvätern), von denen sie regelmäßig gut und liebevoll versorgt werden, denen sie vertrauen. Wäre dem nicht so, wir müssten all unsere Kinderkrippen und Krabbelgruppen zusperren, müssten auf die Dienste von Oma, Opa und Babysitter verzichten.
Kurzum: Blut per se spricht nicht und (ver-)bindet nicht. Das tun nur Liebe, Zuwendung, Fürsorge, Mitgefühl, Verlässlichkeit, Solidarität. Dafür aber ist Blutsverwandtschaft keine Bedingung – und schon gar nicht ist sie ein Garant dafür.
(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 12./13. Woche im März 2018)