ape./Neuwied. Walter Ullrich, Hannes Houska, Jochen Heyse: Das waren die Theaterprinzipale, die Ende des vergangenen Jahrhunderts zeitgleich über viele Jahre das professionelle Bühnengeschehen in der Mittelrheinregion prägten. Alte Schule, dominante Persönlichkeiten alle drei – Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Intendanten in einer Person. Das kennt man in der deutschsprachigen Theaterwelt heute kaum noch. Houska starb im Februar 2012 im Alter von 80 Jahren, hatte von 1975 bis 1996 als Intendant die Geschicke des städtischen Theaters Koblenz bestimmt. Auch Heyse weilt schon länger nicht mehr unter den Lebenden. Er starb ein Jahr nach Houska 83-jährig, hatte von 1988 bis 2004 die Leitung der Burgfestspiele Mayen innen. Der Dritte im Bunde allerdings, Walter Ullrich, erfreut sich noch seines irdischen Daseins, war bis eben Intendant des Kleinen Theaters Bad Godesberg und zugleich der Landesbühne im Schlosstheater Neuwied. Jetzt erst, im schon 88. Lebensjahr muss er nach gut 60 Jahren sein Godesberger Privattheater aufgeben und hat dieser Tage nach 40 Jahren die Leitung des Neuwieder Theaters in die jüngeren Hände von Lajos Wenzel überantwortet.
Noch eines haben die drei gemeinsam: Ihr Leben mit, im und fürs Theater begann bei jedem bereits in Kindertagen und dauerte ununterbrochen bis ins hohe Alter. Der in Mönchengladbach geborene Ullrich, Spross einer Theaterfamilie, stand erstmals dreijährig auf der Bühne. Mit 15 und einem Volontariat am Theater Halberstadt begann sein berufliches Leben als Schauspieler, nachher auch als Regisseur. Er spielte oder inszenierte an unterschiedlichen Theatern alles, was das Repertoire verlangte. Er wirkte obendrein in einer ansehnlichen Zahl von Kino- und Fernsehproduktionen mit, etwa 1979 in „Steiner – Das Eiserne Kreuz“, 1981 in „Der Fall Mauritius“ oder zuletzt um die Jahrtausendwende in fünf Folgen der TV-Serie „Verbotene Liebe“.
Als ich, damals Jungkritiker, vor fast 30 Jahren erstmals Neuwieder Auftritte und Produktionen Ullrichs in Augenschein nahm, war für ihn die Zeit der jugendlichen Helden- und Liebhaberfiguren schon vorbei. Mit knapp 60 kamen ihm da Mannsbilder des reiferen Alters zupass und stand er an der Schwelle zu den großen Altersrollen. Molieres eingebildeter Kranker, Shakespeares Heinrich VIII., mehrfach Lessings weiser Nathan und natürlich alle paar Jahre wieder der Doktor Faust von Goethe waren Paraderollen für ihn. Unzähligen anderen Figuren hat er auf seine unverwechselbare Art ebenfalls Leben eingehaucht. Bei einem Gespräch anlässlich seines 75. Geburtstages und zeitglich 60-jährigen Bühnenjubiläums hatte ich ihn gefragt, ob nicht, wie bei so vielen älteren Schauspielern, Shakespeares King Lear ganz oben auf seinem Alterswunschzettel stünde. Die Antwort macht deutlich, dass Ullrich sehr eigen sein kann: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich nach einer Rolle sehne, bei mir drei Frauen auf der Nase herumtanzen.“
Als Walter Ullrich 1958 in seinen Bad Godesberger Theater den Intendantdienst antrat, war er der jüngste Bühnenchef Deutschlands. Von den frühen 2000er-Jahren bis zu seiner Verabschiedung neulich mit einer Gala im Schlosstheater Neuwied war er dann der mit Abstand dienstälteste. Mehrmals habe ich über die letzten drei Jahrzehnte lange Gespräche mit ihm geführt. Die hatten von seiner Seite aus immer auch eine starke wirtschaftliche Komponente. Was zwangsläufig ist bei einem Theaterleiter, der zwei Häusern vorsteht, die finanziell nicht eben opulent ausgestattet sind. Mit einigem Stolz verwies er vor diesem Hintergrund stets auf die 60 und mehr Prozent, die die Landesbühne im Neuwieder Schlosstheater als Anteil am Budget selbst einspielt. Im Vergleich mit den meisten anderen Theatern in Deutschland ist das in der Tat ein gigantischer Anteil. Wie auch die zeitweise mehr als 3500 Abonnenten in Neuwied ein richtiges Pfund waren, schöpften sie die Platzkapazitäten des Hauses mit seinen 273 Sitzen doch beinahe alleine aus. „Als ich 1979 in Neuwied begann, waren es gerade mal 80 Abos“ erinnerte sich Ullrich immer gerne.
Der Zuspruch für das Neuwieder Theater seitens eines treuen Publikums aus der Deichstadt und dem näheren Hinterland beiderseits des Rheins war immer beträchtlich. Doch das Verhältnis zwischen Ullrichs Theaterarbeit und dem Kritiker war zeitweise von erheblichen Spannungen geprägt. Ich schrieb vor mehr als einem Jahrzehnt an dieser Stelle: „Manchmal sind Besuche im Schlosstheater Neuwied wie Reisen in eine vergangene Theaterwelt. Hier wird bisweilen gespielt, als sei das Regietheater nie erfunden worden, stehe die Entwicklung des absurden Theaters erst noch bevor und handle es sich bei den andernorts allfälligen Neuinterpretationen der Klassiker um einen Irrweg der Bühnenkunst.“ Will sagen: Ullrichs Theater war nie Ort revolutionärer Kunstexperimente, ästhetischen Furors und das Publikum herausfordernder Innovation. Seine Programme waren populär, setzten auf eine Mischung aus leichter Unterhaltung und klassischer Erbauung. Gepflegt wurde überwiegend traditionell-konventionelles Theaterhandwerk. Das aber weithin auf ordentlichem, bisweilen auch ambitionierten Niveau – so wie es mit den bescheidenen Mitteln ohne festes Ensemble und im Gästebetrieb eben möglich ist.
Walter Ullrich und ich haben über die Jahre manchen Strauß miteinander ausgefochten, mit der Zeit uns aber auch respektieren und schätzen gelernt. Denn ich erkannte in ihm einen Mann, dessen Blut fürs Theater rauscht und ohne den es um die Versorgung „der Provinz“ mit Bühnenkunst wesentlich schlechter bestellt gewesen wäre. Mit seinem Abschied jetzt – bei der Neuwieder Gala von seiner Seite mit einigen selbstgespielten Szenen natürlich aus Goethes „Faust“ zelebriert – endet zugleich die Ära der alten Theaterprinzipale und Allrounder. Aber anders als seine einstigen Kollegen Houska und Heyse, lebt Ullrich noch, schlägt sein Herz wie ehedem im Theatertakt. Weshalb ich nicht glaube, dass sein Abschied vom IntendantenamtLajos Wenzel auch ein Abschied von der Bühne war. Man wird (ihn) sehen. Andreas Pecht