Wiesbaden/ape. Das Ballett „Der Nussknacker“ von 1892 ist ewiger Dauerbrenner für die Vorweihnachtszeit geblieben. In der Regel auf Familientauglichkeit angelegt, verbieten sich heftige Eingriffe in die märchenhafte Handlung sowie allzu viel abstrakte Moderne im Tanz. Tim Plegge, Chef des Hessischen Staatsballetts, hält sich bei seiner Choreografie weitgehend an dieses Prinzip. Ergebnis ist ein gefälliger 135-Minuten-Abend, prächtig bis monumental ausgestattet, personell um Kinderballett und Jugendeleven verstärkt.
Einen befremdenden Faktor gibt es gleichwohl. Wie schon vor einem Jahr in Koblenz Steffen Fuchs, so hat auch Plegge in die Nussknacker-Musik von Tschaikowsky eingegriffen. Das Wiesbadener Orchester unter Patrick Lange spielt eine veränderte Reihenfolge der Nummern und hat ein zusätzliches Instrument zur Seite: eine elektrische Hammondorgel, die in ihrem typischen Vibratosound der 1⁹60er swingend zum Weihnachtsfest bei Familie Silberhaus aufspielt. Das geht an, solange Organist Ralph Abelein als Solist agiert. Wenn sich aber die Hammond ins Orchestergeschehen einmischt, wird die Sache sehr eigentümlich.
Auf der Bühne bleibt es beim bekannten Spiel der zwei Sphären: Hier quasirealistisches Weihnachtsgetriebe und Beschenkung des Mädchens Marie mit einer Nussknacker-Figur; da geheimnisvolles Märchentreiben – Maries Fantasie –, das den Nussknacker, allerhand Puppen, Blumen und gar den ganzen Hofstaat von Zuckerburg lebendig werden lässt. Plegges Choreografie hebt vor allem auf die fantastische Sphäre ab, während der Erzählstrang über das reale Weihnachtsfest eher knapp ausfällt und die dort handelnden Personen recht blass bleiben. Mit einer Ausnahme: Masayoshi Katori tanzt famos eine gallig-knorzig die Feststimmung störende Oma, die nachher zur Rattenkönigin mutiert.
Den Übergang zwischen beiden Sphären markieren Schränke. Jene Möbel also, in deren dunklem Inneren Kinder seit jeher Geheimnisvolles bis Bedrohliches vermuten. Das ist eine feine Idee, die Frank Philipp Schlößmann für seinen Bühnenbau einnehmend variiert: bald tanzen kleinere Schränke einen Reigen; bald kommt sich Marie vor einem meterhohen Schrankungetüm winzig vor; bald sitzen sie und der Nussknacker oben auf einer gewaltigen Schrankpyramide und betrachten vergnügt das Treiben drunten.
Zu sehen gibt es da allerhand, nämlich die Parade der Solo- und Paartänze, die dem klassischen Ballett als Divertissement so wichtig war. Hier wird daraus ein Abfolge spaßiger Nummern von Pferdetanz bis Cowboy-und-Indianer-Duett. Gefährlich wird es, als Maries Lumpenpuppen gegen die Rattenschar fechten. Und vollends Schluss mit Lustig ist, als das Mädchen es mit zwei Dutzend puppigen Abbildern ihrer selbst zu tun bekommt, die auch sie in eine Puppe verwandeln wollen.
Vanessa Shield ist als Marie eine treffliche Besetzung. Klein und zart von Statur, verströmt ihr flotter, gelöster, oft verspielter Tanzstil unschuldige Mädchenhaftigkeit. Bei Daniel Myers‘ Nussknacker bestechen die beiden Verwandlungen von steif-eckiger Hölzernheit in Lebendigkeit und später wieder zurück. Die Compagnie ist reihum gut eingestellt, auch wenn Plegge bei Figurendichte und Schwierigkeitsgrad durchaus etwas hätte zulegen dürfen. Aber man soll nicht zu kleinlich urteilen über eine Produktion, die vor allem eines will: dem Publikum vorweihnachtliche Freude bereiten. Und die unter anderem etwas so hübsches hervorbringt wie das Schneeflockenballett, bei dem sich Kinder und Compagnie ganz in Weiß unter leise rieselnden Flocken zu reizenden Tableaus finden. Andreas Pecht