Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Raiffeisen und Marx: Große Ideen für kleine Leute

Unkorrigiertes Manuskript meines Vortrages am 30.10.2019 im Landesmuseum Koblenz auf der Festung Ehrenbreitstein. Im Laufe 2018 und 2019 sprach ich an mehreren Orten in Rheinland-Pfalz zu diesem Thema. Der nachfolgende Redetext ist die letzte und auch längste Fassung. 

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Guten Abend allerseits,

Sie wissen ja, ich bin von Hause ein Schreiber. Deshalb habe ich aufgeschrieben, was ich Ihnen heute vortragen will. Wie schon die beiden Herren, um die es geht, bei ihren Vorträgen, so vertraue auch ich bei dem meinen allein auf die Kraft des gesprochenen Wortes. Will sagen: Es gibt keine Licht- und Bildershow. Und wenn ich mich brav an mein Manuskript halte, kommen wir auch vor Mitternacht hier wieder raus.
 
Meine Damen und Herrn,
liebe Leute und Freunde,

angesichts unseres heutigen Themas bin ich geneigt, auch die gute alte Anrede „Genossinnen und Genossen“ mal wieder zu gebrauchen. Denn gewiss gehören hier im Saal nicht eben Wenige Gruppen oder Institutionen an, bei denen diese Anrede legitim ist.

Einerseits gehört „Genossinnen und Genossen“ bis heute zum Hausgebrauch innerhalb der deutschen Sozialdemokratie – auch wenn manch einem das inzwischen etwas befremdlich vorkommen mag.

Andererseits ist die Anrede quasi selbstverständlich bei all jenen, die sich noch immer in der Nachfolge von Karl Marx sehen oder mit dessen politisch-ökonomischen Weltbild sympathisieren.

Und schließlich ist natürlich jedes Mitglied einer jedweden Genossenschaft, völlig unabhängig von seinem politischen Standort, schon vom Begriff her eine Genossin oder ein Genosse. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir hier im Raum einige Mitglieder von Genossenschaften sitzen haben – und seien es nur Kunden bei der Volksbank.

Doch scheint diese Selbstverständlichkeit des Begriffs Genossin/Genosse  inzwischen weithin in Vergessenheit geraten zu sein. Dazu eine kleine Anekdote am Rande: Vor einigen Jahren erklärte ich mal einem jungen Mann am Schalter der genossenschaftlichen Westerwald Bank: „Ich habe eine gravierende Beschwerde und würde deshalb gerne einen GENOSSEN DES VORSTANDES sprechen.“ Der Gesichtsausdruck des jungen Bankmitarbeiters erstarrte irgendwo zwischen Unverständnis, Fassungslosigkeit und Entsetzen.

Soweit die Vorrede, nun zur Sache.

Der Titel, mit dem unser heutiger Abend überschrieben ist, „Raiffeisen und Marx: Große Ideen für klein Leute“, könnte beim Einen oder Anderen falsche Erwartungen wecken. Deshalb diese Warnung: So sehr wir bei Karl Marx und Friedrich Wilhelm Raiffeisen auch suchen mögen, eines werden wir dort gewiss NICHT finden: eine bis ins Detail ausgearbeitete Blaupause für die Gesellschaft der Zukunft.

Denn beide waren keine Utopisten, sondern befassten sich primär mit der Realität IHRER Gegenwart. Der eine, Raiffeisen, mit ganz praktischen Hilfen wider die Armut vor allem der Landbevölkerung im Westerwald. Der andere, Marx, war vor allem konzentriert auf die Analyse der Funktionsweise des kapitalistischen Industrialismus‘ seiner Zeit, also des Frühkapitalismus. Marxens Ausführungen zu einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft blieben im vagen Grundsätzlichen: Die proletarische Revolution würde das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen, die Diktatur der entfremdeten Arbeit aufheben und eine Gesellschaft ermöglichen, in der das Prinzip verwirklicht werden könne: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“

Am Rande sei mal auf etwas hingewiesen, das in den meisten populären Urteilen zu Marx gerne übersehen wird: Dieses programmatische Prinzip „JEDER nach seinen Fähigkeiten, JEDEM nach seinen Bedürfnissen!“ zielt im Grunde auf die Befreiung des Individuums, aller menschlichen Individuen, von der Fremdbestimmung durch die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Ökonomie.

Wollen wir konkrete, ja praktische Antworten auf die Frage nach der Gesellschaft der Zukunft, so müssen wir unser eigenes Hirn anstrengen. Leben und Werke der beiden historischen Herren können wir als Anregung für eigene Überlegungen begreifen. Für heute konkrete Lösungen sind bei ihnen nicht abzuschreiben. Um Leben und Werke der zwei als Denkanregungen nutzbar machen zu können, muss man Leben und Werke ein bisschen kennenlernen. Und vor allem diesem Kennenlernen dient mein Vortrag, nicht zuletzt auch dem Vergleich zwischen dem Westerwälder Sozialreformer einerseits und dem aus Trier stammenden Sozialrevolutionär andererseits.
    
Marx und Raiffeisen sind die zwei bis heute weltweit wohl bekanntesten Rheinland-Pfälzer. Beide 1818 geboren, beide 200 Jahre später, also 2018 mit großen Ausstellungen gewürdigt. Die große Trierer Landesausstellung zu Marx wurde im Oktober 2018 beendet. Die Ausstellung über Raiffeisen hier in der Koblenzer Festung Ehrenbreitstein schließt in drei Tagen.

So gesehen, ist unser heutiger Abend quasi der letzte Akt im großen Reigen der Würdigungen und Betrachtungen beider Herren anlässlich ihres 200. Geburtsjahres. Den nächsten Akt gleicher Größenordnung werden die meisten von uns nicht mehr erleben, denn es sind nunmal 49 Jahre bis dahin. 

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Was also verbindet Raiffeisen und Marx? Was trennt sie? Lassen Sie mich fürs Erste vier ganz profane Aspekte anführen.

Erster Aspekt, eine Gemeinsamkeit: Beide lebten zur gleichen Zeit in einer Epoche gewaltiger, grundstürzender Umbrüche in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Sie lebten im Zeitalter der Industriellen Revolution, also des stürmisch sich entwickelnden frühen Kapitalismus. Und sie lebten zugleich im Zeitalter der bürgerlichen Revolution. Friedrich Wilhelm Raiffeisen von 1818 bis 1888, Karl Marx von 1818 bis 1883.

Sie lebten also genau zur gleichen Zeit, sind sich aber nie begegnet, haben  auch mit keinem Wort Bezug aufeinander genommen. Sie kannten sich nicht, haben wahrscheinlich nie voneinander gehört. Dass der wertkonservative Praktiker Raiffeisen je eine Publikation von Marx gelesen hat, ist sehr unwahrscheinlich. Denn Marx war zwar in europäischen Sozialistenkreisen schon zu Lebzeiten recht bekannt. Darüber hinaus kannte ihn aber kaum jemand, von diversen Staatsschutzbehörden mal abgesehen.

Umgekehrt blieb Raiffeisens Wirken doch recht lange ein regionales Phänomen und spielte er in der überregionalen Publizistik überhaupt keine Rolle. Weil Marx‘ Beziehung zur Welt aber vornehmlich aus Lesen und Schreiben bestand, hat er mit ziemlicher Sicherheit über Raiffeisen gar nichts erfahren. Und wenn: Dann hätte er ihn wahrscheinlich als „christlichen Almosenbruder“ abgetan.

Zweiter Aspekt dessen, was die beiden Rheinland-Pfäzer verbindet resp. trennt. Und das ist nun einer der vielen, vielen Unterschiede wie wir sehen werden: Die beiden Zeitgenossen waren in völlig verschiedenen Lebensräumen daheim.
– Bei Raiffeisen waren das: sein kleiner Geburts- und Kindheitsort Hamm an der Sieg, dann Weyerbusch im Westerwald, Flammersfeld im Westerwald und Neuwied-Heddesdorf am Rande des Westerwaldes. Zwischendurch machte er als Soldat noch kurz Station in Köln, Koblenz und Bendorf-Sayn, sowie als Verwaltungangestellter in Mayen.
– Bei Marx waren das die Geburts- und Kindheitsstadt Trier, seine Studienorte Bonn und Berlin, dann die Aufenthaltsorte Paris, Köln, Brüssel, wieder Paris und schließlich London.

Raiffeisen blieb also weitgehend der heimischen Region verhaftet, Marx hingegen zog hinaus in die große Welt – immer wieder auch auf der Flucht vor Nachstellungen durch die preußische Regierung. Und entsprechend sollten auch ihre Lebenswerke ausfallen; was uns zum dritten Faktor führt, der einen weiteren Unterschied markiert.

Dritter Aspekt.  Die gesammelten Marx-Engels-Werke umfassen 44 blaue Bände dieses Kalibers (Kapital I hochhalten: 900 klein und eng bedruckte Seiten; das ist der legendäre Band 23 der MEW = Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, 1. Buch). Selbst wenn man den Anteil von Engels aus den Gesamtwerken (etwa 30 %) herausnähme, bliebe ein gewaltiges schriftliches Marx-Oeuvre.

Raiffeisen hingegen hat nur EIN kleines Büchlein hinterlassen, dazu einige Zeitungsartikel, Briefe, Eingaben, Vortragsnotizen. Alles zusammengepackt käme man nichtmal auf einen halben solchen Band.

Das legt den tatsächlich zutreffenden Schluss nahe: Um die Bedeutung von Marx zu begreifen, muss man vor allem seine Schriften lesen, sich mit seinen Analysen und Theorien auseinandersetzen. Um die Bedeutung von Raiffeisen zu verstehen, muss man vor allem dessen Leben betrachten.

Genau daran aber, am jeweils angemessenen Umgang mit den Zweien, hapert es heute erheblich, wie etwa Umfragen immer wieder bestätigen. Womit wir beim vierten Aspekt der einfachen Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen beiden wären: Ihrem Bekanntheitsgrad und der Art ihrer Bekanntheit in der Gegenwart, also dem Bild, das man sich landläufig von ihnen macht.

Es war Herr Zolk, früherer langjähriger Vorsitzender der Raiffeisen-Gesellschaft, der mich im Frühsommer vergangenen Jahres bei der Pressevorbesichtigung zur Raiffeisen-Ausstellung in Koblenz auf eine interessante deutschlandweite Umfrage aufmerksam gemacht hatte.

Danach haben wir hinsichtlich des öffentlichen Bildes von Friedrich Wilhelm Raiffeisen ein arges Problem: Mehr als 90 % der Befragten hatten von diesem Mann noch nie gehört. Spannend aber ist, dass zugleich mehr als drei Viertel der Befragten den Begriff „Genossenschaft“ kannten UND ihn positiv bewerteten.

Ganz anders, quasi umgekehrt, ist die Situation bezüglich Karl Marx. Standardergebnis seit vielen Jahren bei Publikumsbefragungen nach ihm ist:
Nahezu 100 % kennen den Namen Karl Marx.
Bei der Frage nach dessen Bedeutung fächert sich das Bild dann auf:
– Die einen halten Marx für den Erfinder/Urvater des Kommunismus. Nicht wenige erklären seinen Kommunismus sogar zu einer hübschen Utopie, die aber an den Realitäten (der vermeintlich egoistisch-gierigen Natur des Menschen) zwangsläufig scheitern müsse und bisher immer gescheitert sei.
– Sehr viele andere halten Marx vor allem für den Verursacher/Schuldigen der vorgeblich sozialistischen Diktaturen des 20. Jhdt.

So stehen wir heute vor diesem widersprüchlichen Bild: Marx wird verantwortlich gemacht für negative Entwicklungen lange nach seinem Tod, die m.E. vor allem ein Missbrauch seines Ouevres darstellen und für die er nichts kann. Raiffeisen hingegen wird, weil weithin unbekannt, NICHT VERANTWORTLICH gemacht für nachher positive Entwicklungen, denen seine Ideen und Initiativen manchen Anfangsimpuls gaben.

Ich will versuchen, die eigentliche Bedeutung der zwei Herren  jenseits der volkstümlichen Bewertungen etwas zu erhellen.

Dabei ist eine grundlegende Gemeinsamkeit programmatischer Natur festzuhalten: Beide trieb das aus den Umbrüchen, aus dem „Fortschritt“ ihrer Zeit erwachsende Elend der einfachen Menschen um. Beiden lag eine Veränderung dieser Situation am Herzen.

Beider Umgang damit war allerdings völlig verschieden:
– Der Trierer Marx hatte als primär theoretischer Analytiker vor allem das städtische Proletariat und die Gesamtfunktionsweise des Kapitalismus im Blick. Dessen revolutionäre Abschaffung als weltweites System hielt er für unvermeidlich und auch für wünschenswert.

– Der unter ärmlichen Verhältnissen im Oberwesterwald aufgewachsene Raiffeisen hatte es als Bürgermeister von nacheinander drei hiesigen Gemeinden ganz praktisch mit der Not bäuerlicher Landbevölkerung zu tun. Das Elend der Menschen am Ort hier und sofort zu mildern, war sein zentrales Anliegen. Das war motiviert von christlicher Nächstenliebe,  zielte indes keineswegs auf einen Systemwechsel ab.   

Sowohl die Trierer Landesausstellung zum Marx-Jubiläum wie auch die  Koblenzer Schau zu Raiffeisen machten deutlich: Der Bedarf an und das Ringen um soziale Veränderung entwickelte sich damals zu einer mächtigen Zeitströmung.

Der stürmische Aufwuchs des jungen Kapitalismus brachte zwar nicht, wie im Kommunstischen Manifest prognostizierte „seine eigenen Totengräber“ hervor. Doch mit der um sich greifenden Verelendung großer Bevölkerungsteile entstanden im 19. Jahrhundert kapitalismuskritische, sozialreformerische und revolutionäre Notwehr- und Gegenströmungen zuhauf.

Weshalb die zwei auf ganz unterschiedliche Weise so bedeutenden Männer aus dem Norden des heutigen Rheinland-Pfalz auch nicht die einzigen waren, die in dieser Richtung aktiv wurden. Die Ausstellung in Koblenz beispielweise führt sie mit anderen Reformern/Revolutionären ihrer Zeit zusammen. Darunter der Sozialdemokrat Ferdinand Lassalle, der Sozialkatholik Adolph Kolping, die frühe Frauenrechtlerin Minna Cauer und natürlich Hermann Schulze-Delitzsch, den anderen bedeutenden Frühgenossenschaftler, dem es im Unterschied zu Raiffeisen vor allem um die armen Städter ging.

> Werfen wir nun einen – notgedrungen knappen – Blick auf das Leben und Wirken von Friedrich Wilhelm Raiffeisen.  
Als der anno 1818 zur Welt kam, gehörte der Westerwald größtenteils seit kurzer Zeit, nämlich seit dem Wiener Kongress von 1815, zum Königreich Preußen. Raiffeisens Vater war der erste preußische Bürgermeister von Hamm; er wurde allerdings von der Regierung bald abgesetzt.
Die Gründe sind nicht ganz klar. Mal heißt es wg. „Verstandesschwäche“, mal ist von Trunksucht, mal von schwerer Schwindsucht, also Tuberkolose oder Krebs die Rede.
Die Folge für die Familie ist allerdings: Absturz aus kleinbürgerlich gesicherter Existenz in Armut. Der Vater starb früh, die Mutter war mit 7  Kindern auf sich gestellt – gestützt von Verwandten und Freunden.

Der junge Raiffeisen wurde geprägt von mütterlicher Frömmigkeit, dem protestantischen Pietismus des Großvaters sowie der außerschulischen Bildungs- und Werteerziehung durch seine beiden Taufpaten, den Hammer Pfarrer Seippel sowie den örtlichen Schullehrer Bungeroth.

Letzterer, Bungeroth, war ein Anhänger der Reformpädagogik nach Rousseau. Ersterer, der Pfarrer Seippel, ist eine besonders interessante Type: ein resoluter Mann, den ich mir immer als eine Art protestantischen Don Camillo vorstelle.

Von Pfarrer Seippel ist beispielsweise überliefert: In extremen Notjahren des frühen 19. Jahrhunderts folgte er einem Aufruf von Joseph Görres für die preußische Rheinprovinz, und gründete in Hamm einen Hilfsverein für die Armen. Mehr noch: Eigenhändig hat Seippel den Armenstock in der Kirche aufgebrochen, um den Notleidenden und Hungernden am Ort schnell und unbürokratisch helfen zu können. Dazu muss man wissen: Seit der preußischen Gemeindereform wurde dieser Armenstock vom Staat  in Person des Ortsbürgermeisters verwaltet.

Seippels Motto lautete: Unkonventionelle Wege und keine Kompromisse, wenn es um die Sache der Armen geht. In diesem Sinne prägte er auch den jungen Raiffeisen.

Was mich zu dem Schluss führt, dass Raiffeisens Denken auf drei Säulen basierte:   
1.) Tiefe christliche Frömmigkeit, in deren Zentrum Nächstenliebe und Barmherzigkeit stehen.
2.) Darauf gründend die Selbstverpflichtung zum selbstlosen weltlichen Engagement im Dienste der Armen, Notleidenden und Unterprivilegierten.
3.) Ein Bildungshorizont, der Dank Seippels und Bungeroths privater Förderung, weit über das Niveau der westerwälder Durchschnittsbevölkerung hinausreichte. Das ist bemerkenswert, weil Raiffeisen wegen der Armut der eigenen Familie eine Schullaufbahn übers Gymnasium zum Studium verschlossen blieb. Er durchlief nur die örtliche Volksschule.

Was bleibt einem 17-jährigen Burschen vom Land mit Hirnschmalz und Ambitionen, aber ohne höheren Schulabschluss, in jener Zeit? Eine Laufbahn beim Militär oder in der Verwaltung. Raiffeisen verpflichtet sich zur preußischen Armee und landet bei einer Artilleriebrigade in Köln. Eine durchaus erfolgversprechende Anfangskarriere beim Militär wird indes durch ein Augenleiden jäh beendet.

Das hatte er sich wahrscheinlich bei einer Explosion in der Sayner Hütte zugezogen. 1838 war Raiffeisen als Unteroffizier zur Inspektionsschule im Koblenzer Schloss abkommandiert worden. Dort erfuhr er eine breite technische Ausbildung, die ihm nachher als Bürgermeister im Westerwald zustatten kommen sollte. Schließlich setzte die Armee ihn im Range eines Oberfeuerwerkers zur Qualitätskontrolle für Waffen, Munition und Sprengkörper ein, die in der Sayner Hütte (in Bendorf bei Koblenz) produziert wurden. Dort kam es zu besagtem Arbeitsunfall, aus dem ein lebenslanges Augenleiden hervorging, das Jahre später zur schieren Erblindung führte.

Doch die preußische Verwaltung hatte da bereits ein starkes Interesse an dem hellwachen, engagierten, zuverlässigen jungen Mann entwickelt. Sie ermöglichte ihm eine Verwaltungslaufbahn: Raiffeisen wird erst kommissarischer Kreissekretär in Mayen – dann 1845 zum Bürgermeister von Weyerbusch im Oberwesterwald ernannt.

Welche Lage findet der gerade 26-jährige, von Ideen und Tatkraft übersprudelnde  Neubürgermeister in Weyerbusch vor? Er sieht mit eigenen Augen jene lähmende Armut und Perspektivlosigkeit, die wie „Mehltau über dem Westerwald liegt“. Die Region galt damals als eines der Armenhäuser im Reich.

Es herrschte preußisches Recht im Westerwald und also auch die preußische Agrarverfassung nach der Stein-/Hardenbergischen Reform. Heißt: Die sogenannte „Bauernbefreiung“ war weithin vollzogen, also Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und Fronwirtschaft abgeschafft. Die westerwälder Bauern waren demnach überwiegend „freie, selbstständige Bauern“. Doch „Freiheit“ hieß zugleich: Sie waren nicht nur den Unbilden der Natur (gerade im mageren, kalten Oberwesterwald), sondern auch der Unbarmherzigkeit des Marktes sowie den Fatalitäten des Realteilungserbrechts ausgesetzt.

Die Realteilung führte zu immer kleineren, kaum noch wirtschaftlichen Höfen. Im Westerwald des frühen 19. Jh verfügten die Höfe durchschittlich über weniger als 20 Hektar, viele umfassten nur 8 oder 9 Hektar. Der Markt war zugleich völlig einseitig ausgerichtet: die Bauern mussten einkaufen, konnten aber kaum etwas nach auswärts verkaufen – mussten aber dennoch ihre Staatsabgaben leisten. Folge: Landmangel, Kapitalmangel, Verschuldung bei Wucherern und Viehhändlern. Bald mussten sich zahlreiche Bauernfamilien auf bloße Selbstversorgungswirtschaft zurückziehen.

Raiffeisen erlebt persönlich hautnah bei der Mehrheitsbevölkerung von  Bauern, was Karl Marx im Hinblick auf das Proletariat im selben Jahr 1845 aus einer Untersuchung seines Freundes Friedrich Engels erfährt. Engels zeigt in seinem berühmt gewordenen Bericht über „die Lage der arbeitenden Klasse in England“: der Kapitalismus jener Zeit bringt für große Teile des Volkes vor allem Pauperismus hervor, Verelendung.

Wir werden nachher sehen, dass Marx und Raiffeisen bei der Beschreibung dieses Phänomens gar nicht so furchtbar weit auseinander liegen. Bei der Ursachenanalyse allerdings, ebenso bei den Perspektiven zur Veränderung, stehen dann aber gleich wieder Welten zwischen ihnen.

Für Marx ist Engels‘ akribische Untersuchung der schrecklichen Arbeits- und Lebensverhältnisse der englischen Arbeiterklasse einer der wichtigsten Impulse für die Arbeit am ersten Band seines Hauptwerkes „Das Kapital“.

Während Marx auf der Suche nach den grundlegenden Funktionsmechanismen des Kapitalismus jahrelang tagsüber hunderte von Büchern auswertet und vor allem nachts abertausende Manuskriptseiten vollkrakelt, entfaltet der Bürgermeister von Weyerbusch eine Fülle praktischer Aktivitäten am Ort.

Ich hatte Eingangs gesagt: Um die Bedeutung von Marx zu begreifen, muss man vor allem seine Schriften lesen, sich mit seinen Analysen und Theorien auseinandersetzen. Um die Bedeutung von Raiffeisen zu verstehen, muss man vor allem dessen Leben betrachten.

Bevor wir uns weiter mit Raiffeisens Vita beschäftigen, wird es deshalb nun Zeit, einen Moment in das theoretische Hauptwerk von Karl Marx einzusteigen: Das Kapital – seine große Analyse der ökonomischen Mechanismen des Kapitalismus.

Aber keine Bange, es kommt jetzt keine ellenlange Trockenvorlesung über  die komplexen Funktionsmechanismen der kapitalistischen Ökonomie. Das Marx‘sche Kapital in seinen weitgreifenden Verästelungen und seiner ganzen Bedeutung erhellen zu wollen, müssten wir die Nacht über hier beisammen bleiben und auch die gesamte nächste Woche noch.

Während das „Kommunistische Manifest“ seit seinem Erscheinen 1848 weltweit eine Auflage von etlichen Hundert Millionen erreicht hat, blieb „Das Kapital“ Angelegenheit eines vergleichsweise kleinen Leserkreises. Schon die Startauflage betrug 1867 gerade 1000 Exemplare. Gleichwohl wurde das Buch ein Generationen überspannender Dauerbrenner.  

Viele sind an der Lektüre gescheitert. Noch mehr ließen sich abschrecken von seinem Ruf „unglaublich schwierig“ zu sein. Dem liegt oft die falsche Erwartung zu Grunde, es handle sich beim „Kapital“ um eine Kampfschrift wider den Kapitalismus.

Das ist zwar der Fall, doch ergibt sich der revolutionäre Charakter des Werkes aus seiner systematischen Untersuchung der ökonomischen Funktionsweisen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Kurzum: „Das Kapital“ ist keine populäre Massenschrift, sondern eine wissenschaftliche Arbeit. Nicht umsonst gehörte es bis in die 1980er zu den Standardwerken der Volkswirtschaftslehre. Erst mit der dann einsetzenden Blüte des Neoliberalismus verschwand es weitgehend aus den Universitäten und in der Versenkung.

Für ein wissenschaftliches Werk ist „Das Kapital“ allerdings von bemerkenswerter Lebhaftigkeit, sprachlicher Klarheit und Originalität. Marx untermauert (fast) jeden seiner Analyseschritte nicht nur mit Faktenfülle und akribischen Berechnungen, sondern ebenso mit einer Vielzahl handfester Beispiele und erklärender Bildnisse. Obwohl dadurch über weite Strecken besser verstehbar als manches Traktat anderer Wirtschaftstheoretiker, erst recht vieler Philosophen, bleibt die Lektüre eine Herausforderung.

Im letzten Teil des ersten Bandes sowie in den nach Marx Tod von Friedrich Engels zusammengestellten beiden Folgebänden werden haarklein die komplexen Zusammenhänge aufgedröselt, wie Kapital als bloß noch „Geld heckendes Geld“, also zum Zwecke seiner ewigen Selbstvermehrung, ruhelos um die Welt zirkuliert, allem und jedem seinen Stempel aufdrückt.

In den Anfangskapiteln des „Kapitals“ indes nimmt Marx das scheinbar Selbstverständlichste ins Visier: die Ware – die von Menschen hergestellten Produkte, die Menschen kaufen und verkaufen. Er fragt: Was ist eine Ware und wie bestimmt sich ihr Wert?

Jedes Produkt hat einen Gebrauchswert, doch nicht für jeden Menschen zu jeder Zeit. Für die meisten Städter haben Spaten und Hacke keinen Gebrauchswert, gleichwohl wohnt ihnen ein Wert inne, wie das Preisschild im Baumarkt verdeutlicht.

Wonach bemisst sich dieser Wert und was macht ihrer Natur nach gänzlich unvergleichbare Waren – etwa Spaten und Unterwäsche – wertmäßig doch vergleichbar sowie für den Hersteller rentabel?

Zur Beantwortung dieser Frage lenkt Marx das Augenmerk auf einen Faktor, den ALLE Waren gemeinsam haben: die menschliche Arbeit, die zur Herstellung jedweden Produktes notwendig ist.

Auch Arbeit, genauer: die menschliche Arbeitskraft, sei eine Ware, so Marx. Der Proletarier verkauft sie in Form von Lohnarbeit, der Kapitalist kauft und nutzt sie. Menschliche Arbeitskraft unterscheidet sich aber von allen anderen Waren und Produktonsmitteln dadurch, dass sie mehr Wert schaffen kann als für Herstellung/Erhalt (Reproduktion) ihrerselbst benötigt wird.

Die Beispielrechnungen im „Kapital“ gehen davon aus, dass ein Arbeiter den Gegenwert seines Lohns je nach Produktivität seiner Arbeitsstätte binnen zwei bis fünf Stunden geschaffen hat. Sein Kontrakt aber verpflichtet ihn zu 8 bis 16 Stunden Arbeit täglich. Was er während dieser Mehrarbeitszeit an Werten produziert, ist Mehrwert und wird vollständig von der Kapitalseite vereinnahmt.

Dieser Mehrwert ist die entscheidende Quelle für regulären Profit (im Unterschied zu finanztechnischem Spekulationsprofit). Weshalb der Kapitalseite stets Interesse hat, den Anteil des unbezahlten Mehrwerts zu erhöhen.

Dazu gibt es nach Marx vor allem drei Methoden: 1.) Verlängerung der Mehrarbeitszeit, also Ausdehnung des Arbeitstages oder der Arbeitswoche;  2.) Minderung der Kosten für die Arbeitskraft, also Senkung des Lohns; 3.) Erhöhung der Produktivität.

Alle drei Methoden finden ihre absolute Grenze in der Natur des Menschen: Verhungernde, kranke oder völlig entkräftete Arbeiter sind für die Produktion nutzlos.

Erhalt und Wiederherstellung der Arbeitskraft inklusive Fortpflanzung der Arbeiterfamilie ist das absolute Minimum dessen, was der Arbeitslohn gewährleisten muss. Jedes Quantum mehr ist im Kapitalismus bis hin zu heutigen Tarifkämpfen Gegenstand des permanenten Ringens zwischen Kapital- und Arbeiterseite. Und bei diesem Ringen geht es im Grunde darum, ein wie großer Anteil des Mehrwerts bei seinen Produzenten, den Arbeitern, verbleibt oder aber vom Kapitalisten vereinnahmt wird.

Die hier extrem verkürzte Waren- und Mehrwertanalyse ist das Kernstück des Marx‘schen „Kapitals“. Darin stecken viele weitreichende Implikationen. Etwa, dass ALLE materiellen Reichtümer letztlich aus Arbeiterhand (und Bauernhand) stammen – denn kein Produkt, erst recht nicht das Geld, kann aus sich selbst heraus Mehrwert schaffen. Geld arbeitet nicht.

Woraus sich beispielsweise der Gedanke ergibt, dass das globale Finanz(un)wesen entweder vor allem mit von Arbeitern geschaffenen und ihnen genommenen Werten oder aber mit bloßen Luftblasen spekuliert. Woraus sich auch die Frage ergibt, ob der derzeitige globale Kapitalismus noch bei Trost ist – mit seiner Ausrichtung auf ein Primat des spekulativen Finanzsektors losgelöst von der Deckung durch tatsächliche Wertproduktion.

Schließlich führt das Marx‘sche „Kapital“ auch diesseits revolutionärer Neigungen zwangsläufig zu der Überlegung: Kann ein ökonomisches System, das per se auf ewiges Wachstum angewiesen ist und eine stete Konzentration der von Arbeitern geschaffenen Werten in immer weniger Händen zum Ergebnis hat – kann ein solches System der menschlichen Weisheit letzter Schluss sein?     

So viel in beinahe schmerzlicher Verknappung zum Hauptwerk von Marx. Kommen wir zurück zum Leben und Wirken Raiffeisens.  

Als neuer 26-jähriger Bürgermeister des Westerwaldörtchens Weyerbusch setzt er anfangs zwei Prioritäten:
1. Bau neuer Schulhäuser in Weyerbusch sowie zwei weiteren zu seiner Bürgermeisterei gehörenden Orten, nebst Anwerbung qualifizierter Lehrer. Denn überall waren die Schulen alt, heruntergekommen, von Schimmel befallen – „die Kinder werden dort krank, statt etwas zu lernen“, sagt ein Zeitgenosse. Damit verfolgte Raiffeisen schon damals einen Ansatz, der heute wieder in aller Munde ist: Bildung sei ein entscheidendes Mittel, der Armut zu entkommen.

Zweite Priorität: Er ergreift die Initiative für den Bau einer 60 KM langen befestigten Straße von Weyerbusch an den Rhein nach Neuwied. Der einfache Gedanke dahinter geht so: Man muss den armen westerwälder Bauern einen Zugang zum überörtlichen Markt verschaffen, wo sie ihre Produkte verkaufen können.

Die wichtigsten nächsten Anschlüsse an größere Märkte lagen für Westerwälder Bauern damals wo? Am Rhein. Über die bis dahin primitiven Lehmwege durch den Westerwald kam man dort nur schwer hin oder je nach jahreszeitlichen Verhältnissen gar nicht. Also musste eine Straße her.

Wir können schon hier den zentralen Grundsatz von Raiffeisens praktischem Tun erkennen: Die Bedingungen dafür verbessern, dass die Bauern  überhaupt eine Chance bekommen, aus eigener Kraft am Marktgeschehen teilzuhaben und im Markt besser bestehen zu können.

Deshalb initiiert er ein paar Jahre später als Bürgermeister von Flammersfeld auch den Bau einer zweiten Straße vom Westerwald ins Rheintal, jetzt nach Honnef. Raiffeisen selbst begründet diesen Bauplan in einem Schreiben an die preußische Regierung folgendermaßen:

„Beinahe der einzige Absatzort für unsere Einwohner war bisher Neuwied.  Schon seit längerer Zeit wurden darüber Klagen geführt, dass in Neuwied auf unerhörte Weise die Preise heruntergedrückt, und die armen Landleute genötigt waren, um nicht unverrichteter Sache nach Hause fahren zu müssen, unter ihrem Preise zu verkaufen.“  Um hier Abhilfe zu schaffen, will Raiffeisen die zusätzliche Straße, „um einen zweiten bequemen Absatzweg zu schaffen und so durch Konkurrenz höhere Preise zu erzielen.“

Raiffeisen stellt also nicht das kapitalistische Marktsystem und seine Mechanismen infrage. Er fragt sich vielmehr, wie diese Mechanismen genutzt werden können, um aktuell die Lage der Bauern zu verbessern.

Diese Herangehensweise führt 1846/47 in Weyerbusch zur Gründung einer ersten Vorform Raiffeisen‘scher Genossenschaft: dem sog. Brodverein Weyerbusch.  Die Idee dazu entstand aus einer ganz praktischen Notlage, die sich in jenen Jahren zur regelrechten Hungersnot nicht nur im Westerwald auswuchs.

Meine Damen und Herrn,
sie haben wahrscheinlich schonmal vom irischen Exodus in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre gehört. Damals waren auf der grünen Insel infolge einer Kartoffelkrankheit mehrere Ernten dieses Grundnahrungsmittels ausgefallen. Fast eine Million ärmerer Iren waren verhungert und mindestens noch einmal so viele Hungerflüchtlinge von Irland in die USA ausgewandert. Das Inselland hatte auf diese Weise innerhalb eines knappen Jahrzehnts rund ein Drittel seiner Bevölkerung verloren.

Genau diese Krise spielte sich zur selben Zeit auch im Westerwald ab. Zwei extrem harte Winter und schlechte Sommer hintereinander, dazu auch hier die besagte Kartoffelkrankheit: Die Selbstversorgungswirtschaft der kleinen Bauern brach zusammen, die ohnehin mageren Vorräte waren rasch aufgebraucht. Die Menschen mussten ihr Saatgut fürs Folgejahr essen – bevor dann vollends der blanke Hunger das Regiment übernahm.

Wie Irland, so erlebt damals auch der Westerwald eine massive Auswanderungswelle von Armuts- und Hungerflüchtlingen. Ein Teil emigiriert nach Übersee, ein anderer Teil landet in den aufstrebenden Industriezentren an Rhein und Ruhr – wo die verarmten Bauern als neue Proletarier vom Regen in die Traufe geraten.

In dieser Situation richtet Bürgermeister Raiffeisen ein dringliches Ersuchen an die preußische Regierung, eilends Getreide für die Hungernden herzuschicken. Und tatsächlich gibt Berlin dem Ersuchen statt und liefert Getreide in den Westerwald – allerdings verbunden mit einer völlig absurden Bedingung: Das Korn dürfe nur gegen Barzahlung ausgegeben werden. Wenn aber die armen Bauern hier eines gewiss nicht hatten, dann war es Bargeld.

Und nun verfährt Raiffeisen, wie es Jahre zuvor sein Mentor Pfarrer Seippel in Hamm getan hatte: Er setzt sich zugunsten der Hungernden hemdsärmelig über die ausdrückliche Anordnung der Regierung hinweg: Bürgermeister Raiffeisen gibt das Getreide gegen Schuldscheine aus.

Dann gründet er den Brodverein, in dem sich die etwas wohlhabenderen Dörfler zusammentun, um mit ihren Barmitteln einen Fond zu bilden, aus dem das Regierungsgetreide bezahlt wird. Zugleich dient dieser Fond als Bürgschaft für Kredite, um weitere Getreidelieferungen zu kaufen.

Zudem gibt der Brodverein auf Kredit Saatkartoffeln an die Bedürftigen aus. Auf dass sie die Chance bekommen, im Folgejahr wieder eine Ernte einzufahren – und nach Überwindung der ärgsten Not auch ihre Schulden beim Brodverein zu begleichen.

Und siehe: Die Sache funktioniert. Damit war die Saat für das Raiffeisen‘sche Genossenschaftswesen gelegt. Schon drei Jahre später geht Raiffeisen als neuer Bürgermeister von Flammersfeld, wie gesagt, sogleich den Bau der zweiten Straße ins Rheintal an – und er gründet, in Anlehnung an den Brodverein Weyersbusch, im Dezember 1849  den „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“ (und Handwerker).

Hauptzweck dieser Vereinigung ist es, die Bauern aus den Klauen der Wucherer zu befreien. Auch in diesem Hülfsverein geben die besser Betuchten ihr Geld in eine Gemeinschaftskasse. Damit werden Kühe und Kälber gekauft, die auf Kredit an die Bauern weitergeben werden. Die haben dann 5 Jahre Zeit für die Bezahlung des Viehs, was den Wucherern erheblich das Geschäft verdirbt.

Das Wuchererunwesen muss in jener Zeit, da es auf dem Land keine Banken gab, eine furchtbare Plage gewesen sein. Hören wir dazu einen Absatz aus Raiffeisens Rede auf der Gründungsversammlung des Flammersfelder Hülfsvereins:
„Auch in unserem Amtsbezirk befinden sich unter der armen, ausgesogenen Bevölkerung Giftpflanzen, Wucherer, welche sich ein Geschäft daraus machen, die Not ihrer Mitmenschen in herzlosester Weise auszunützen. Wie das gierige Raubtier auf das gehetzte und abgemattete Wild, so stürzen sich die gewissenlosen und habgierigen Blutsauger auf die hilfsbedürftigen und ihnen gegenüber wehrlosen Landleute, deren Unerfahrenheit und Not ausbeutend, um sich allmählich in den Besitz ihres ganzen Vermögens zu setzen. Eine Familie nach der anderen wird zugrunde gerichtet.“

Es ist leicht vorstellbar, dass die besser Betuchten nicht eben mit Hurrageschrei ihr Geld in die Kassen von Brodverein und Hülfsverein getragen haben. Dazu bedurfte es reichlich kräftiger Überzeugungsarbeit. Zumal Raiffeisen ihnen bald etwas zumutete – das heute schier unvorstellbar ist: Die wohlhabenden Vereinsmitglieder mussten mit ihrem Gesamtvermögen für die Finanzaktivitäten des Vereins bürgen.

So erfolgreich Raiffeisen – mit der gewichtigen Unterstützung von etlichen Pfarrern beider Konfessionen – anfangs an die Christenpflicht auch und gerade der Bessergestellten zu Nächstenliebe und Barmherzigkeit appelliert hatte: Beim Einsatz des eigenen Gesamtvermögens hörte für viele die Nächstenliebe bald auf.

Weshalb Raiffeisen nachher als Bürgermeister von Heddesdorf mit diesem Prinzip beim dort von ihm gegründeten Wohlfahrtsverein auch Schiffbruch erlitt: Die Wohlhabenden dort sind zu weiteren Anleihen, für die sie mit ihrem Privatvermögen bürgen, einfach nicht mehr bereit. Es kommt zu einer dramatischen Vereinsversammlung, in der Raiffeisen zornig erklärt: „Wenn Sie nicht mehr mittun wollen, meine Herren, dann gehe ich hinaus an die Landstraßen und Zäune und hole mir die Blinden und Lahmen“.

Mit diesem biblischen Verweis läutet Raiffeisen die Geburtststunde seiner eigentlichen Genossenschaften ein: die solidarische Gemeinschaft von Bauern, Handwerkern, minderbetuchten Kleinproduzenten zwecks gegenseitiger Finanzunterstützung zur Selbsthilfe. Unter der Parole „Was einer nicht schafft, schaffen viele“ entstehen als Vorläufer der Genossenschaftsbanken die Darlehens-Vereine und werden zu einem rasch zahlreich nachgeahmten Modell in ganz Deutschland und drumherum.

Raiffeisens Prinzipien der Genossenschaftsarbeit:
a) Jeder Verein ist örtlich organisiert; die Mitglieder sollen sich persönlich kennen. (= soziale Kenntnis und auch Kontrolle)
b) Alle Kreditnehmer müssen Mitglieder sein. Solidarhaftung, Kollektivrisiko = schweißt zusammen.
c) Vereinsmitglieder bürgen mit eigenem Vermögen = einer für alle, alle für einen > Folge: äußerste Vorsicht bei Kreditvergabe. Folge: Zu Raiffeisens Lebzeiten bricht kein einziger Verein aus finanziellen Gründen zusammen.
d) die Genossenschaft ist kein Almosenverein, sondern baut auf Eigenverantwortung, Selbstverwaltung, Solidarität zwecks Hilfe zur Selbsthilfe.
e) die Vereinsarbeit ist ehrenamtlich.
f) Es gibt keine Gewinnausschüttung an Vereinsmitglieder – Genossenschaftsgewinn geht ggf. an Sozialfonds. = Tür zu für Kapital- und Profitspekulation im Genossenschaftswesen.    

1859 wütet am Mittelrhein die Ruhr. Raiffeisen engagiert sich in der Krankenpflege und steckt sich an. Seine Frau stirbt nach schwerer Krankheit, er steht nun mit vier unmündigen Kindern allein da. Sein Augenleiden verschlimmert sich, er geht der Erblindung entgegen.

1865 wird der 47-jährig Raiffeisen mit sehr mageren Bezügen aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. 1866 erscheint dann Raiffeisens einziges Buch unter dem etwas umständlichen Titel: „Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Not der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter. Praktische Anleitung zur Bildung solcher Vereine, gestützt auf sechzehnjährige Erfahrung als Gründer derselben.“

Das Werk fand ziemlich weite Verbreitung. Sein immer gebrechlicher werdender Autor war quer durch die deutschen Lande ein viel gefragter Referent und Berater in Sachen Darlehensverein und Genossenschaft.

Am 11. März 1888 stirbt Raiffeisen. In seinen letzten Jahren war er bei seinen Vorträgen schon „Vater Raiffeisen“ genannt worden. Oft hatte man seine Reden auch als „Predigten“ bezeichnet und ihn nicht mehr für ganz voll genommen. Denn die christliche Motivation verwandelte sich beim alten und gebrechlichen Raiffeisen zusehends in religiösen Rigorismus. Er verstand die Genossenschaft zuletzt als christliche Lebensgemeinschaft, als Brüdergemeinde am Ort. Am Ende propagierte er eine Kommunität innerhalb der Genossenschaften, eine Art Orden selbstloser Kader, „die also leben müssen wie die Apostel“: Ehelos, frei von Privatbesitz, Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten, arbeitsam.
Diese letzte Phase von Raiffeisens Engagement spielte dann, verständlich, keine Rolle mehr.
 
In den Jahrzehnten zuvor, während denen sich die Genossenschaften nicht nur in Deutschland Landen ziemlich schnell verbreiteten, hatte man interessanterweise in Berlin die politisch-gesellschaftlichen Veränderungspotenziale der Genossenschaftsbewegung womöglich deutlicher verstanden als der Christenmensch Raiffeisen. Bismarck selbst erklärte voller Sorge: „Die Darlehensvereine sind die Kriegskassen der Demokratie; sie müssen unter Regierungskontrolle gestellt werden.“

„Kriegskassen der Demokratie“, das ging an Raiffeisens Ansinnen völlig vorbei – auch wenn der immer wieder mit der „erwerbenden Klasse“, wie er die Bourgeoisie seiner Zeit nannte, geharnischt ins Gericht ging.

Im Vorwort zu seinem Buch schreibt er etwa (ich verkürze es etwas):
„Dank dem ungeheuren Aufschwung der Industrie und des Handels ist die Menge und Mannigfaltigkeit der Kulturgüter auf eine Höhe gebracht, von der man sich in früheren Zeiten nichts träumen ließ. Zugleich wird  der Kampf ums Dasein mit einer früher ungekannten Heftigkeit und Rastlosigkeit geführt; die industrielle Produktion ringt mit atemloser Hast im Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Unter der erwerbenden Klasse herrscht weithin eine wilde Jagd nach Mehrerwerb und Mehrbesitz…“  

Das mag manchen hier im Saal an etwas erinnern: Ja genau, an die Passagen aus dem Kommunistischen Manifest über die Herstellung des Weltmarktes und den Siegeszug der großen Industrien; über die Anhäufung gewaltiger Kapitalien in den Händen einer neuen herrschenden Klasse, der Bourgeoisie; und manches mehr.

Raiffeisen spürte, beklagte und fürchtete, was Marx und Engels im Kommunistischen Manifest über die Eigengesetzlichkeit des aufstrebenden Kapitalismus analysiert haben: „Die Bourgeoisie, wo zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als die gefühllose bare Zahlung.“

Bei Raiffeisen wird daraus die Klage über Geldgier sowie maßlose und unchristliche Verschwendung auf Seiten der Reichen. Und er ist überzeugt davon, es sei nötig, „dass dem Arbeiterstand von der besitzende Klasse in religiöser Beziehung ein besseres Vorbild gegeben, vor allen Dingen auch tatsächlich hilfreiche Hand zum Emporkommen gereicht wird.“  Denn nur so kann, meint Raiffeisen weiter, der stetig wachsende Einfluss „der Partei der sozialen Revolution eingedämmt und einer gewaltsamen Umwälzung vorgebeugt werden“.

Christliches Vorbild soll die besitzende Klasse nach Raiffeisen sein und den Arbeitern im Sinne der Nächstenliebe und Barmherzigkeit hilfreich die Hand geben. Über diese Vorstellung hätte Marx wohl nur schallend gelacht, aber ernsthaft angemerkt: Die systemischen Mechanismen und Gesetze der kapitalistischen Mehrwertproduktion und der Kapitalakkumulation kennen per se keine Moral, keine Ethik, keine Religion. Und selbst wenn ein Kapitalist sein Unternehmen als philantropische, menschenfreundliche Anstalt in den globalen Wettbewerb führen wollte, er würde in der Konkurrenzmetzelei einfach untergehen.

So hätte Marx wahrscheinlich gesprochen und hinzugefügt: Warum sollten ausgerechnet diejenigen, die mit ihrer Arbeitskraft ALLE Reichtümer der Gesellschaft herstellen, auf den guten Willen und die Almosen der Industrie- und Finanzbarone, der Coupon-Schneider und Aktionäre hoffen. Nein, werter Raiffeisen, würde Marx sagen, Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind dem Kapitalismus wesensfremd. Denn er kennt aus sich selbst heraus nur eine einzige Maxime: Vermehrung des Profits. Wogegen am Ende auch nur eines wirklich helfen wird: die Expropriation der Expropriateurs, also die Enteignung der Kapitalbesitzer, die den Arbeiter enteignen, indem sie sich den von ihm geschaffenen Mehrwert aneignen.

Marxens Lösung ergibt sich quasi zwangsweise: die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bringen den Kapitalismus selbst an seine Grenzen – weil sie sich am Ende selbst im Wege stehen, mehr Schaden anrichten als nützen, und der Menschheit keine Perspektive mehr für gedeihlichen Fortschritt zu bieten haben.

Also müssten die Eigentumsverhältnisse grundlegend umgewälzt werden, um eine Gesellschaft bilden zu können, in der die Entfremdung der Arbeit für das Individuum aufgehoben wird und das Gemeinwohl im Zentrum des gesellschaftlichen Tuns steht.

Marx meinte, diese revolutionäre Veränderung käme wg. bald mengenmäßiger Dominanz und fortschreitender Verarmung des Proletariats zwangsläufig (und zeitnah). Er hatte weder mit der Kraft der Arbeiterbewegung zur Erstreitung sozialer Reform gerechnet, noch mit der ungeheuren Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus.  

Meine Damen und Herrn,
ich will hier nicht der heute weit verbreiteten Unsitte folgen, Karl Marx zum SozialREFORMER zu verharmlosen. Das war er nicht. Sein Denken und Streben war auf die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus ausgerichtet.

Dies aus der analytischen Erkenntnis heraus: Wenn man den Kapitalismus einfach ungehindert laufen lässt, wie es etwa der moderne Neoliberalismus möchte, dann würde es nicht nur den Arbeitern schlecht ergehen. Der Kapitalismus würde in seinem systemisch blindwütigen Streben nach Profit seine eigenen Existenzgrundlagen angreifen, ja die Existenzgrundlage der Menschheit als ganzes gefährden.

Und genau das ist, was wir gegenwärtig erleben – einerseits in Form der ständigen Beddrohung durch einen globalen Finanzzusammenbruch, andererseits in Form der heraufziehenden ökologischen Globalkatastrophe.

Womit ich beim Schlussteil meiner Ausführungen angelangt wäre (aber noch nicht am Schluss), und einigen Bemerkungen über das, was uns Marx und Raiffeisen heute noch bedeuten können oder könnten.

Bleiben wir noch einen Moment bei Marx:
– Dank seiner Offenlegung der ökonomischen Systemmechanismen des Kapitalismus wissen wir/könnten wir wissen: Das Kapital tut FREIWILLIG immer nur das, was seiner eigenen Vermehrung nutzt. Das hat laut Marx mit Moral überhaupt nichts zu tun, sondern ist eine dem Kapitalismus innewohnende objektive Gesetzmäßigkeit.

Daraus folgt nach Marx: Jedwede Lebensverbesserung über die einfache Existenzsicherung hinaus, sei es für die arbeitenden Individuum oder das Gemeinwohl, muss letztlich GEGEN das Kapital erstritten werden und/oder ihm per Staatsgesetz auferlegt werden. Wieviel Wahres daran bis heute ist, möge jeder selbst beurteilen.

Die Politik allerdings, die will weithin diesen Zusammenhang nicht, oder nicht mehr wahrhaben. Was übrigens in der frühen Bundesrepublik noch ganz anders war. Die Forderung nach Verstaatlichung der Schwer- und Schlüsselindustrien sowie der Banken stand in den ersten Nachkriegsjahren sogar in den Programmen einiger CDU-Landesverbände.

– Dank der Marx‘schen Betrachtungen könnten wir wissen: Selbst dem einfachsten Hilfsarbeiter gebührt Achtung und Respekt. Denn er oder sie schafft im Räderwerk des Gesamtproduktion stets einen Mehrwert, der über die eigene Entlohnung hinausgeht. Was man von manchem Manager, erst recht von Finanzspekulanten nicht behaupten kann. Die Unsummen, die diese Herrschaften einstreichen oder mit denen sie an der Börse spekulieren, stammen letztlich aus von Arbeitern geschaffenem Mehrwert – oder es sind reine Luftnummern, hinter denen gar kein Wert steht, und die der Allgemeinheit deshalb früher oder später um die Ohren fliegen.

–  Dank der Marx‘schen Analyse könnten wir auch wissen: Es bedarf bewusster politischer und gesellschaftlicher Anstrengungen, um den Zugriff des Kapitals auf sämtliche Sphären der Gesellschaft bis hinein in die letzte Pore auch des Privatlebens einzugrenzen oder zu unterbinden.

Krankenhäuser und Altersheime, Schullehrpläne und Studiengänge, Kultur und Sport, unsere private Freizeit und unsere private Kommunikation: All das und sowieso die gesamte öffentliche Infrastruktur werden zusehends in Geschäftsmodelle verwandelt, dem Zwang zur Profitabilität unterworfen oder nach dem Nutzen für die Wirtschaft beurteilt. Marx würde sich darüber nicht wundern, und Raiffeisen wäre wahrscheinlich hell entsetzt über das, was da heutzutage vor sich geht.

Kommen wir zu Raiffeisen und seiner Bedeutung für das Heute.        
Schon zu seiner Zeit zeichneten sich etliche unterschiedliche Entwicklungen des Genossenschaftswesens ab, die sich nachher zu richtiger Blüte und beträchtlicher volkswirtschaftlicher Bedeutung entwickelt haben.

a) Die Raiffeisen‘schen Darlehensvereine, aus denen schließlich die Volks- und Raiffeisenbanken hervorgegangen sind.

b) Konsumgenossenschaften, die durch kollektiven Wareneinkauf in größeren Mengen ihren Mitgliedern günstigere Einkaufsmöglichkeiten bieten konnten. REWE und EDEKA haben (hatten) dort ihre Wurzeln.

c) Einkaufs- und Vermarktungsgenossenschaften als Zusammenschlüsse von Bauern und/oder Handwerkern. Im großen etwa RAIFFEISEN oder BAYWA.
Auch im Kleinen sprießen sie seit etlichen Jahren überall wieder, und es gibt auch hier in der Umgebung einige davon.
 
d) Wohnbaugenossenschaften, die dem sozialen Wohnungsbau und sozialverträglichen Mieten verpflichtet sind. Das ist eine Form, die beim Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg von entscheidender Bedeutung war. Und jetzt gerade erleben hierzulande Wohnbaugenossenschaften vorerst noch im Kleinen eine neue Blüte. Angesichts der aktuellen spekulativen Wohnraumkrise wird diese Genossenschaftsform in den nächsten Jahren wohl noch einen richtigen Boom erleben.

e) Produktionsgenossenschaften entweder als Zusammenschluss mehrerer Kleinproduzenten oder auch als Arbeitervereinigung, die einen Betrieb in die eigene Hand nehmen.

f) Damit eng verwandt und heute besonders auf dem Vormarsch: Genossenschaften als solidarisch-kollektive Wirtschaftsweise alternativ zur dominanten kapitalistischen Profitwirtschaft. Die Koblenzer Raiffeisen-Ausstellung etwa stellt in ihrem Schlussteil unter dem Stichwort „ökologisch-solidarische Gemeinwohlwirtschaft“ mehrere jüngere Ansätze solch alternativer Wirtschaftsweisen vor.

g) Jüngst neu in die Diskussion gekommen sind genossenschaftliche Organisationsformen als Mittel gegen den Ärzteschwund auf dem Land. Überhaupt als Mittel gegen das infrastrukturelle Ausbluten des ländlichen Raumes. (zB genossenschaftliche Läden, Wirtshäuser, Generationenübergreifende Wohnmodelle).

Einige dieser und viele andere nachher entstandene Genossenschaftsformen rund um die Welt haben sich ziemlich weit entfernt von Raiffeisens Darlehensgenossenschaft. Gleichwohl bauen sie in großer Zahl auf dessen Grundidee von der solidarischen Gegenseitigkeit zum Wohle von Gemeinschaften auf.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass sich leider manches ursprünglich oder noch immer genossenschaftlich strukturierte Unternehmen in seinem Gebaren und seiner Wirtschaftsweise kaum noch oder gar nicht mehr von gewöhnlichen kapitalistischen Unternehmen unterscheidet. Das gilt vor allem für einige Banken und Handelsketten.

Dennoch dürfen heute genossenschaftliche Organisationen als alternatives Erfolgsmodell weltweit gelten. Ihre Attraktivität gerade zur Verbesserung der Lebenslage der Armen und kleinen Leute ist insbesondere in Asien, Lateinamerika und Afrika gewaltig. Die übergroße Mehrheit der knapp 1 Milliarde Genossenschaftsmitglieder weltweit werden auf diesen drei Kontinenten verzeichnet.

Auch Deutschland hat auf diesem Feld beeindruckende Zahlen zu bieten: Anno 2015 hatten hier 7950 genossenschaftliche Unternehmen zusammen 22 Millionen Mitglieder.

Meine Damen und Herrn, Genosinnen und Genossen: Summa summarum.

– Was hat die Erblinie von Friedrich Wilhelm Raiffeisens Genossenschaftsidee fürs Heute zu bieten?
Ein niederschwelliges Angebot, das unterhalb des revolutionären Systemumsturzes, für manche Leute mancherlei Möglichkeiten des Lebens und/oder Arbeitens jenseits des kapitalistisch-industriellen Mainstreams eröffnet.

– Was kann uns Karl Marx für heute noch nützen?
Die Beschäftigung mit ihm kann den kleinen Arbeitsleuten die Würde und das Selbstbewusstsein zurückgeben, dass SIE das eigentliche Fundament unseres Gemeinwesens sind.

Marx kann uns helfen besser zu begreifen, wie und warum die kapitalistische Welt funktioniert wie sie funktioniert – und zugleich zu begreifen: Solange es Kapitalismus gibt, ist es unumgänglich, dass die Lohnabhängigen sich gemeinschaftlich organisieren und für ihre Interessen streiten. Andernfalls das Kapital IMMER Mittel und Wege findet, sich einen größeren Anteil unbezahlten Mehrwerts einzuverleiben und die gesamte Gesellschaft mit seinem Verwertungsmechanismen zu verseuchen.

Wenn wir uns die aktuellen Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit einer ökologischen Wende sowie um die Notwendigkeit einer sozialen Wende betrachten, ergibt sich an vielen Stellen ein seltsames Bild, über das Marx nur den Kopf schütteln würde: Die eine Wende wird nämlich gegen die andere ausgespielt.

Da heißt es etwa im Gesellschaftsdiskurs: Ökologische Wende (Klimaschutz, Öko-Landwirtschaft, Verkehrswende etc.) sei nur eine Sache für Wohlstandsbürger, die aber von allen bezahlt werden müsste. Der ärmere Teil der Bevölkerung hätte ganz andere Sorgen (Hartz IV, Armut, Altersarmut, Pflegenotstand etc.). Marx würde sagen: Es existiert objektiv gar kein Widerspruch zwischen beiden Problemfeldern, den gibt es nur in euren Köpfen.

Und weiter würde er sagen: Ausgehend von dem Faktum, dass seit Menschen Gedenken jede Gesellschaft definiert wird durch die Struktur ihres ökonomischen Unterbaus, haben beide aktuellen Problemfelder diesselbe Ursache: Im Kapitalismus ist das das permanente Bestreben alles  und jeden in sich ständig vermehrendes Kapital zu verwandeln – hier die Natur allumfassend in einen Ressourcensteinbruch für die Warenproduktion, da den Menschen in immer flexibleres und mobileres Humankapital.

Im Grunde ergibt sich daraus für die Alternativensuche auf beiden Problemfelder die Forderung nach ein und demselben Paradigmenwechsel – eine Forderung, die ein Raiffeisen heute wahrscheinlich aus christlichem Verständnis ebenfalls unterschreiben würde: Mensch und Natur haben nicht der Ökonomie zu dienen, sondern die Ökonomie dem Menschen und der Naturbewahrung.       

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ermutigt uns die Beschäftigung mit Marx, auch mal utopistisch über den Tellerrand hinauszudenken. Mal der Frage nachzugehen, ob wir beim wildwüchsigen Kapitalismus bleiben wollen oder ob es womöglich vernünftige Alternativen zu diesem System geben könnte und welche.

Und an dieser Stelle treffen sich dann die Marx‘sche und die Raiffeisen‘sche Linie. Denn Otto von Bismarck hatte das tendenziell schon ziemlich richtig gesehen: Wie die Darlehensvereine Kriegskasse der Demokratie hätten sein können, so steckt in den Genossenschaften generell allerhand Potenzial – für ein breites Spektrum denkbarer, auf Gemeinsinn und Solidarität beruhender Alternativen zur rein dem Profit verpflichteten kapitalistischen Wirtschaftsweise.

Meine Damen und Herrn, ich bin nun fast am Ende meiner Ausführungen. Eine sehr wichtige Sache allerdings bleibt noch. Ich habe die ganze Zeit über zwei bedeutende Männer gesprochen. Es muss aber unbedingt auch an die zwei Frauen im Hintergrund erinnert werden, ohne die Marx und Raiffeisen wahrscheinlich nie zu solcher Bedeutung gelangt wären.

Bei Raiffeisen war es die Tochter Amalie, die bald nach dem Tod ihrer Mutter die Regie über die häuslichen Obliegenheiten übernahm – und mehr oder minder freiwillig die gesamten Schriftarbeiten ihres Vaters besorgte und sich um die Organisation seiner Vortragsreisen kümmerte. Der moralische Druck war groß, den der alte Raiffeisen auf die junge Frau ausübte, die über den Tod Raiffeisens fats ihr ganzes Leben in den Dienst am Vater und seinem Schaffen stellte.

Wir wissen über Amalie Raiffeisen relativ wenig. Das ist bei Jenny Marx, geborene von Westphalen, anders. Der Ehefrau von Karl Marx sind eine ganze Reihe von Publikationen gewidmet. Denn für sie gilt, was Marxens jüngste Tochter Eleanore 1895 so formulierte: „Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, ohne Jenny von Westphalen hätte Karl Marx niemals der sein können, der er war.“

Und die Biografen geben ihr recht. Ohne Jennys  ordnende und leitende Hand ebenso über den Haushalt wie auch über die stete Flut der Schreiberei ihres Gatten, hätte sich Marx wohl bald zwischen den banalen Grunderfordernissen des Lebens, ungebärdigem Forscherdrang und überbordender Produktivität verlaufen. Denn er war zwar unzweifelhaft einer der klügsten Köpfe seiner Zeit und in seinem Metier ein ungeheuer fleißiger Intellektueller, doch lebenspraktisch war er nicht und im Geldbeutel schlug sich seine Schaffenswut kaum nieder.  

Die meiste Zeit war im Haushalt von Jenny und Karl Schmalhans Küchenmeister oder herrschte blanke Not. Gleichwohl wird Jenny von Zeitgenossen als lebensfrohe und humorige wie durchaus bissige, selbstbewusste, in politischen Angelegenheiten auch überaus kundige und kritische Person beschrieben. Damit wird das Bild unterstrichen, das man sich heute realistischer Weise von dieser Frau macht. Ja, sie war liebende, treusorgende, hingebungsvolle Gattin an Marx‘ Seite; zugleich war sie seine Sekretärin, Assistentin, Lektorin und intellektuelle Gefährtin. Bei mancher Versammlung im Pariser oder Brüsseler Exil ergriff sie als einzige Frau das Wort und vertrat als selbst überzeugte Sozialistin eigenständige Positionen. Sie allein konnte aus Marx‘ kaum zu entziffernden Krakelblättern lesbare, geordnete und schließlich druckbare  Manuskripte machen – nicht zuletzt, weil sie nach endlosen, oft strittigen Diskussionen mit dem Ehemann wirklich verstanden hatte, was der sagen wollte.

Lassen Sie mich deshalb schließen mit einem ganz kurzen privat-biografischen Blick auf das junge Marx-Paar: Karl und Jenny kannten sich von ihrer Trierer Kindheit an. Vater Marx war dort Anwalt, Ludwig von Westphalen preußischer Regierungsrat von liberalem Geist, der seiner Tochter eine ausgezeichnete Bildung zuteil werden ließ. Die jugendliche Jenny galt als das „schönste Mädchen Triers“ und genoss den Ruf einer stets strahlenden und vortrefflich tanzenden „Ballkönigin“.

Doch früh schon setzte sie ihren eigenen Kopf durch. Etwa als sie 1831 den zwar standesgemäß reizvollen Verlobungsantrag eines indes wohl ziemlich langweiligen Leutnants Karl von Pannewitz rundweg ablehnte – sich indes 1836 mit dem eben erst sein Studium in Bonn beginnenden fast mittellosen Karl Marx heimlich und ganz unstandesgemäß verlobte. Geheiratet haben die beiden nach siebenjähriger Verlobungszeit am 19. Juni 1843 in Bad Kreuznach; Karl war da 25 Jahre alt, die vormalige Baronin Jenny von Westphalen 29.

Das war‘s von mir. Danke für ihre Aufmerksamkeit.

 

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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