Sind die Volksparteien ein Auslaufmodell? Diese Frage passt trefflich zur Situation im deutschen Februar 2020. Ich hatte sie allerdings schon anno 2008 als Überschrift formuliert für meinen Zeitungskommentar zum Ergebnis der damaligen Landtagswahl in Bayern. Die seinerzeitige Einschätzung passt noch immer. Geirrt habe ich nur in einem Punkt: Ich hatte vor zwölf Jahren das Entstehen einer „bürgerlich-konservativen“ Partei rechts von der Union prognostiziert. Dass es eine tendeziell faschistische Partei werden könnte, lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Hier der Artikel von 2008:
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ape. Für den Moment ist das Ergebnis der Bayernwahl im Freistaat wie im Bund natürlich aufregend. Was die längerfristigen Entwicklungen angeht, bestätigt diese Wahl jedoch nur den vorherrschenden Trend: Die Erosion der beiden Volksparteien schreitet voran. Was die Frage aufwirft, ob Union und SPD nur vorübergehend etwas indisponiert sind, oder ob die politischen Großtanker sich vielleicht überlebt haben.
Bayern hat erwartungsgemäß gewählt, bloß dass die Ausschläge heftiger waren als vorausgesagt. Verlierer sind CSU und SPD. Gewinner sind die kleinen Parteien. Was für Bayern eine harsche Zeitenwende darstellt, passt im Ergebnis genau in die allgemeine Entwicklung der deutschen Parteienlandschaft. Seit Jahren heißt es dort: Die Großen verlieren, die Kleinen gewinnen. So völlig aus dem Nichts kommt übrigens auch der Umbruch im Freistaat keineswegs. Die Wahlprozente für die CSU bröckeln schon eine Weile stetig, freilich von einem exorbitant hohen Ausgangsniveau aus.
Es hat in Bayern nur etwas länger gedauert bis zur deutschen Normalität. Dafür machen die Weiß-Blauen jetzt gleich zwei Schritte auf einmal – und könnten so zum Vorreiter für die Republik werden. Denn mit den jetzigen Landtagswahlen ist nicht nur die absolute Mehrheit der CSU perdu, sondern hat sich zugleich ein Sechs-Parteien-System etabliert: Zu CSU, SPD, FDP und Grünen kommen die Freien Wähler und „Die Linke“. Bei der Lafontaine-Partei ist weniger ihr Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde bedeutsam als vielmehr der Umstand, dass sie in Bayern auf Anhieb 4,3 Prozent einfahren konnte.
1983 kam die vierte Partei
Wollte man einen Starttermin für die sich anhaltend intensivierende Tendenz zur Schwächung der großen Volksparteien und Auffächerung der Parteienlandschaft setzen, es müsste die Bundestagswahl 1983 sein. Damals zogen die Grünen als vierte Partei ins Nationalparlament ein, sieben Jahre später folgte mit der PDS die fünfte. Beide Gruppierungen wurden in ihren jeweiligen Anfangsjahren von den Alt-Parteien als „vorübergehende Erscheinungen“ betrachtet. Ein Fehlschluss, wissen wir heute, da beide – ob angefeindet oder umworben – als stabile Faktoren mit parlamentsrelevanten Wählerschaften dem politischen Gesamtdeutschland zuzurechnen sind.
Bayern hat mit den Freien Wählern (FW) nun eine sechste Landespartei. Das Problem mit dieser Gruppierung ist, dass sie sich nicht einfach links oder rechts der CSU verorten lässt. Vielmehr vereint sie Unvereinbares. Die ehemalige CSU-Rebellin Gabriele Pauli steht für eine eher modernistisch-liberale Strömung. Zahllose FW-Vertreter im gebirgigen Hinterland haben der CSU aber den Rücken gekehrt, weil sie echten urbayerischen Wertkonservatismus bei den Nachfahren von Franz Josef Strauß nicht mehr vertreten sahen. Die FW sind Sammelbecken für beide – weshalb die Gruppierung sich alsbald wieder wird auseinander sortieren müssen. Es hängt von der weiteren Entwicklung der CSU ab, ob dann zuerst in Bayern eine bürgerlich-konservative Partei rechts der Union entsteht oder erst später anderswo.
Über kürzer oder länger dürfte sie indes auch im Bund kommen, die sechste Partei. Denn Angela Merkels Spagat, die große CDU radikal zu modernisieren, sie zugleich als Heimat eines Adenauer’schen Konservatismus auszugeben, kann auf Dauer nicht funktionieren. Womit wir bei der Frage wären: Sind die Großparteien nicht sowieso außer Stande, unter der fadenscheinig gewordenen Decke „politischer Milieus“ oder „längerfristiger Grundüberzeugungen“ heftig sich widersprechende Positionen zu vereinen? Die SPD muss die marktliberale Ausrichtung der Agenda 2010 und jüngst im Volke wieder zu Ansehen gelangte sozialstaatliche Grundwerte unter einen Hut bringen. Das mag auf Glanzpapier oder am Rednerpult klappen – die entsprechenden Realitäten aber werden von vielen Menschen als Ausverkauf des Sozialen empfunden. Die CDU hat im Grundsatz das gleiche Problem, und noch ein paar knifflige Identitätsbrüche dazu.
Gedrängel in der Mitte
Wie dem Arbeitnehmer- und dem wertkonservativen Flügel bis zur letzten Bundestagswahl die Hinwendung der Merkel-CDU zum ungehemmten Marktliberalismus bitter aufstieß, so ist die jetzige Abwendung davon dem Wirtschaftsflügel ein Gräuel. Wie vor allem jüngeren CDU-Anhängern die neue Offenheit der Partei in Sachen Frauenbild, Kinderbetreuung, Klima- oder Minderheitenpolitik zusagt, so sind ältere Traditionalisten befremdet bis entgeistert. Als die SPD Gerhard Schröder in eine marktliberale Mitte folgte, schuf sie links von sich den Aufmarschplatz für Lafontaine und Co. Da die CDU nun Angela Merkel in eine sozialdemokratische Mitte folgt, schafft sie rechts von sich Aufmarschplatz für – wen?
Es ist der Union Glück, dass bis dato kein Konservativer von Format den Mut aufbrachte, in die Rolle eines rechten Lafontaine zu schlüpfen. Sollte sich einer finden, müsste der nur die Neonazis raushalten und schon bald gäbe es in Deutschland eine konservativ-bürgerliche Partei mit durchaus parlamentarischen Chancen rechts von der CDU. Das Potenzial ist da – weil die beiden Volksparteien das sich weiter ausdifferenzierende Meinungsspektrum in der Bevölkerung nicht mehr abdecken können, ohne von einer inneren Zerreißprobe in die nächste zu stürzen.
Andreas Pecht