Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Die Entdeckung des Knutschflecks

ape. Ein strahlend schöner Sommertag in den späten 1960ern. Die Clique aus 13- bis 15-Jährigen macht sich in der hintersten Ecke der Schwimmbadwiese breit. Richtiger gesagt: Die knapp zwei Dutzend Mädchen und Jungs drängen sich ohne Not, Decke an Decke, auf einem Rund zusammen, das sonst  dem Platzbedarf zweier Kleinfamilien gerecht wird. Weil die jungen Leute eben erst dem Kindesalter entwachsen sind, in dem die Geschlechter eher nichts miteinander zu tun haben wollten, suchen sie nun umso mehr die Nähe zueinander. Sich neckend, sich kappelnd, unschuldig bis hoffnungsvoll verspielt entdecken sie das plötzlich auf irritierende Weise noch fremder, aber zugleich so verlockend gewordene Andere.

Zwischen Ballspielen, Musikpallaver und halb verborgenem Rauchen, zwischen Nassspritzen, Nachlaufen, vom Beckenrand stoßen und Tunken taucht unvermutet ein Stichwort auf, das rasch zum Tagesthema avanciert: der Knutschfleck. Woher es kommt, wer es aufgebracht hat, weiß nachher keiner. Auf einmal ist es da, setzt sich vielversprechend in Hirnen und als zarte Rötung auf mancher Wange fest, lässt die Bagage noch enger zusammenrücken und lebhaft erörtern: Knutschfleck – was ist das, wie geht das, wobei entsteht das und wozu ist sowas gut? Knutschen kennt man. Manch eine/r aus dem Kreis hat es schon versucht, jede/r schon daneben gestanden, wenn an der Haltestelle Jugendpärchen bei dieser Beschäftigung das Einsteigen in den Bus versäumen. Der KnutschFLECK aber ist ein noch zu lösendes Rätsel.

„Ich hab‘ einen“, sagt plötzlich Babsi, vielleicht war‘s auch Gitti, Biggi oder Chrissi (damals endeten alle Freundes- und Kosenamen auf i). Sie zeigt die Innenseite ihres Oberarms her. Dort prangt ein diffus rot-bläulicher Fleck in Fünfmarkstück-Größe: Ergebnis eines Selbstversuches, womöglich nach dem Studium einschlägiger Fachartikel in der „Bravo“. Sie demonstriert, auf welche Weise sie sich das Mal zugefügt hat. Und sogleich hebt ringsumher eifriges Schmatzen, Lutschen, Saugen an, werden anschließend unter „Hallo“ und „O weh“ von eigenen Mündern mit mehr oder minder ansehnlichem Erfolgt frisch gezierte Arme herumgezeigt.

Feine Sache, das. Aber wohl nur die halbe Wahrheit. Denn, so der aufkommende Einwand: „Eigentlich gehören Knutschflecke doch auf den Hals.“ Da Halbheiten in diesem Kreis nicht sonderlich beliebt sind, springt plötzlich eines der Mädels unter lauten Anfeuerungsrufen einem der Burschen an den Hals, um dort zu vollziehen, was von außen betrachtet ausschaut, als würde Vampirella mittagessen. „Tut das weh?“ wird das Opfer gefragt, derweil Staunen über das prächtige Ergebnis des Saugerangriffs umgeht. „Ähm, nö – das ist angenehm, könnt‘ ich stundenlang aushalten.“ Das hätte der Junge besser nicht gesagt, weil: Nun erwählen ihn die Mädels zum Lerndummy – knutschen ihm nacheinander, kichernd, doch mit vollem Engagement, ein wunderhübsches Band unterschiedlichster Flecken auf die Verbindung zwischen Kopf und Rumpf.

Zwischendurch die besorgte Bemerkung: „Au Backe, deine Eltern werden ausflippen.“ Der Bursche winkt nur matt ab, die Folgen dieser süßen Malträtierung sind ihm im Moment schnuppe. Er badet in Wohlgefühlen – und irgendein aufmerksamer Kumpel wirft ihm unauffällig eine Decke über den Schoß. Natürlich fallen die Eltern am Abend schier von einer Ohnmacht in die nächste. Die Mutter verlangt kreischend zu wissen, welches „Luder“ ihrem Sohn “solch eine Schande“ zugefügt habe. Er schweigt – und genießt noch lange die Erinnerung.

Bleibt am Ende zu erwähnen, dass in jenem Sommer bei besagter Clique ein jahreszeitlich eher ungewöhnlicher Modetrend um sich griff: Rollkragenpulli und Halstuch.  

Andreas Pecht  

 

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