ape. Das erste Exponat, dem Besucher der Mainzer Mittelalter-Ausstellung „Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht“ begegnen, ist der „Goslarer Thron“ aus dem 11. Jahrhundert. Genauer: die kunstvolle Gusseisenkonstruktion seiner Arm- und Rückenlehnen. Dieser Prolog soll einstimmen auf den Rundgang durch die im Landesmuseum aufgefächerte Epoche „von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa“. Dereinst nach dem Vorbild des Aachener Kaiserthrons für die Goslarer Kaiserpfalz angefertigt, machte das Stück 1871 wieder Furore: Kaiser Wilhelm I. ließ sich bei der Eröffnung des Reichstages zu Berlin darauf nieder, um eine Kontinuität zwischen dem neu gegründeten Deutschen Kaiserreich und dem vergangenen Heiligen Römischen Reich zu behaupten.
Die Präsentation der mehr als 300 teils höchstkarätigen Exponate von 80 Leihgebern aus dem europäischen Raum gliedert sich zwischen Prolog und Epilog in vier Hauptabteilungen, die der Dynastienabfolge von Karolingern, Ottonen, Saliern und Staufern folgen. Exemplarisch wird die rund 500-jährige Zeitspanne festgemacht an den Kaisern Karl dem Großen, den Heinrichen II., IV. und V. sowie Friedrich I. Barbarossa. Doch obwohl die einzelnen Originalzeugnisse jener Vergangenheit naturgemäß von Größe, Ruhm und Glanz der jeweils Herrschenden künden, will das Konzept dieser Ausstellung hinter die Fassade der historischen Großpersonen vordringen – will Bedingungen und Mechanismen ihrer Machtstellung und -praxis ausleuchten. Diesem Zweck dienen in Mainz etwa opulente Wandgrafiken die zugleich chronologische Panoramen skizzieren und textlich spezifische Hintergründe erläutern. Schnelle, auch sinnliche Kurzzusammenfassungen der in jeweiliger Zeit wichtigsten Ereignisse bieten filmische Graphiknovells.
Derart vorbereitet erschließen sich neue Horizonte bei Betrachtung der Originalexponate. Ein Beispiel: Empfängt Heinrich II. in der Bilddarstellung des „Goldenen Sakramentars“ aus dem frühen 11. Jahrhundert seine Königswürde als Gottesgnadentum noch direkt von Jesus Christus, so sind es einige Jahrzehnte später, etwa im Schaffhauser Pontifikale, zwei auf nahezu gleicher Augenhöhe mit dem Herrscher agierende Erzbischöfe, die ihn krönen. Was hier so unscheinbar daherkommt, spiegelt den seinerzeit realen Aufstieg der Erzbischöfe – insbesondere von Mainz und Köln – zu einer der „Säulen der Macht“, mit der sich die weltlichen Herrscher letztlich irgendwie arrangieren mussten.
Bevor sich die Ausstellung dem Zeitalter Karls des Großen und seinen Bemühungen um Ausweitung wie Einheit des Reiches u.a. durch ein zentrales Münz- und Schriftsystem zuwendet, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die ökonomische Basis allen damaligen Daseins: jene bäuerlichen 90 Prozent der mittelalterlichen Gesellschaft, die keinerlei Mitspracherecht hatten, die bisweilen das Nötigste zum Leben entbehren mussten. Entsprechende Erläuterungen gruppieren sich um originale klösterliche Güterverzeichnisse, um die Lorscher und Weißenburger Codices sowie das Prümer Urbar; drei Schriftdokumente, aus denen ersichtlich wird, welche Massen an Waren und Abgaben aus Bauernhänden etwa in die Säckel der großen Klöster, in die Hände der Feudalherren und des Staates wanderten.
Karl der Große erneuerte anno 800 das römische Kaisertum für Europa. Zugleich entwickelten sich die rheinischen Lande von Basel bis Aachen und Metz bis Gelnhausen zur „Herzkammer“ des neuen, des Heiligen Römischen Reiches. Diese Aufwertung des vorherigen Grenzlandes zum politischen und auch ökonomischen Zentrum ist eine vielfach thematisierte Grundlage der Mainzer Schau. Karl begegnet dort dem Besucher symbolisch in Form einer bronzenen Reiterstatue, gefertigt womöglich nach den Schilderungen in Einharts „Vita Karoli Magni“, die ebenso vertreten ist wie Karls Armreliquiar oder das „Ada-Evangeliar“, die Leithandschrift für die am Hofe Karls versammelten Gelehrten und Künstler.
Von den Karolingern zu den Ottonen, Saliern und Staufern, zum großen Investiturstreit zwischen weltlicher und kirchlicher Macht, zum Aufwachsen der Städte Mainz, Speyer, Worms zu Zentren von Wirtschaft, Politik, Religion und auch jüdischem Leben; zur Bedeutung der mittelalterlichen Herrscherinnen. Einmal darauf aufmerksam gemacht, nimmt man nun das Kaisertum in zahlreichen Darstellungen als Paar wahr, findet die Frauen in Texten angesprochen als „Teilhaberin an der Kaiserherrschaft“, „Mitkaiserin“ oder „Gefährtin des Ehebetts und der Herrschaft“. Der Papst krönt stets beide, gesellschaftliche Stellung und politischer Einfluss der Kaiserinnen war wohl deutlich größer, als heute gemeinhin angenommen. So dokumentiert es die Ausstellung, mehr noch das opulente Begleitbuch etwa für Heinrich II. und Kunigunde oder Konrad II. und Gisela oder Friedrich Barbarossa, den seine Gattin Beatrix von Burgund auf fast jedem seiner vielen Kriegszüge begleitete.
Der Staufer Barbarossa ist der letzte in dieser Ausstellung ausführlich behandelte Kaiser. Zu seiner Lebenszeit (1122 bis 1190) erreichte die Ritterkultur ihren Zenit, in aller prachtvollen Opulenz zelebriert beim legendären Mainzer Hoftag zu Pfingsten 1184 zwischen Heldenmut beim Turnier, erlesenem Festmahl nebst Tanz und zart-melancholischen Minne-Versen. Von diesem mit angeblich 20 000 Teilnehmern für Mittelalterverhältnisse schier unvorstellbar großen Fest zeugt in der Ausstellung etwa die Sächsische Weltchronik. Barbarossa selbst begegnet uns im bronzenen Cappenberger Kopf (um 1160). Und die zu jener Zeit allseits beliebte Minnedichtung ist vertreten durch das wertvollste und berühmteste Exponat: den mit 80 Millionen Euro versicherten Codex Manesse, die bedeutendste Lieder- und Dichtungssammlung des Mittelalters.
Im Verlauf des Ausstellungsrundgangs verdichtet sich Zug um Zug der Eindruck: Das Kaisertum des Mittelalters war eine mächtige Institution, zugleich jedoch waren die jeweiligen Herrscher eingebunden in ein dichtes Netzwerk von Verbindlichkeiten. Und die Kraft ihrer Stellung hing ab von der Fähigkeit, oftmals divergierende Interessen im Reich auszugleichen. Der Kaiser hatte letztlich Konsens zu erreichen zwischen Erzbischöfen, Äbten, Fürsten, nachgeordnetem Adel, Minsterialen, Städten … Die absolute Herrschaft von Gottes Gnaden war bloß Fiktion, die Realität sah doch ziemlich anders aus. Weshalb die Mainzer Ausstellung mit ihrem Epilog einen Schritt ins 13./14. Jahrhundert macht: Wuchtig füllen die mannsgroßen Sandsteinbildnisse jener deutschen Erzbischöfe und Fürsten den letzten Raum, die von 1356 an die römisch-deutschen Könige und künftigen Kaiser gemeinsam kürten. Bei den Kurfürsten liegt als letzter Hochkaräter der Ausstellung jener Vertrag, der diesen konsensualen Akt der Machtverleihung als quasi Grundgesetz des Reiches regelte: die „Goldene Bulle“ in den originalen Fassungen für die Erzbistümer Mainz, Köln, und Trier.
Andreas Pecht
Landesmuseum Mainz, bis 18. April 2021. Info: www.kaiser2020.de