Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

„Am schlimmsten ist die Ungewissheit“

Liebe Leser/innen,

der nachfolgende Artikel ist dem eben verbreiteten Freundes-Rundbrief des Staatsorchesters Rheinische Philharmonie beigelegt. Eigentlich war er gedacht als Aufmacher zur Herbst-/Winterausgabe von „con moto“, dem Publikumsmagazin des in Koblenz ansässigen Orchesters. Darin war er bereits als Ersatztext für eine Reportage über eine Gastspielreise vorgesehen. Gastspiel und Artikel fielen der ersten Corona-Welle zum Opfer, „con moto“ fällt nun der zweiten Welle zum Opfer. Bei Verkündung des November-Lockdowns war der Artikel über das Leben des Orchesters und seiner Musiker in Zeiten der Corona-Pandemie bereits einige Tage fertig. Überholt also, aber zum Wegschmeißen zu schade und als Rückblick auf die ersten beiden Pandemiephasen von März bis Oktober vielleicht doch eine interessante Lektüre.   

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ape. Eigentlich hätte hier eine Reportage über das Gastspiel der Rheinischen Philharmonie am 24. Juli im Concertgebouw zu Amsterdam stehen sollen. Auch hätte dieses Magazin schon Monate früher erscheinen sollen. Doch beides waren Planungen aus einer anderen Zeit für eine andere Realität; Planungen, die im März 2020 durch die Corona-Pandemie vom Tisch gefegt wurden. Stattdessen schreibe ich nun eine Art Geschichte über das Leben des Koblenzer Staatsorchesters in Zeiten der Seuche – wie es begann und sich entwickelt hat. Wohin es noch gehen wird, weiß niemand; die nähere Zukunft liegt im Ungewissen.

Dieser Text entsteht Mitte Oktober anno coronae 1. Seit Tagen steigen die Infektionsraten quer durch Europa wieder in beunruhigendem Ausmaß, schießen in vielen Ländern quasi durch die Decke. Die für Herbst/Winter befürchtete „zweite Welle“ der Corona-Pandemie ist da – zeitiger als erwartet, sich deutlich schneller und umfassender aufbauend als angenommen. Die europäischen Krankenhäuser füllen sich rasch, reihenweise melden vor allem Kliniken in Ballungsräumen das Erreichen oder Überschreiten ihrer Kapazitätsgrenzen. Tendenziell geht es in Deutschland in dieselbe Richtung, wenngleich von einem niedrigeren Ausgangsniveau aus als in vielen anderen Ländern. Hier wirkt das – trotz allerhand ärgerlicher Unstimmigkeiten – im Großen und Ganzen vergleichsweise effektive deutsche Seuchenreglement des ersten halben Corona-Jahres noch nach. Wie lange, kann im Moment niemand sagen. Wenn die Leserschaft diesen Artikel vor Augen haben wird, weiß sie vielleicht: „Wir sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen“ oder aber „wir stecken im ärgsten Schlamassel“. Mitte Oktober jedenfalls steigen die Infektionszahlen täglich gehörig, ebenso nehmen die schweren klinischen Covid-19-Fälle zu. Und mit einem Impfstoff ist vor Frühjahr/Sommer 2021 kaum zu rechnen, heißt es in der Fachwelt. Bis zu einer hinreichenden Durchimpfung der Bevölkerung werden hernach nochmal viele Monate vergehen.

Die Frustration über den schon so lange anhaltenden und sich nun neuerlich verschärfenden Ausnahmezustand des Lebens ist auch in Kreisen des Koblenzer Staatsorchesters deutlich spürbar. Manch eine/r hatte im Frühjahr noch fest damit gerechnet, die Sache werde bis nach der Sommerpause ausgestanden sein, hatte gehofft, dass die Spielzeit 2020/21 wieder nach vertrauter Manier ablaufen kann. Dass also Orchestermusiker dann endlich wieder das tun, was ihre Profession und auch Freude ist: Gemeinsam proben, musizieren, als großer Klangkörper vor und für Publikum spielen. Auf meine Erkundigung per e-Mail, ob es hinsichtlich der erlaubten Spielmöglichkeiten der Rheinischen Philharmonie etwas Neues gäbe, schreibt mir Intendant Günter Müller-Rogalla am 16. Oktober: „In diesem Augenblick nicht. Aber mal sehen, was uns im Angesicht der allgemeinen Entwicklung noch so erwartet. Sehr unschön wäre, wenn wir bereits geplante und zumeist auch schon gut verkaufte Veranstaltungen, die ja eh schon reduziert sind, wieder neu zusammenstreichen müssten. Ich mag gar nicht dran denken und bleibe optimistisch, dass dieser Fall nicht eintritt.“

Rückblende I

Treffen mit zwei Musikern aus dem Orchestervorstand Ende Juni 2020. Wir setzen uns bei strahlendem Sonnenschein im Innenhof des Görreshauses zum Gespräch zusammen. Genauer gesagt: Wir sitzen Corona-gemäß ordentlich auseinander auf Parkbänken und sprechen über das nun sehr eigentümlich gewordene Dasein der Orchestermitglieder. Frage: Wie ging das zu damals Mitte März beim Lockdown, hat euch jemand angerufen und gesagt „leg dich wieder ins Bett, Feierabend, es passiert nichts mehr“?  Der Bratscher Jan Förster erinnert sich: „Man ahnte ja schon, dass was kommt. Wir hatten eine Sitzung, um über die folgenden Tage zu sprechen. Da war dann plötzlich klar: Proben können die nächste Woche nicht stattfinden; dann war auch klar, dass es zunächst keine Konzerte mehr geben würde.“ Wie Förster und der Posaunist István Kovács erzählen und Intendant Günter Müller-Rogalla bei einer späteren Unterredung bestätigt, erfolgte aber nicht etwa eine Generalverordnung, wonach nun für einen längeren Zeitraum der Orchesterbetrieb zu ruhen habe. Vielmehr wurde anfangs Woche für Woche die Lage erneut analysiert. Hier die Ansage, dass gemäß der Pandemieregeln die Anrechtskonzerte des Koblenzer Musik-Instituts nicht mehr durchführbar sind. Dort die Einstellung des Opernbetriebs, schließlich des gesamten Spielbetriebes am Theater der Stadt. „Zug um Zug kamen auch die Konzertabsagen der auswärtigen Veranstalter herein, die uns für Frühjahr/Sommer gebucht hatten. Und allmählich wurden die Abstände zwischen unseren Krisensitzungen länger, umfassten die Feststellungen des Stillstandes größere Zeiträume“, erzählt Kovács. Der Intendant merkt nachher an: „Man will ja die Hoffnung nie fahren lassen. Weshalb wir von Besprechung zu Besprechung überlegten, ob nicht vielleicht dies oder das doch möglich sein könnte. Schließlich aber bilanzierten wir nur noch Absagen.“

Tja, und was machen die Musiker/innen mit all ihrer plötzlich zur Verfügung stehenden Zeit ohne Orchesterproben, Theaterdienste, Konzerte? Im Unterschied zu ihren freischaffenden Kollegen müssen die meisten sich als Landesbedienstete wenigstens keine Geldsorgen machen. „Privat war natürlich erstmal im familiären Umfeld allerhand zu organisieren; und vor allem beschäftigte uns die Frage, wie es denn schulisch mit den Kindern weitergeht“, erinnert sich Kovács. „Hier bei der Philharmonie herrschte für einen Moment quasi Schockstarre. Was können wir tun? Niemand hatte Erfahrung mit einer solchen Situation; es gab überhaupt nirgends in der Musikwelt Erfahrungswerte.“ Und Förster erklärt: „Allmählich wurde uns bewusst, dass wir als Orchester, das gewissermaßen für größere und große Veranstaltungen lebt, dieser Kernaufgabe auf längere Sicht nicht mehr würden nachkommen können. Womöglich ein ganzes Jahr lang, jedenfalls bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. Eine bittere Erkenntnis.“

Weil man aber Berufsmusiker ist, legt sich niemand auf die faule Haut. Stattdessen heißt das persönliche Arbeitscredo jetzt: üben, üben, üben – allein, daheim, oder mal mit zwei, drei Kollegen bei gebührendem Abstand. Und zwar meist weit über jene Heimübezeit hinaus, die im Arbeitsvertrag ohnehin festgelegt ist. Erstaunlich, dass die Akteure dem für eine gewisse Zeit sogar einiges abgewinnen können. Da nämlich keine konkreten Konzertprojekte mehr anstanden, also vornehmlich das Einstudieren bestimmter Stücke das Übepensum dominiert hätte, durfte man sich mal wieder ausgiebig den Basics, dem Fundament der eigenen Spieltechnik zuwenden.

Zeitgleich verfolgten alle intensiv, was an jeweils neuen Studien hinsichtlich der Virus-Verbreitung beim Musizieren für die diversen Instrumentengruppen veröffentlicht wurde. Leichtes Aufatmen etwa bei den Blechbläsern, als sich andeutete, dass die Übertragungsentfernung wegen der vielfach gewundenen Bauart ihrer Instrumente wohl doch kleiner sei als ursprünglich befürchtet. Allgemeines Aufmerken, als erste Nachrichten die Runde machten, dass hier und dort in der deutschen Orchesterlandschaft Versuche mit kleinen Konzerten unter besonderen Sicherheitsbedingungen für reduziertes Publikum und reduzierte Klangkörper unternommen würden. Ein Lichtstreif am Horizont? Denn was sich mit fortschreitender Dauer der Seuchensituation nicht nur bei den Koblenzer Musikern immer schmerzlicher bemerkbar macht: „Wir wollen unbedingt spielen, für Publikum spielen. Das ist es, was uns am meisten fehlt.“

Rückblende II

„Am schlimmsten ist die Ungewissheit“, sagt Günter Müller-Rogalla beim Vier-Augen-Gespräch im Hochsommer 2020. „Was heute nicht geht, könnte morgen klappen, aber übermorgen schon wieder unmöglich sein.“ Auch wir beide sitzen im Hof des Görreshauses unter freiem Himmel mit angemessenem Abstand auf einer Bank. Immerhin, und darüber ist der Koblenzer Philharmonie-Intendant ebenso froh wie dafür dankbar: „Es hat aus den Kreisen unseres Publikums noch kein einziges böses Wort gegeben wegen der endlosen Reihe von Konzertabsagen. Im Gegenteil, die Leute versichern uns volles Verständnis und bekräftigen oft ihre anhaltende Verbundenheit mit der Rheinischen Philharmonie.“ Seit man im Zuge der allgemeinen Öffnungspolitik mit ersten wenigen Sonderkonzerten ganz vorsichtig vor extrem verkleinertes Publikum tritt, „ist auch noch kein Unmut aufgekommen, obwohl die Nachfrage deutlich größer ist, als wir Zuhörer einlassen dürfen.“ Nur 40 (statt 160) waren es jeweils im Saal des Görreshauses bei den von Kammerensembles aus den Reihen der Rheinischen bestrittenen pausenlosen 45-Minuten-Matineen unter dem Titel „Sonntags halb zwölf“.  Mittlerweile ist hier die erlaubte Besucherzahl auf 60 gestiegen. Nur 150 Personen inklusive der Ausführenden durften in die normalerweise gut 1200 Plätze bietende Koblenzer Rhein-Mosel-Halle zu den seit Ende Juni in unregelmäßigen Abständen angebotenen Sonderkonzerten des Staatsorchesters. Auch hier wurde allerdings vor kurzem die mögliche Zahl der Besucher im Rahmen einer weiteren Lockerung leicht erhöht.

Wobei „Staatsorchester“ in diesem Fall nur Teile desselben meint. Denn auch für die Musiker gelten Abstandsregeln, weshalb anfangs nur jeweils 25 auf der Hallenbühne Platz fanden. Wie kommt man ausgerechnet auf 25? Durch Arbeit nicht mit dem Takt-, sondern mit dem Zollstock. Und das ging so: Der Saal des Görreshauses ist ungefähr so groß wie die Bühne der Rhein-Mosel-Halle. Also wurde im Domizil der Philharmonie probegesessen, nachgemessen, gerechnet, umgesetzt, wieder gemessen – bis die Sicherheitsabstände zwischen den Musikern den Vorschriften entsprachen. Ergebnis: Auf diese Fläche passen 25. Was auch bedeutet: Nicht die Orchesterbesetzung folgt den gewünschten Programmstücken, sondern die Stücke müssen ausgewählt werden nach den eingeschränkten Möglichkeiten der zahlenmäßigen Besetzung.

„Das meiste, was wir ursprünglich für die zweite Hälfte der Spielzeit 2019/2020 geplant hatten, ist unter solchen Gegebenheiten natürlich völlig ausgeschlossen“, bedauert Müller-Rogalla. „Aber wir sind schon froh, dass überhaupt wieder ein bisschen was geht. Auch wenn diese wenigen Konzerte in kleiner und kleinster Besetzung vor sehr spärlicher Zuhörerkulisse eigentlich vor allem ein Signal sind, das zeigen soll ‚Wir sind noch da‘, das zugleich den Verbindungsfaden zum Kernbestand unseres Publikums aufrecht erhält.“ Die Orchestermitglieder selbst reißen sich quasi darum, zu einer der wechselnden reduzierten Besetzungen zu gehören, um wenigstens alle paar Wochen mal wieder in etwas größerem Kreis vor Publikum spielen zu können.

Beim Sommergespräch im Hof des Görreshauses berichtet der Intendant auch von allseits frustrierenden Unterredungen mit heimischen wie auswärtigen Konzertveranstaltern in der ersten Pandemiephase. Denn die Veranstalter wurden von derselben Ungewissheit geplagt wie das Orchester und seine Verantwortlichen. Unzählige Telefonate mit den Partnern an diversen Konzertorten drehten sich von Tag zu Tag neu um Fragen wie: „Sollen wir den Vorverkauf fortführen oder einstellen?“; „Kann das Konzert stattfinden oder müssen wir absagen?“; „Gehen wir auf Totalausfall oder Verschiebung?“ ….  Tagelanges, teils wochenlanges Hoffen und Bangen – bis es schließlich doch heißen musste: Nichts geht mehr! „Auch in diesem Bereich gab es kaum je ein böses Wort gegeneinander, obwohl die Nerven wirklich blank lagen“, sagt Müller-Rogalla. „Die Veranstalter und wir sind einander entgegengekommen, haben gemeinsam gerungen und sind dann eben auch gemeinsam vorerst an Bedingungen gescheitert, die wir nicht beeinflussen können.“

Ausblick

Die Spielzeit 2020/2021 hat als Notsaison unter Seuchenbedingungen begonnen. Doch haben die Erfahrungen, die man im Sommer mit den Versuchen reduzierter Konzerte bei strammem Hygienekonzept in Görreshaus und Rhein-Mosel-Halle machte, zu einer Stabilisierung, Verdichtung und vorsichtigen Erweiterung solcher Angebote geführt. Auch für Gastspiele auswärts laufen wieder Verhandlungen, in welcher Corona-gemäßen Form das eine oder andere Konzert durchgeführt werden könnte. Weil aber heute unklar ist, in welcher Größe die Rheinische Philharmonie morgen vor wieviel Zuhörern spielen darf, geht die Intendanz mit alternativen Programmen in die Gespräche: Etwa eines mit Werken für opulente Besetzungen, ein anderes mit Stücken für deutlich weniger Musiker. Hoffnungsvolle bis ambitionierte Ansätze in diese Richtung gibt es jetzt, Mitte Oktober, einige. Doch ob sie schließlich zur Realisierung kommen, steht gerade jetzt, Mitte Oktober, wieder gänzlich in den Sternen. Es ist die Seuchenentwicklung, die Takt und Richtung beim Gang der Dinge vorgibt.  

Andreas Pecht                      

 

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