Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Nun mal los: Das Ungewohnte wagen

ape. Zu meinen jetzt 66 Jahre währenden Lebzeiten gab es neun Bundeskanzlerwechsel. Ich habe sie alle bewusst miterlebt, sogar den ersten. Denn als der ewige Adenauer 1963 im Alter von 88 das Amt aufgab, war ich schon ein 8-jähriges und recht aufgewecktes Kerlchen. Ein bisschen in Erinnerung ist noch mein damaliges Staunen darüber, dass der „oberste Fürst“ nicht aus dem Amt stirbt, sondern schnöde zurücktritt. Auf solch ein seltsames Phänomen hatten mich die Königsmärchen nicht vorbereitet. Doch ich begann zu ahnen, dass Führungswechsel im Demokratie-Staat eigentlich normal wären.

Die flotte Abfolge hernach von Erhard zu Kiesinger zu Brandt machte aus der Ahnung Gewissheit. Obendrein ließ einem der Wechsel zu Brandt, dann für zwei Wochen zu Scheel, hernach für acht Jahre zu Schmidt bewusst werden, dass die Kanzlerschaft nicht naturgesetzlich der CDU gehört. Dies Bewusstsein wurde allerdings durch den ewigen Kohl wieder beträchtlich erschüttert. Auf eine kurze Schröder-Zeit folgte dann mit Madame Merkel erneut eine Ewigkeitsherrschaft. Was mich zu dem Schluss führt: Das Wechselprinzip bei der Staatsführung gilt zwar als normal, aber Michels und Michelinen mögen es nicht sonderlich. Weshalb nun eine in der Merkel-Epoche aufgewachsene Junggeneration mit der Überraschung klar kommen muss: „Huch, es kann auch jemand anderes Kanzlerin sein, sogar ein Mann, und nicht von der CDU.“

Es ist immer etwas seltsam, mit Zuständen konfrontiert zu werden, die man selbst nie erlebt hat. Walter und ich palaverten mal über das ökologische Elend unserer in Plastik ersaufenden Welt. Der Freund ist gut zehn Jahre jünger als ich und hat deshalb nicht mehr mitbekommen, was mir als Kind noch zuteil wurde: Dass die westdeutsche Gesellschaft bis in die frühen 1960er ganz ohne das aus Erdöl hergestellte Massenplastik ziemlich gut funktionierte.

„Ja zur Hölle, woraus bestanden denn die unzähligen Gerätschaften und alltägliche Utensilien, die heute aus Plastik sind?“ So fragte Walter aufgeregt. Meine Antwort: Schau dir all die neuen Projekte in den Laboren  der Materialforschung für Alternativen zum Massenplastik an – dort findest du zuhauf wieder, was noch zu meiner Kindheitszeit völlig selbstverständlich in aller Hände war. Also zählte ich sie auf, die Gebrauchsmaterialen, mit denen das Alltagsleben damals bewältigbar war: Holz, Metall, Glas, Keramik/Stein, Pappe/Hartpappe, Papier (nötigenfalls mit Wachs beschichtet), Gummi/Hartgummi, Pflanzenfasern/Tuchgewebe, Leder, Kork.

Und siehe: Schon beim ersten Humpen Bier konstruierten wir – gedanklich – aus eben diesen Materialien hunderte Geräte und Alltagsgegenstände von Einkaufskorb, E-Zahnbürste, Kleidung und Schuhen über Kaffekocher, Waschmaschine und TV-Apparat bis hin zu Handys und ganzen Autos. Nach weiteren drei Krügen hatten wir die menschliche Lebenswelt konstruktiv und organisatorisch fast vollständig von Plastik befreit. Lediglich bei einigen medizinischen und hochtechnologischen Anwendungen waren wir uns unschlüssig.

Wir beide mögen zwar nicht die größten Materialspezialisten sein. Aber was der im Plastikzeitalter aufgewachsene Walter schon beim ersten interessierten Blick auf die „alten“ Werkstoffe an Möglichkeiten zum Plastikverzicht ausmachen konnte, spricht Bände: Da ginge viel, viel, viel – mit ein bisschen gutem Willen samt Neuorientierung von Industrie und Handel sowie etwas Umgewöhnung von Hinz und Kunz.

Andreas Pecht

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