Mainz. ape. „Le Sacre!“ soll Koen Augustijnen vor Monaten aufgeschrien haben. Da hatten er und Rosalba Torres Guerrero gerade erfahren: Das Staatstheater Mainz stelle dem Gastchoreografen-Duo für seine nächste Produktion mit dem Ensemble von „tanzmainz“ das Große Haus mitsamt Philharmonischem Orchester live zur Verfügung. Eine derartige Chance will ergriffen sein, Träume wahrzumachen. Und welche Tanzschaffenden träumten nicht von einer großformatigen Eigenkreation zu Igor Strawinskys Ballettmusik „Le sacre du printemps“? Fast jeder bedeutende Choreograf hat das Werk seit dem 1913er Uraufführungsskandal in Paris mal angepackt. Geradezu ikonographischen Status genießt heute das herzerschütternde Opferritual von Pina Bausch.
Das Mainzer Ergebnis kam an diesem Wochenende zur Premiere. Und gleich der Anfang des 75-minütigen Abends irritiert. Denn aus dem Orchestergraben schwillt Wagners Ouvertüre zu „Tannhäuser“. Das Befremden dauert an, als darauf Arvo Pärts „Cantus in memory of Benjamin Britten“ sowie Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre folgen. Musikalisch ist famos, was da unter dem Dirigat von Paul-Johannes Kirschner ertönt. Tänzerisch indes findet herzlich wenig statt. Erst in Minute 45 übernimmt Strawinsky das Regiment. Und von da an ist alles anders.
Es gibt mit „Le sacre du printemps“ immer schon eine Schwierigkeit: Das Werk ist mit rund 30 Minuten Spieldauer nicht abendfüllend. Weshalb meist weitere Tanzstücke vorgeschaltet werden. Rosalba/Torres Guerrero gehen in Mainz einen anderen, einen riskanten Weg: Sie erweitern das Stück selbst um besagte Kompositionen und eine zusätzlich Ebene des Geschehens. Dabei spielen Kostüme (Stefanie Krimmel) die tragende Rolle. Exzentrische Fantasiekostüme, wie sie die in den 1980ern entstandene Bewegung der Club Kids benutzt, um für eine Nacht auf dem Dancefloor in eine andere Welt, ein anderes Ich oder auch anderes Geschlecht einzutauchen.
Zu sehen gibt es da allerhand, nur eben keinen Tanz. Es schreiten, stolzieren, gehen, stehen, wiegen sich mal in Linie, mal in Gruppen oder einzeln die Kostümierten. Man denkt an höfisches Zeremoniell – das sich dann auch um den Auftritt eines „Königs“ zentriert: Zachary Chant mit einer Strahlenkrone a la Ludwig XIV. Zur Wagner-Musik wähnt sich der Betrachter szenisch in der Oper und wartet ungeduldig, ob und auf welche Weise das die Bühne beherrschende Element einer Stahlbogenbrücke (Bühne: Jean Bernard Koemann) hinüberführen kann in die Welt des Tanzes. Bei Pärt fallen erste Kostümteile, tauchen kleine Tanzmomente auf. Es erscheint auch eine kurze Andeutung des Opfermotivs: Maasa Sakano setzt als einzige ihre Maske nicht ab und gerät mit einem verwirbelten Solo ins Zentrum des sie umkreisenden 18-köpfigen Ensembles.
Die statische Anfangsphase könnte als Kostümprasentation und Vorstellungsrunde von Club-Gästen gedeutet werden. Das episch gedehnte Kostümfest ließe sich ebenso verstehen als Anlehnung an den ersten Teil der Urchoreografie von Vaslav Nijinski, wo Volk in reich verzierten Gewändern sich zur „Anbetung der Erde“ versammelt. Dann wäre dieser Teil allerdings ausgelagert, völlig abgekoppelt von Strawinskys Musik und tänzerisch extrem reduziert.
Gleichwohl nehmen Tanzmomente im Laufe der ersten dreiviertel Stunde zwar sehr langsam und gemäßigt, aber doch zusehends breiteren Raum ein. Wenn man so will: Die Mainzer Choreografie skizziert in einem übergroßen Ouvertüre-Bogen einen Hauch von Vorahnung auf jene Ausdrucksteigerungen, die Strawinksy in ein halbstündiges Furioso packte.
Am Ende der „Coriolan“-Ouvertüre entledigen sich die Akteure der opulenten Kostüme, gehen nun mit knappen Restoutfits ins Eigentliche, den Strawinsky eben. Jetzt kann das Ensemble sein tänzerisches Vermögen ausspielen: Die Menschenmasse drängt, wirbelt, tobt mal in scheinbarem Chaos, dann unversehens in geordneten Formationen, in denen manchmal jedes Individuum seine eigene Ausdrucksweise zeigen kann und doch zugleich das Ganze im Gleichmaß vibriert.
Da viele Tanzformen den Bewegungsarten in Clubs und Diskos entlehnt sind, wirken manche Aktionen dilettantisch, kontrastieren aber mit kunstvollem Ausdruckstanz. Louis Thuriot gibt, nur mit knallig roter Kurzhose bekleidet, einen Außenseiter. Sein Solo gebrochener, verbogener, zerhackter Ballett- und Turnfiguren ist in seiner grandiosen Nichteleganz ein Hingucker. In ihm wähnt man das spätere Opfer.
Doch da ist noch ein Außenseiter: Eine Frau mit rotem BH, Bojana Mitrovic, meist einsam am Rande agierend. Und da ist der vormalige König, dessen Rolle auf dem Parkett immer weiter schrumpft. Er hat als Armüberzug auch jenes Rot an sich, das so sehr an das Opferkleidchen bei Pina Bausch erinnert. Gibt es in Mainz statt eines Opfers derer drei? Es gibt sogar noch etliche mehr – oder eben gar keines. Bei den Club Kids des Mainzer „Le Sacre“ muss sich selbst in höchster Massenekstase niemand als Frühlingsopfer zu Tode tanzen. Alles nur ein Dancefloor-Spiel?
Wie der Anfangsteil, so irritiert auch dieser Schlussteil. Denn ständig sucht der mit mehreren Lesarten des Stückes vertraute Zuseher nach dem auf die eine Opferfigur fokussierten Zentrum des Geschehens. Das aber gibt es hier nicht. Fehlt es? Irgendwie schon.
Andreas Pecht
(Erstveröffentlichung dieses Artikels am 3. Mai 2022 in der Printausgabe der Rhein-Zeitung)