Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

Ohne Krimi geht die Mimi … („Quergedanken“)

Monatskolumne Nr. 207 Oktober 2022

Stellen wir uns für einen Augenblick, nur so zum Spaß, mal vor: Du sitzt über der Fernsehzeitung, willst gucken, was die Mattscheibe am Abend bietet; plötzlich verschwinden sämtliche Kriminalfilme aus dem Programm. Tatort, Polizeiruf, Kripo Ödland und allerhand anderer Lande, Kommissar*in XYZ, CSI hierdadort … Wo sie angezeigt waren, blitzen jetzt weiße Flecken. Es sind viele, sehr viele, unfassbar viele weiße Flecken. Kein Abend, an dem zwischen 19 und 24 Uhr auf den frei zugänglichen Allgemeinsendern der Öffentlich-Rechtlichen und der Privaten in summa nicht 25 bis 40 und mehr Krimis laufen. Ich habe nachgezählt, stichprobenartig.

Und nun ist sie, so unser Gedankenspiel, verschwunden: die tägliche Flut von zwei, drei, vier Dutzend an Leichen reichen erfundenen Kriminalfällen. Denn davon handeln die Filme zu gut 95 Prozent: von Mord. Anderes fällt den Machern kaum noch ein. Weil dieser Tatbestand in der realen Kriminalstatistik allerdings keineswegs der häufigste, sondern im Gegenteil einer der seltensten ist, rechne ich Krimis mittlerweile dem Fantasy-Genre zu; also jener filmischen Unterhaltungsform, zu der auch „Herr der Ringe“, Harrison Fords Jagden nach mystischen Schätzen oder Marvels Advenger-Sagas gehören.

Diese, zugegeben sehr eigenwillig persönliche, Zuordnung bringt Freund Walter auf die Palme. „Du hast keine Ahnung“, wettert er. „Krimis sind ein hervorragendes Instrument, Hintergründe, Untiefen, Verletzlichkeiten, Schrecklichkeiten und Schändlichkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie der menschlichen Psyche auszuleuchten. Und das auf spannend unterhaltsame Weise.“ Ähm, gewiss, gestehe ich dem Freund zu, der als TV-Seher und Leser eine eingefleischte Krimi-Mimi ist. Allerdings beruhen die Streifen eben meist auf fantasierten Formen von Polizeiarbeit mit einer der am wenigsten vorkommenden Art Kriminaldelikt im Zentrum. Also Fantasy.

Sei es wie es sei, ein Phänomen bleibt die schier erdrückende Masse von Krimis im TV. Zumal es sich dabei überwiegend um quasi Dauerwiederholungen handelt, was indes auch für alle anderen Sparten filmischer TV-Unterhaltung gilt. Wundern darf einen das nicht, denn irgendwoher muss ja das Futter kommen, mit dem drei Dutzend Sender täglich 24 Stunden Programm füllen. Ohne das gewaltige Reservoir an Krimis und Krimiserien, wäre das kaum zu schaffen, wie unser Gedankenspiel zeigt. Es sei denn, die Sender würden die entstehenden Lücken mit purem Billigdreck füllen, was sich zumindest für die öffentlich-rechtlichen verbietet. Die aber müssten ohne ihre Reserven an alten Tatorts, Polizeirufs etc. wohl den Sendeschluss wieder einführen.

Sendeschluss? Das muss man jüngeren Leuten erklären. Es gab in der deutschen Fernsehkultur eine Epoche, da schalteten die Sender so um Mitternacht herum ihr Programm einfach ab. Eine Sprecherin oder ein Sprecher wünschte nach der letzten Sendung „gute Nacht“, dann wurde die Nationalhymne gespielt. Nach dem letzten Ton erschien das stehende Testbild – das bis zum Wiederanfahren des Programms am folgenden Nachmittag einsame Wacht auf dem Bildschirm hielt. „Was haben die Leute denn dann gemacht, nach dem Sendeschluss? Internet und Streaming gab’s doch auch noch nicht.“ So mag manch eine/r heute fassungslos fragen. Tja, man ging halt ins Bett – zu diesem oder jenem Geschäft: schlafen, lesen, sinnieren, plaudern, noch ein bisschen spielen … Gibt Schlimmeres.

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

,

Archiv chronologisch

Archiv thematisch