ape. Doch, doch, muss man anerkennen: Sie erfüllen ihre Aufgabe mit Bravour. Wer? Die in der Mode- und Klamottenbranche Zuständigen für verkaufsfördernde Erziehung, Gehirnwäsche, Geschmackslenkung, Motivation, Manipulation, Zeitgeistbeeinflussung. Beispiel: Da plädiert jemand für witterungsangemessene Unterkleidung in der kalten Jahreszeit, bekennt sich zu langen Unterhosen, Kniestrümpfen, dicken Wollsocken. Und ein beträchtlicher Teil des Publikums – darunter Gebildete und sonst in mancher Frage klug, bisweilen sogar selbstkritisch überlegende Leute – reagiert wie? Man feixt, grient, spottet schenkelklopfend über „altbacken“, „vorgestrig“, „Geschmacksverirrung“ oder noch Unschöneres.
Was über Jahrtausende unter Menschen üblich, selbstverständlich, notwendig war, und bis heute eigentlich vernünftig wäre, gilt plötzlich als aus der Zeit gefallene geschmacklose Unmöglichkeit: Optimaler Schutz des felllosen Menschenkörpers durch den jahreszeitlichen Anforderungen angemessene Kleidung. Diese primäre Funktionszuschreibung wurde zwar schon immer ergänzt durch einige Aussehensansprüche, ist aber heutzutage weithin völlig ersetzt durch den Wunsch nach modischem Chic. Aussehen bedeutet – selbst bei meist unsichtbarer Unterkleidung – alles, Funktion fast nichts mehr. Man trägt auch bei Schnee und Eis Halbsöckchen, durchlöcherte Hosen, Minislips mit nur noch einem Bändelchen durch die Arschritze und statt wärmender Langarm-Unterhemden eben „knackige Shirts“. Manch eine/r ängstigt sich gar, bei einem Unfall in nicht hinreichend modischer (von sauber spricht niemand) Unterwäsche auf der Bahre des Rettungswagens oder dem OP-Tisch des Krankenhauses zu landen.
Fast könnte man den Eindruck gewinnen, der heutige hiesige Mensch müsse sich bei der Wahl seiner Unterkleidung darauf einrichten, jeden Tag zu jeder Stund‘ allüberall in Situationen zu geraten, wo er oder sie erotische Bella Figura machen müsste. Und das in solchem Ausmaß, dass die ureigentlich primäre Körperschutzfunktion der Klamotten kaum noch eine oder gar keine Rolle mehr spielt. Allerdings ist der Sexualforschung für Deutschland eine derart ausgeprägte Neigung zu multipler Spontan-Liebelei gänzlich unbekannt. Dass indes die eingangs erwähnten Zuständigen der Mode- und Klamottenbranche es hingekriegt haben, dieses vielleicht geheime Träumchen vielen Zeitgenoss*innen zum Leitfaden ihres Kleiderkaufs werden zu lassen, das ist schon eine Marketing-Meisterleistung.
(Lexikalische Anmerkung: Publikumsbeschimpfung ist eine provokative Kunstform seit den frühesten Tagen des Theaters, der Literatur und des Kabaretts. // Persönliche Anmerkung des Verfassers: Ich gebe gern den kauzigen Narren und damit das Ziel von allerhand Spöttelei. Damit einher geht allerdings auch das Recht, ja die Pflicht jedes Narren, stets den Eulenspiegel mit sich zu führen und ihn dem Volke vors feixende Angesicht zu halten.)
Andreas Pecht