Portrait Andreas Pecht

Andreas Pecht – Kulturjournalist i.R.

Analysen, Berichte, Essays, Kolumnen, Kommentare, Kritiken, Reportagen – zu Kultur, Politik und Geistesleben

365 Jahre Koblenzer Orchestergeschichte

Am 1. Juli 2023 jährt sich die Verstaatlichung der in Koblenz ansässigen Rheinischen Philharmonie und ihre Umwandlung in ein Staatsorchester des Landes Rheinland-Pfalz zum 50. Mal. Aus diesem Anlass habe ich zwei im Herbst 2019 und im Frühjahr 2020 im Publikumsmagazin „con moto“ der Rheinischen Philharmonie   erschienene Artikel von mir aus der Versenkung geholt und zu einem zweiteiligen Langtext zusammengepackt. Dieser gibt nachfolgend interessierten Leserinnen und Lesern in geraffter Form einen Überblick über 365 Jahre Geschichte des Koblenzer Orchesters von 1654 bis 2019.   


Teil 1: 1654 bis 1973

ape. Es ist gute Tradition in der Kulturpublizistik, nach längstens einer halben Generation die Geschichte bedeutender Kulturinstitutionen mal wieder ins Gedächtnis zu rufen – vor allem aber den zwischenzeitlich nachgewachsenen jüngeren Teil des Publikums erstmals damit vertraut zu machen. Dies soll nun hier im Hinblick auf die Rheinische Philharmonie und deren Vorgeschichte geschehen, mit einem knappen Artikel, der die wichtigsten Marksteine der Historie anleuchtet.

Eigentlich werden dafür gerne runde Geburtstage als Anlass genommen. Da ein solcher derzeit nicht auf dem Kalender steht, behelfen wir uns mit einem unrunden: 365 Jahre Koblenzer Orchestergeschichte. Das ganz groß gefeierte 350er-Jubiläum liegt nun schon 15 Jahre zurück. 2004 wurde es mit einem denkwürdigen Großkonzert in der Sporthalle Oberwerth begangen: Unter Leitung von Shao Chia Lü hatte ein Musizierapparat aus zwei Sinfonieorchestern (Koblenz und Heidelberg) sowie zehn Chören vor 3000 Zuhörern Schönbergs „Gurrelieder“ aufgeführt. 2013 folgte ein Jubiläum, das sich auf die jüngere Geschichte im Koblenzer Musikleben bezog: Gemeinsam begingen Staatsorchester Rheinische Philharmonie und Musikschule Koblenz mit einem Konzert ihr 40-jähriges Bestehen, damit verbunden der Freundeskreis der Rheinischen Philharmonie seinen 25. Geburtstag.

Auf also 365 Jahre wird die örtliche Orchestergeschichte nun gemeinhin definiert. An deren Anfang stand eine 20-köpfige, anno 1654 vom Trierer Erzbischof und Kurfürsten Karl Kaspar von der Leyen für seine Koblenzer Residenz gegründete Hofkapelle. Von dort führt die historische Entwicklung mehr oder minder geradlinig zum heutigen Staatsorchester Rheinische Philharmonie. Diese verbreitete Betrachtungsweise ist einerseits richtig, weil es in Koblenz die meiste Zeit über immer nur ein einziges Orchester gab. Sie idealisiert allerdings auch etwas, denn dessen Geschichte ist über die Jahrhunderte auch wiederholt völlig abgerissen. Beispiel: Galt die Koblenzer Hofkapelle unter dem letzten Trierer Fürstbischof Clemens Wenzeslaus in den 1780er-Jahre noch als eine der größten in deutschen Landen, so hatte sie sich 1794 in Luft aufgelöst. Der kurfürstliche Hof zu Koblenz hatte vor den anrückenden französischen Revolutionstruppen das Weite gesucht, anbei wurden die Hofmusiker in alle Winde zerstreut.

Es gab dann in der Stadt 14 Jahre lang gar kein Orchester. Ein Neuanfang erfolgte 1808 mit der Gründung des Musik-Instituts Koblenz durch den Bürger Joseph Andreas Anschuez.  Der sammelte um sich Mitstreiter für die Einrichtung einer Institution zur Pflege und Förderung der Musikkultur in der französischen Rhein-Mosel-Stadt. Es entstand – jetzt nicht mehr unter feudaler, sondern  bürgerlicher Ägide – ein ganz neues Orchester, zusammengesetzt aus Berufsmusikern der Region, passionierten Laieninstrumentalisten sowie Militärmusikern. Von Letzteren gab es ab der 1815 beginnenden preußischen Zeit am Ort stets reichlich, denn Koblenz war eine riesige Garnison, und bisweilen hielten sich in den hiesigen Kasernen mehr als ein halbes Dutzend Armeemusikkorps auf.

Von 1808 an war das Koblenzer Orchester für fast ein Jahrhundert primär das Orchester des Musik-Instituts, zugleich das Theaterorchester. Jedenfalls während der Hauptspielzeit im Winterhalbjahr. Man muss sich bewusst machen, dass viele Orchester jener Zeit – sofern sie nicht zum festen Inventar von Fürstenhöfen zählten – ganz anders strukturiert waren als heutzutage. Niemand hatte da eine Jahre oder Jahrzehnte währende Festanstellung. Eher führten die hauptberuflichen Zivilmusiker ein unsicheres bis prekäres Dasein als saisonale Honorarkräfte. Wer Glück hatte, erhielt fürs Winterhalbjahr einen Vertrag für ein Konzert-/Theaterorchester wie dem Koblenzer und kam in der anderen Jahreshälfte bei einer der vielen Kur-Kapellen unter. Im Umfeld von Koblenz gab es solche ein bis vier Dutzend Musiker umfassenden Ensembles etwa in Bad Kreuznach, Bad Ems und Bad Neuenahr. Doch für jede Saison wurden die Karten neu gemischt, die Honorarstellen neu vergeben, der Klangkörper neu zusammengesetzt, mit wechselnden Militärmusikern und Dilettanten aufgefüllt. Wunderlich ist weniger, dass die musikalischen Ergebnisse sich wohl von den heutigen Standards unterschieden haben dürften. Beeindruckend ist vielmehr, dass in Koblenz immer wieder auch die größten und anspruchsvollsten Werke der Klassik zur Aufführung kamen.

Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert stand plötzlich die Idee im Raum, Koblenz möge sich von der vorherigen labilen Orchesterpraxis verabschieden und ganzjährig ein ständiges Profiorchester installieren. Hintergrund war der 1901 vollendete Erstbau einer repräsentativen städtischen Festhalle. Deren Saal bot 1200 Plätze und eine so am Ort noch nie erlebte Akustik, was die zuvor auf Wirtshaussäle und Schulaula beschränkte Konzertkultur räumlich auf ein völlig neues Niveau heben würde. Dem sollte fortan auch die Qualität des Orchesters entsprechen. Anvisiert wurde ein Künstler-Orchester in der Trägerschaft eines zu gründenden Philharmonischen Vereins, das sich finanziert aus kommunalen Zuschüssen und Einlagen der Vereinsmitglieder sowie Engagements bei Musik-Institut, Stadttheater, Casino-Gesellschaft und benachbarten Orten. Auf dieser Grundlage wurde im März 1901 der Philharmonische Verein zu Koblenz als Orchesterträger gegründet und mit einem finanziellen „Garantiefond” ausgestattet.

Sehr schnell ging es dann mit dem „Aufbau” des neuen Orchesters: Es wurde kurzerhand das Bad Kreuznacher Kurorchester mitsamt seinem Chefdirigenten Heinrich Sauer als neues Philharmonisches Orchester Koblenz engagiert. Die Sache ließ sich gut an – doch ward ihr gleich zu Anfang ein schwärendes Problem in die Wiege gelegt: Die Stadt Koblenz knüpfte an ihre Bezuschussung unerwartet die Bedingung, das Orchester doch nur jeweils für die Wintersaison zu engagieren. Folge: Die Musiker um Heinrich Sauer mussten zusehen, wie sie den Sommer über auf eigenes Betreiben ihr Brot verdienten. Bis 1907 hielt diese Konstruktion. Dann plötzlich wanderte der gesamte Sauer‘sche Klangkörper mit Sack und Pack nach Bonn aus und gründete dort das Beethoven Orchester. Die Nachbarstadt hatte wohl bessere Konditionen angeboten. Koblenz indes stand nun, just wenige Monate vor den Jubiläumsfeiern zum 100. Geburtstag des Musik-Instituts, ganz ohne Orchester da. Weshalb man kurzerhand den Kreuznacher Coup von 1901 wiederholte, nur dass jetzt das Kurorchester aus Bad Neuenahr als Stadtorchester am Rhein-Mosel-Eck installiert wurde.

Streng genommen wäre damit zu attestieren: Die Wurzeln des Koblenzer Staatsorchesters reichen weniger auf die kurfürstliche Hofkapelle zurück, sondern liegen weit im rheinland-pfälzischen Hinterland, in Bad Neuenahr und Bad Kreuznach. Letzteres ließe sich denn auch indirekt als eigentliche Wiege des Bonner Beethoven Orchesters bezeichnen. Am Rhein-Mosel-Eck spitzten sich derweil bis 1913 Probleme mit der Orchesterfinanzierung derart zu, dass der Bestand des Klangkörpers nur gewährleistet werden konnte, indem die Stadt vollends seine Grundfinanzierung für die Winterhalbjahre übernahm. Dann brach der Erste Weltkrieg aus. An der „Heimatfront“ wurde zwar fleißig weitermusiziert, doch die Lücken im Orchester wurden immer größer. Nach Kriegsende und Revolution 1918/19 stabilisierte es sich nur langsam wieder – weiterhin als Saisonorchester, das je ein halbes Jahr von der Stadt Koblenz getragen wurde, während die Musiker in den übrigen Monaten sehen mussten, wo sie bleiben. 1922 beschloss die Reichsregierung eine Änderung des Versorgungsgesetzes für Angestellte. Daraus konnten die Musiker endlich einen Rechtsanspruch auf Festanstellung mit Pensionsberechtigung ableiten. Die Stadt sträubte sich, diesem Anspruch gerecht zu werden. Folge war ein Jahre anhaltender heftiger Dauerzwist zwischen Musikern und Kommune. Dieser verschärfte sich wiederholt derart, dass die Stadt Gehaltszahlungen einstellte und für die Gegenseite schließlich der Deutsche Musiker-Verband 1925 eine „Generalsperre“ über Koblenz verhängte (seinen Mitgliedern also deutschlandweit untersagte, in Koblenz zu gastieren).   

1928 kam die „Sparidee“ auf, die Orchester und Theater von Koblenz und Trier zu vereinen. 1929 machte der Vorschlag die Runde, ein Mittelrheinisches Orchester als GmbH ins Leben zu rufen, das Bonn, Koblenz und Trier bespielen sollte. Unter diese Überlegungen zog der Koblenzer Stadtrat am 26. Februar 1930 einen radikalen Strich: Das städtische Orchester wurde einfach aufgelöst. Nun aber erhob sich der kulturelle Selbstbehauptungswille von Künstlern und Bürgern: Es wurde eine „Notgemeinschaft ehemaliger Theater- und Orchestermitglieder der Stadt Koblenz“ aus der Taufe gehoben und das Orchester zum selbstverwaltet auf eigene Rechnung schaffenden „Philharmonischen Orchester“ rückverwandelt. Damit war man wieder beim Zustand der Jahre 1901 bis 1913.  

Formal änderten die Nazis ab 1933 an diesem Status nichts, zwangen gleichwohl die „Orchestergemeinschaft Koblenzer Berufsmusiker“ in die NS-Kulturstrukturen hinein. Was auf keinen großen Widerstand stieß, zumal ab 1937/38 das Stadtamt für Musik ein Monopol als  Konzertveranstalter am Ort innehatte – und noch während des Krieges „zur Stärkung der Volksgemeinschaft“ die Zahl der Konzerte gehörig steigerte. Am 25. August 1944 war allerdings Schluss: Zugunsten des „totalen Kriegseinsatzes“ wurden sämtliche Konzert- und Theateraktivitäten untersagt. Im März 1945 marschierten US-Truppen ins weitgehend zerstörte Koblenz ein. Schon sechs Monate später kam ein völlig neues Orchester zur ersten Probe zusammen, es würde sich bald „Rheinische Philharmonie“ nennen.

Im September 1945 lockt eine Zeitungsannonce Musiker aus ganz Deutschland an den Mittelrhein. Das eben von einem Verleger gegründete Radio Koblenz will sich ein eigenes Orchester zulegen. Per Anhalter, als Schwarzfahrer auf Eisenbahnwaggons, mit dem Fahrrad und zu Fuß strömen die Kandidaten zum Vorspiel am 15.9.1945 ins Kurhaus Bad Ems. Dieses Datum gilt als Gründungsdatum der Rheinischen Philharmonie. Im Oktober geht Radio Koblenz auf Sendung und nimmt das neue Orchester unter dem Dirigat von Walter May die Arbeit auf. Doch der Zauber des Anfangs verfliegt rasch: Nach allerhand Querelen entzieht die französische Besatzung dem privaten Radiomacher die Lizenz. Im März 1946 übernimmt der Südwestfunk (heute SWR) das Koblenzer Studio. Da der Sender sein eigenes Orchester hatte, verlor die Rheinische Philharmonie ihren Arbeitgeber. Doch das war nicht das Ende, sondern – wieder einmal – ein Anfang. Denn die Musiker blieben und hielten zusammen, als freiwillige Vereinigung, die sich selbst verwaltete. Der gewählte Orchestervorstand war fortan auch für Finanzen, Marketing und Organisation zuständig. Im Frühjahr 1946 gab die Rheinische Philharmonie im notdürftig hergerichteten „Filmpalast“ vor 700 Zuhörern dann ihr erstes Konzert als selbstverwaltetes Orchester.

In den Folgejahren absolviert diese kollegiale Musikervereinigung im Konzert- und Bühnenbetrieb von Stadt und Umgebung ein gewaltiges Pensum unter teils widrigsten Bedingungen. Ab 1955 fließt dann ein kontinuierlicher Finanzzuschuss vom Land. Die als Verein organisierte Rheinische Philharmonie bezahlt ihre Mitglieder von da an nach Tarif. Während der wirtschaftlichen Rezession um 1967 verzichten die Musiker für eine Weile auf Teile ihres Gehalts, um den Fortbestand des Kollektivs zu sichern. 1969 erhöht das Land die Zuschüsse. Und schließlich kommt aus Mainz die in Koblenz umjubelte Nachricht: Die Rheinische Philharmonie wird verstaatlicht, wird zum 1. Juli 1973 Landesorchester und heißt von da an Staatsorchester Rheinische Philharmonie. Zwölf Jahre sollte es allerdings noch dauern, bis das Orchester auch ein eigenes festes Domizil bekam. Der Einzug ins Görreshaus am 15. August 1985 war zugleich glänzender Schlusspunkt des fast vier Jahrzehnte währenden Engagements von Bassposaunist Erhard May: Der 2012 verstorbene May war 1947 zum Orchester gestoßen, ab 1962 dessen Geschäftsführer und von 1975 bis zur Pensionierung 1985 dessen Intendant. Er war der zentrale Vordenker, Kämpfer, Strippenzieher, Verhandlungsführer auf Seiten des Orchesters – beim langen Nachkriegsmarsch von der Notgemeinschaft zum Staatsorchester der Gegenwart.


Teil 2: 1973 bis 2019

ape. In der vorigen Ausgabe des Magazins „con moto“ hatte ich über Marksteine der früheren und frühesten Koblenzer Orchestergeschichte geschrieben – beginnend anno 1654, bis zur Gründung der Rheinischen Philharmonie 1945, endend bei der Umwandlung in ein rheinland-pfälzisches Staatsorchester 1973. Seither wurde der Autor mehrfach gebeten, zumal von jüngeren und nicht schon seit Jahrzehnten in Koblenz lebenden Musikfreunden, diese Erzählung doch bis in die Gegenwart fortzusetzen. Dieser Bitte sei hiermit gerne entsprochen.

„Das Land Rheinland-Pfalz übernimmt das Sinfonieorchester des Vereins Rheinische Philharmonie e.V. mit Wirkung zum 1. Juli 1973 (…) Mit der Übernahme des Orchesters in seine Trägerschaft will das Land zu einer Intensivierung des Musiklebens im Lande beitragen.“ So steht es im Paragraph 1.1 des Übernahmevertrags. Das Koblenzer Staatsorchester ist geboren, mit rund 70 Musikern, einem Dirigenten, einem Geschäftsführer und einigen Angestellten, es trägt seither den Namen „Staatsorchester Rheinische Philharmonie“.

Dessen erster musikalischer Leiter wird Wolfgang Balzer. Bereits in der Spielzeit 1972/1973 haben die Musiker den jungen Dirigenten gewählt, der zuvor 1. Kapellmeister der Frankfurter Oper war. Balzer leitet auch das Festkonzert anlässlich der Ernennung zum Staatsorchester am 5. September 1973. Zu Beginn der Spielzeit 1975/1976 wird Pierre Stoll Generalmusikdirektor; er war zuvor 1. Kapellmeister der Straßburger Oper. Ihm folgt 1981/1982 James Lockhart als GMD nach Koblenz. Der hier bald sehr beliebte Schotte mit dem feurigen Naturell war zuvor gefragter Gastdirigent an vielen Häusern und Professor am Royal College in London. Als Lockhart 1991 aufhört, ernennt ihn der damalige Ministerpräsident Rudolf Scharping zum Ehrendirigenten des Orchesters.

Es sind Jahrzehnte voller Schaffensdrang. Für den Südwestfunk spielen die Koblenzer ab Mitte der 1970er-Jahre zahlreiche Aufnahmen ein. Zugleich entstehen in rascher Folge Schallplattenproduktionen. Neben dem opulenten heimischen Pensum als Konzert- und Theaterorchester stehen Tourneen nach Süddeutschland, Frankreich oder in die Schweiz auf dem Programm. Es kommt auch eine Zeit des Abschieds: Erhard May, der umtriebige Vorkämpfer des Orchesters und schließlich dessen Intendant, geht 1984 in Pension. Doch bevor er sein Amt an Veit S. Berger übergibt, verschafft er der Rheinischen noch ein neues, dauerhaftes Zuhause. Denn ein Problem bleibt mit der Verstaatlichung 1973 weiterhin ungelöst: Die Philharmonie hat kein eigenes Domizil. Das Görreshaus, in dem die Musiker in der Nachkriegszeit unter anderem geprobt hatten, war aus baulichen Gründen von der Polizei versiegelt worden. Das kunsthistorisch wertvolle altdeutsch-neugotische Gebäude drohte zu verfallen.

Und das Orchester? Wechselt für jede Probe die Säle. Mit Handkarren transportieren die Orchesterwarte die Instrumente quer durch die Stadt. Zwölf Jahre dauert dieser Zustand an. Jahre, in denen May so manche Mittagspause um das alte Haus herumschleicht und überlegt, wie es wohl zu retten sei. Ein Zustand, der länger nicht akzeptiert werden kann – zumal zeitgleich das Land für die Staatsphilharmonie Ludwigshafen den Neubau eines eigenen Hauses beschlossen hat. „Ich nutzte dann meine politischen Kontakte, insbesondere zum Koblenzer Oberbürgermeister Willi Hörter, sodass das Haus dann doch mit viel Aufwand instand gesetzt und restauriert wurde“, heißt es in Mays Erinnerungen. Das klingt einfacher, als es war. Nach zähem Ringen übereignet die Stadt Koblenz die Liegenschaft kostenlos dem Land – unter der Bedingung, das historische Gebäude zu sanieren, zu restaurieren und für eine Nutzung durch das Orchester herzurichten. Es werden Probezimmer und Büroräume eingebaut. Der Saal wird stilvoll rekonstruiert. Kronleuchter, Holzvertäfelungen und Wandmalereien aus dem 19. Jahrhundert, durch Säulen gegliederte Kopfemporen und eine Seitenloge geben ihm ein ganz eigenes Gepräge. Gebäude und Saal in der Eltzerhofstraße stammen aus dem Jahr 1865 und gehen wie so manches am Rhein-Mosel-Eck auf eine Bürgerinitiative zurück. Das Görreshaus ist eine Gründung des Katholischen Lesevereins Koblenz – und wäre wahrscheinlich nie gebaut worden, hätten sich die Mitglieder zwecks Finanzierung ihres Vereinshauses damals nicht zu einer Spargemeinschaft zusammengetan. Lange Zeit eine gute Adresse für das städtische Geistesleben, schrieb das Görreshaus nach dem Zweiten Weltkrieg auch Landesgeschichte: Von Sommer 1947 bis Mai 1951 war es Sitz des ersten rheinland-pfälzischen Landtages.

Am 16. August 1985 ist es soweit: Zu ihrem 40. Geburtstag zieht die Rheinische mit einem Gala-Konzert und der 2. Sinfonie von Gustav Mahler ins Görreshaus als fester Heimstatt ein. Das Haus hat einen der bemerkenswertesten historischen Säle in Koblenz.  Beim Probesaal allein konnte und sollte es nicht bleiben. Schon 1986 rief der damalige Intendant Richard Stracke – allfällig mit dampfender Pfeife und gesegnetem Humor anzutreffen – eine Kammerkonzert-Reihe im Görreshaus ins Leben. In Lockharts Nachfolge übernimmt 1991 Christian Kluttig die Position des GMD – als Dirigent des Händel-Festspielorchesters in Halle ist er da in Kennerkreisen bereits ein Begriff. Unter seiner Leitung und der Intendanz (1986 – 1997) von Stracke wurden die „Orchesterkonzerte im Görreshaus“ eingeführt. Auch sie existieren bis auf den heutigen Tag, bieten an vier Sonntagnachmittagen pro Saison erlesene bis konzeptionell ungewöhnliche Konzertprogramme mit großem Orchester und namhaften Solisten. Zu den beiden Reihen der Kammermusik- und Orchesterkonzerte gesellt sich ein breites Spektrum von Kinder- und Jugendkonzerten, kommen über die Jahre zahlreiche Sonderprogramme und diverse Gastveranstaltungen hinzu. So hat sich das historische Görreshaus seit dem Einzug des Orchesters 1985 zu einem lebendigen Zentrum klassischer Musik mitten in der Koblenzer Altstadt entwickelt.

Anfang der 1990er schreibt die Rheinische wieder lokale Musikgeschichte: Anlässlich der 2000-Jahr-Feier der Stadt Koblenz 1992 macht Kluttig die Festung Ehrenbreitstein zur Freilicht-Musikbühne. Beethovens „Fidelio“, gespielt in den historischen Gemäuern der preußischen Befestigungsanlage, wird zum sommerlichen Jubiläumsereignis. Gleiches gilt für die Aufführung von Mahlers „Sinfonie der Tausend“ in der Sporthalle Oberwerth, bei der nicht nur die Mitglieder der Rheinischen Philharmonie mitwirken, sondern auch ein Großteil des Orchesters der Bonner Beethovenhalle. Mahlers Sinfonie erreicht 9000 Zuhörer – auch Haupt- und Generalprobe sind öffentlich.

Von nun an zieht es die Rheinische zudem weiter hinaus in die Welt. 1998 wird Shao-Chia Lü als Nachfolger von Christian Kluttig neuer GMD. Der stets zurückhaltende, ernsthaft-freundliche  Taiwanese hatte sich spätestens mit seinem triumphalen Debüt als Konzertdirigent bei den Münchner Philharmonikern einen Namen gemacht. Unter seiner Leitung – und der Intendanz von Rainer Neumann – geht es erstmals nach Asien. Das Orchester unternimmt eine China-Tournee nach Shanghai, Peking, Fuzhou. Und 2002 gastiert mit den Koblenzer Musikern erstmals ein Sinfonieorchester im zentralafrikanischen Ruanda. Die Afrika-Tour anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda umfasst sieben Konzerte.

2003 taucht plötzlich ein mit der Verstaatlichung 1973 überwunden geglaubtes Gefühl wieder auf: Sorge um den Fortbestand der Rheinischen Philharmonie als vollwertiges Sinfonieorchester. Denn das Land will sparen, und das Kulturministerium in Mainz plant deshalb eine Orchesterstrukturreform. In Rede steht für die drei landeseigenen Orchester in Ludwigshafen, Mainz und Koblenz eine erhebliche Reduzierung der Musikerstellen sowie ihre kooperative Vernetzung unter einer gemeinsamen Generalintendanz. Weil Musiker und Musikfreunde vor allem in Mainz und Koblenz einen die Spielqualität und Repertoirefähigkeit beträchtlich einschränkenden Aderlass befürchten, kommt es beiderorts zu mannigfachen Protesten.

Die ziehen sich über Monate hin. Dabei wird deutlich, wie stark die Rheinische Philharmonie im öffentlichen Leben der heimischen Region verankert ist: Zahllose Bürger beteiligen sich an  Protestaktionen in Koblenz und Umgebung, gut 60 000 Unterschriften kommen für den Erhalt des Orchesters in seiner gewohnten Stärke zusammen. Der Protest erwirkt einen Kompromiss – Koblenz und das nördliche Rheinland-Pfalz erfreuen sich weiterhin an ihrem vollwertigen, bald auch wieder mit eigener Intendanz ausgestatteten Staatsorchester Rheinische Philharmonie. Als im März 2004 rund 3000 Besucher zum Jubiläumskonzert „350 Jahre Orchester Koblenz“ in die Sporthalle Oberwerth strömen, wirkt der Schulterschluss zwischen Orchester und Öffentlichkeit nach. Der Abend ist nicht nur musikalisch ein denkwürdiges Ereignis. Shao Chia Lü leitet einen Musizierapparat, den man hierorts in solcher Größe noch nie erlebte: das Koblenzer Staatsorchester, die Philharmonie Heidelberg, zehn Chöre, sechs Solisten – insgesamt 600 Mitwirkende sind für Arnold Schönbergs „Gurrelieder“ aufgeboten.

2005 übernimmt Daniel Raiskin von Lü die Stabführung bei der Rheinischen. Rund elf Jahre prägt er Orchester und dessen Programmatik mit beträchtlichem Erfolg – obwohl er und der 2010 als Nachfolger von Neumann ins Intendantenamt berufene Frank Lefers auch manche Widrigkeit zu bestehen haben. Anfangs hat Raiskin es noch mit unangenehmen Wirkungen der Orchesterreform zu tun. Dann trifft ihn, die Rheinische Philharmonie und das Musik-Institut Koblenz das Problem „Generalsanierung der Rhein-Mosel-Halle“ in den beiden Spielzeiten 2010/11 und 2011/12 mit voller Wucht. Wegen der Bauarbeiten müssen die großen Anrechtskonzerte des Musik-Instituts in die Sporthalle Oberwerth ausweichen – die das Dreifache an Publikum fasst und klassikakustisch ein Albtraum ist.

Dank beträchtlichen Technikaufwands, reduzierter Anzahl von Konzerten, die aber mit Solisten von Weltrang wie Julian Rachlin, Mischa Maisky oder Eva Kupiec besetzt sind, sowie zahlreichen Unterstützern und des spielfreudigen Engagements der Rheinischen Philharmonie unter Raiskin kann die „Notsaison“ 2010/11 doch mit Bravour und viel öffentlichem Zuspruch über die Bühne gebracht werden. Dann die Hiobsbotschaft: Die Bauarbeiten an der Rhein-Mosel-Halle werden auch die gesamte Spielzeit 2011/12 andauern. Traurige Folge: Erstmals muss in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Jahrgang Anrechtskonzerte vollständig ausfallen. Es ist eine schwierige Zeit, die vor und hinter den Kulissen durchaus nicht spannungsfrei verläuft, aber schließlich doch glücklich überwunden wird.

2014 übernimmt Günter Müller-Rogalla das Intendantenamt bei der Rheinischen Philharmonie – und sieht sich unerwartet sogleich mit dem Umstand konfrontiert, dass Raiskin sein Engagement in Koblenz beenden will und also ein neuer Chefdirigent zu suchen ist. Der Übergang zu Garry Walker verläuft nicht ganz reibungslos, denn für die Spielzeit 2016/17 ist der alte Orchesterleiter schon weg, der neue aber noch nicht verfügbar. Müller-Rogalla muss die Saison im Alleingang managen, Orchester und Publikum erleben ein Jahr mit von Konzert zu Konzert wechselnden Dirigenten. Und siehe: Alle Beteiligten sprechen im Nachhinein zwar von einem anstrengenden, jedoch auch spannenden, lehrreichen, inspirierenden Jahr. Es erweist sich, dass Raiskin ein sehr stabiles und flexibles Orchester hinterlassen hat, das auch unter gänzlich verschiedenen Stabführungen auf hohem Niveau musiziert. An dieses Niveau kann Garry Walker bei seinem Dienstantritt als neuer Chefdirigent im Herbst 2017 anknüpfen – und es mit eigener Handschrift weiterentwickeln. Die musikalischen Ergebnisse dieser Arbeit haben bis dato schon viel Freude gemacht. Alles Weitere ist nun zu erlebende Gegenwart.

Andreas Pecht

(Aktuelle Ergänzung: Mit der Spielzeit 2022/23 übernahm Benjamin Shwartz das Amt des Chefdirigenten)

Andreas Pecht

Kulturjournalist i.R.

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