ape. Erinnerungen an die eigene frühe Kindheit (vor Schuleintritt) hat wohl jede und jeder. Oft sind sie vage und meist über die Jahrzehnte mehrfach verfärbt, verändert, variiert. Oft auch ist unklar, ob es tatsächlich eigene Erinnerungen sind oder eher Erinnerungen an von älteren Verwandten dutzendfach erzählte Familienanekdoten. Ob so oder so, mir kam heute beim Lesen einer kleinen Meldung in der Frühstückszeitung über einen in Trier kurzzeitig verloren gegangenen Vierjährigen dies Kindheitserlebnis wieder in den Sinn:
Klein-Andreas war ein Steppke von vier oder fünf Jahren, naseweis und selten brav. Eltern, Schwester und er waren, wie nachher noch häufig, mit einer befreundeten Familie und deren erst zwei, später vier Söhnen, auf Österreich-Urlaub. Eine Schlechtwetterphase trieb die ganze Bagage für zwei Tage vom Kärtner Hinterland in irgendeine (weiß ich nicht mehr) alpenländische Kleinstadt, die mir dazumal ziemlich groß vorkam. Stadtbummel. Die Mütter in Schaufensterbetrachtungen vertieft; die Väter auf der Suche nach Fotomotiven, Stockschildern und einem einladenden Wirtshaus fürs Mittagsmahl. Die Kinder gelaaaangweilt, deshalb auf diesen und jenen Abwegen – hier um die Ecke, da um die Kurve, dort in eine Einfahrt …
Und plötzlich waren alle weg. Kein bekanntes Gesicht mehr die belebte Hauptstraße rauf und runter. Wo hatte ich die Meinigen zuletzt gesehen? Dort an der Kreuzung. Also schnell dahin. Wahrscheinlich sind sie schon weiter zur nächsten Kreuzung – also im Kinderspurt dorthin. Sicherlich sind sie hier in diese Straße abgebogen – also hinterher. Doch weiter keine Spur von irgendwem, nur lauter fremde Leute ringsumher. Allmählich wurde die Sache unheimlich. Und erste Tränchen liefen dem nun verloren auf dem Gehsteig stehenden Knirps über die Wangen.
Wie es zuging, dass ich bald in der Gendarmerie-Station landete, darüber mag oder kann das Gedächtnis respektive die Familienerzähling keine Auskunft geben. Erinnerlich ist mir das „Kreuzverhör“ durch zwei freundliche Polizisten, die zu ergründen suchten, ob wir in einem Hotel logierten und wenn ja, in welchem. Was aber weiß ein Kindchen von sowas? „Vor dem Eingang steht ein Brunnen. Aus unserem Fenster raus sieht man einen hohen Berg, da geht eine Seilbahn rauf. Und neben dem Haus ist noch ein großes Holzhaus mit einer Wiese und vielen Kühen. Da läuft auch ein Hund rum.“ Eine Internberatung der beiden Uniformierten ergab auf dieser Basis eine Auswahl von vier denkbaren Hotels – und die sollten nun, gemeinsam mit mir, alle abgefahren werden.
Unversehens wurde dann das heulende Elend zum famosen Abenteuer. Denn das Polizeiauto, mit dem wir uns auf den Weg machten, war ein offener Jeep. Der Steppke durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, wurde wie ein General bei der Parade durch die Straßen des Städtchens kutschiert, und war darob stolz wie Oskar. Die Fahrt dauerte allerdings nicht lange. Schon nach ein paar Minuten konnte (oder musste) ich rufen: „Da sind sie!“. Auf dem Trottoir schlenderten – die Erwachsenen in bester Laune – meine ganze Urlaubsippe daher. Großes Staunen, als ich aus dem neben ihnen anhaltenden Polizeijeep stieg. Was mir als gewaltige Operation erschienen war, hatte wohl kaum länger als eine halbe Stunde gedauert – und niemandem war meine Abwesenheit aufgefallen. Man war davon ausgegangen, dass ich mal wieder missmutig mit etwas Abstand hinterdrein trotten würde. Demonstrativ schlechte Laune haben bei mir unliebsamen Unternehmungen, das konnte ich in jungen Jahren ziemlich gut.
So entstand schlussendlich auf Basis einiger knapper Polizistensätze und der kindlichen Erlebnisnacherzählung eine Anekdote, die später und bis heute bei manchem Familienfest für Schmunzeln sorgen sollte.
Andreas Pecht